Osterstadt
6. Ostersonntag C: Offb 21,10-14. 22-23
I.
Sieben mal sieben Tage lang feiern wir, was in der Osternacht geschehen ist. Die lange Zeit brauchen wir nicht zuletzt dafür, den vielfältigen, oft auch disparaten Ostergeschichten der Bibel nachzusinnen. Und auch deren Vielstimmigkeit ist kein Wunder. Denn wenn da geschah, was in den Urformeln des christlichen Credo bekannt wird und was wir bis heute nachsprechen, dann muss sich dafür erst einmal die rechte Sprache einstellen. Gott hat seinen Jesus auferweckt, erhöht, verklärt, dem Tode entrissen, sagten die ersten Christen dafür. Alles Worte, die sie aus den Hoffnungsbildern ihres jüdischen Glaubens kannten, die dem, was sie ausdrücken wollten, schon irgendwie nahe kamen – und es doch noch nicht wirklich trafen. Denn die alten Wörter sollen ja von etwas ganz Neuem, noch nicht Gewesenem künden.
Am besten können so etwas meist die Dichter, diese alten Träumer und Utopisten, die das Vertraute sprengen und sich ausmalen, was wäre wenn... – Was wäre, wenn Ostern wahr, wenn der Karfreitag nichts anderes als ein Gottesbeweis wäre? Ein Gottesbeweis, weil der Tod das Innerste Gottes, die Liebe, für die Jesus steht, wirklich nicht überwältigen kann? Denn hätte er sie überwältigt, die Liebe, die zu allem sagt: „Ich will, dass du bist“, dann herrschte nur noch das Nichts, dann gäbe es uns einfach nicht mehr. Aber weil die Welt besteht nach dem Karfreitag, weil es uns gibt, deshalb wissen wir in der Logik des Glaubens, dass Ostern wahr und dass Gott Gott ist.
II.
Wer diesen Gedanken wagte, für den finge auch das Bild der Welt an, sich zu verändern. Gerade so, wie es der Dichter Rudolf Otto Wiemer einmal in einen „Entwurf für ein Osterlied“ gefasst hat:
Die Erde ist schön, und es lebt sich leicht im Tal der Hoffnung.
Gebete werden erhört. Gott wohnt nah hinterm Zaun.
Die Zeitung weiß keine Zeile vom Turmbau.
Das Messer findet den Mörder nicht. Er lacht mit Abel.
Das Gras ist unverwelklicher grün als der Lorbeer.
Im Rohr der Rakete nisten die Tauben.
Nicht irr surrt die Fliege an tödlicher Scheibe.
Alle Wege sind offen. Im Atlas fehlen die Grenzen.
Das Wort ist verstehbar.
Wer ja sagt, meint Ja, und Ich liebe bedeutet: jetzt und für ewig.
Der Zorn brennt langsam. Die Hand des Armen ist nie ohne Brot.
Geschosse werden im Fluge gestoppt.
Der Engel steht abends am Tor.
Er hat gebräuchliche Namen und sagt, wenn ich sterbe:
Steh auf.
III.
Es ist kein Zufall, dass uns ein ganz ähnliches Repertoire von Bildern und eine solche visionäre Poesie auch ganz am Ende des Neuen Testaments begegnet: In der Apokalypse, dem Buch der Geheimen Offenbarung. Aus ihm sind alle zweiten Lesungen der Ostersonntage in diesem Lesejahr genommen. Dieses Buch, geschrieben in ärgster Bedrängnis der jungen Gemeinde, setzt buchstäblich gegen den übermächtigen Anschein des Untergangs alles auf eine Karte: Es zieht gleichsam die Osterperspektive aus bis in die Gegenwart und über sie hinaus bis ans Ende der Geschichte in der Überzeugung, dass der Gott, der sich an seinem Jesus genau als der erwiesen hat, der er seit je in der Geschichte war, nämlich als der Treue, der über jeden Abgrund trägt, – dass der auch jetzt seine Glaubwürdigkeit erweisen wird als der, der er ist, der er war und der er sein wird. Darum hält die Apokalypse dem Szenario der Verfolgung, der Angst und Gewalt zwar mit zitterndem Herzen, aber doch unbeirrbar die Visionen einer Osterwelt entgegen. Deren Fundamente sind in der Osternacht gelegt, der Tod und was aus ihm