Symphonie aus Licht

Allerheiligen C: Offb 7, 2-4. 9-14

I.
Immer, wenn Allerheiligen nahe kommt, muss ich an die Geschichte von dem Jungen denken, der mit seiner Mutter den Dom der Stadt betrat und zum ersten Mal die alten gotischen Glasfenster sah. Draußen schien die Sonne, die bunten Glasteppiche strahlten. Die Mutter erklärte ihm, was es zu sehen gab: Gestalten aus der Bibel, Heilige, Bischöfe. Einige Zeit später kamen sie im Unterricht auf die Heiligen zu sprechen. Ob denn jemand wisse, was Heilige seien, fragte der Lehrer. – Ja, ich, meldete sich jener Junge: Heilige sind Menschen, durch die die Sonne scheint.

II.
Heuer fiel mir die Geschichte schon lange vor Allerheiligen ein. Sie können sich denken, warum. Und es passiert ja auch nicht aller Tage, dass über ein Kirchenfenster öffentlicher Streit entbrennt. Der Kölner Erzbischof, nicht unerfahren im Debatten lostreten, hatte das geschafft. Ich denke, viele von Ihnen haben die Sache mitverfolgt: Schon lange hatte man geplant, das große südliche Querhausfenster des Kölner Domes, das im Krieg zerstört worden war, wieder als Kunstwerk zu gestalten. Mehrfach hatte es Entwürfe gegeben, es sollten figürliche Szenen sein, am besten Märtyrer des 20. Jahrhunderts, wie zu hören war. Aber keine von den Skizzen konnte überzeugen. Da kam die Dombaumeisterin auf die Idee, den derzeit berühmtesten deutschen Maler zu fragen, ob er sich denn dieser Aufgabe annehmen möchte. Dieser, Gerhard Richter, nicht nur kein Katholik, sondern erklärter Atheist, aber hoch sensibel für Religiöses, sagte rasch zu, machte dem Bistum den Entwurf gar zum Geschenk. Im Rückgriff auf das Motiv eines älteren Werkes schuf er für die über 100 Quadratmeter Fensterfläche ein nach dem Zufallsprinzip gestaltetes Farbmosaik aus 11263 Glasquadraten in 72 Farbtönen, die auch in den anderen, alten Domfenstern schon vorkommen. Von einer Symphonie des Lichts sprach der Prediger bei der Einweihung. Als bei der Segnung Weihrauch aufstieg, zog das Fenster tausende feiner bunter Lichtfäden quer durch den Dom, so dass sie schräg zur Altarinsel hinab wiesen. Eine anwesende Reporterin hörte in diesem Augenblick hinter sich einen jungen Mann, der nicht unbedingt nach Kirchgänger aussah, halblaut zu seiner Freundin flüstern: das ist zum Niederknien. Der Erzbischof freilich war der Feier ferngeblieben. Und später setzte er nach, das Fenster passe eher in eine Moschee oder ein anderes Gebetshaus als in den Dom.

III.
Er wollte es halt lieber handfest, eindeutig, Zeichen und Bezeichnetes nach Katechismusart, demonstratio catholica eben. Aber könnte nicht sein, dass unsere Zeit heute eine andere Sprache spricht und darum andere Bilder braucht, vielleicht eine demonstratio gar nicht nötig hat? Das zerstörte Vorgängerfenster, gestiftet von Kaiser Wilhelm I., hatte die Figuren dreier heiliger Herrscher und dreier heiliger Bischöfe gezeigt. Symbolische Repräsentanten eines Glaubens, verdichtet in scharf umrissenen, mit Waffen und Insignien bewehrten Autoritätsgestalten.
Das neue Fenster dagegen, das im ersten Moment in beinahe verwirrender Vielfalt flirrt, dem Auge keinen Halt bietet, könnte man es nicht als ein wunderbares Gleichnis für die erste Lesung von vorhin nehmen: für die hundertvierundvierzigtausend Geretteten, aus allen Nationen und Stämmen, Völkern und Sprachen, die niemand zählen kann – so wenig wie 11263 Farbquadrate des Richter-Fensters? Niemand kann sie ordnen und einteilen. Äußerlich gesehen hat sie der Zufall zusammengefügt. Von wunderbaren Gesamteindruck her aber folgen sie trotzdem einem geheimnisvollen Rhythmus und werden zum Hymnus aus Licht und Farbe, weil sie durch ihr pures Dasein ein Inbild des Herrlichen formen.

IV.
Wenn jemand mit geistlichen Augen auf das Fenster schaut, könnte sie oder er sich denken: Ich habe auch mit dem, was aus mir geworden ist, worum ich gekämpft und wonach ich gestrebt habe, meinem Leben seine besondere Färbung gegeben. Jede und jeder anders, selbst dort noch, wo sie aufs Erste gesehen mehr oder weniger gleich aussehen. Und wenn wir als Glaubende das zusammentragen und –fügen, was jede und jeder von uns für sich ist, dann wird es zusammenklingen und wird es Zeugnis geben, dass es in der Welt aller Finsternis zum Trotz auch Lichtes gibt und manche Stunde strahlenden Glanzes. Wäre das nicht auch ein mögliches Bild von Kirche, durchaus das einer ecclesia triumphans, eines strahlenden neuen Jerusalem, aber eben das Bild von einer egalitärer, menschlich gewendet: geschwisterlichen Gottesstadt, in der das Nebeneinander und Miteinander wichtig ist und nicht das Repräsentieren und Dominieren?

V.
Und in noch einer Hinsicht kommt mir vor, das neue Fenster in Köln möchte so etwas wie ein Allerheiligen-Bild sein: Denn genau genommen kann man von den Heiligen nicht viel sagen, weil es die Heilige oder den Heiligen gar nicht gibt. Genauso wenig wie von den einzelnen Glasquadraten. Jedes ist eben, was und wie es ist. Und so bei den Heiligen: Heilig kann man nämlich nur in erster Person sein. Anders gesagt: Wenn einer heilig ist, dann immer auf die einmalige Weise, die allein ihm zukommt und sonst niemand in der Welt. Oder noch einmal anders gesagt: Die Heiligen sind eine bunte Truppe. Keiner gleicht dem andern, jeder ist heilig auf seine Weise, oft verbunden auch mit Schattenseiten. An diesen dunklen Seiten leiden die Heiligen selbst immer am allermeisten, man braucht nur in den jetzt publizierten Tagebüchern der Mutter Theresa zu blättern. Aber oft ist diese Dunkle auch so eine Art Hintergrund, auf dem das andere, das Leuchtende erst so richtig sichtbar wird.

VI.
Eines fällt dabei besonders auf: Ganz viele Heilige haben eine Vergangenheit. Ich meine das genau in dem Sinn, in dem man bis heute von einem Menschen sagt, er habe eine Vergangenheit, wenn man zum Ausdruck bringen will, dass es im früheren Leben dieses Menschen Dinge gab, die – vorsichtig gesagt – nicht in Ordnung waren. Ein paar willkürliche Beispiele: Ignatius von Loyola, ein Spanier adeliger Herkunft: Als Junger war er von brennendem Ehrgeiz besessen, hatte nichts anderes als militärische Abenteuer im Kopf, um angeben zu können und mit seinen Husarenstücken irgendein gräfliches Fräulein aufs Kreuz zu legen. Bis ihm bei einem solchen Kommando ein Bein zerschossen wurde. Auf dem monatelangen Krankenlager entdeckte er, dass er zu etwas ganz anderem bestimmt war: Nämlich anderen zu helfen, sich vor Gott selber zu finden. So wurde er zu einem der wichtigsten geistlichen Lehrer der Welt und zum Gründer des Jesuitenordens.
Oder nehmen wir Charles de Foucauld; er lebte im vorletzten Jahrhundert: Nicht ganz unähnlich dem Ignatius von Loyola ein Haudegen, Säufer, Spieler und Schürzenjäger sondergleichen. Bis er eines Tages – obwohl Ungläubiger – einfach so eine Kirche betritt, dort, weil gerade der Pfarrer da war, zur Beichte geht, sein ganzes Leben ausbreitet, und kurz darauf zum Beter und Einsiedler wird, um Gott allein zu suchen, weil er ihn als den wirklichen Schatz des Lebens erkannt hat.
Man kann die Sache auch von Extrem her angehen und fragen: Wenn denn Heilige nicht sozusagen von Geburt an heilig sein müssen, sondern geradewegs durch das Gegenteil hindurch erst zu Heiligen werden können – gibt’s dann auch heilige Mörder? Ja, die gibt es. Einen kennen Sie sehr gut beim Namen: Davor hieß er Saulus, danach Paulus. Saulus stand dabei, als ein paar Fanatiker den Stephanus mit Steinen totwarfen. Er passte dabei nicht nur auf die Kleider der Gewalttäter auf. Er war der Hauptverantwortliche für den Mord, weil ihn damals nur noch das eine Ziel umtrieb, dieses Christenpack, diese von alten Glauben Abgefallenen aus der Welt zu schaffen. Aber nicht viel später, als er Richtung Damaskus unterwegs war, da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, dass er das bekämpft und zu vernichten gesucht hatte, was er selbst am allermeisten suchte: Einen Gott, vor dem man als Mensch mit seinen Fehlern und Grenzen bestehen kann, weil diese Gott nicht zuerst fordert, sondern vor allem anderen barmherzig ist.
Vielleicht sagen Sie jetzt: Gut, das war halt ein Sonderfall, dass der Mörder Saulus zum Heiligen Paulus wird. Es war kein Sonderfall. Man schrieb das Jahr 1954, es war in Paris. Ein junger Mann aus bestem Hause, Playboy und Dandy, war wieder einmal in Geldnot, weil er zu Hause nichts mehr bekam. Da überfiel er einen Juwelier, raubte ihn aus – und erschoss auf der Flucht, mehr dilettantisch als gezielt, einen Polizisten. Jacques Fesch, so hieß der Mann, wurde zum Tod durch Hinrichtung verurteilt. Schon in der Zeit des Wartens auf die Vollstreckung fand er Gott, wurde er zum Büßer für seine Untat, der sich in der Gnade Gottes glaubte, Briefe und Notizen belegen es. Ein Gnadengesuch wurde abgelehnt. Er akzeptierte sein Los. „In fünf Stunden werde ich Jesus sehen“, waren die letzten Worte, die er niederschrieb. Kardinal Lustiger setzte sich für seine Seligsprechung ein. Die Akte ist offen.
Als das bekannt wurde, gab es Protest. Man kann doch einen Mörder nicht als Vorbild hinstellen!, entrüsteten sich manche. Damit haben sie natürlich völlig recht. Aber in einem irrten sie: Heilige sind keine Vorbilder – auch wenn das noch immer behauptet wird. Sie sind keine Vorbilder, weder mit ihrer dunklen Vorgeschichte noch mit ihrer Heiligkeit. Denn heilig werden kann eine oder einer ausschließlich und nur auf ihre oder seine urpersönliche, einmalige Weise. Dass einer, der das Leben eines anderen auf dem Gewissen hat, trotzdem durch das Feuer einer durch und durch gehenden Bekehrung hindurch ein Heiliger werden kann, sagt trotzdem etwas, was uns zutiefst angeht. Es sagt etwas über Gott. Gott ist so, dass er selbst den nicht abschreibt, der in den Augen der Menschen nach Recht und Gesetz Strafe auf sich zieht. Keiner wird vor Gott in sein Verbrechen eingesperrt. Es gibt bei Gott ein Darüber hinaus, wann immer der Betroffene es wahrhaftig sucht. Darum kann auch im Leben dessen etwas von Gott sichtbar werden, der etwas getan hat, was sich nicht mehr gutmachen lässt. Auch das gehört zu Allerheiligen. Anders und mit einem berühmten Satz von Oscar Wilde gesagt: Viele Heilige haben eine Vergangenheit, und jeder Sünder hat eine Zukunft. Wenn wir von uns selber auch nur das Eine eingeständen und auf das Andere zu hoffen wagten, würde unser Leben zu einem kleinen Akkord in jener großen Symphonie aus Licht, die das Kölner Fenster uns so sinnlich vor Augen malt.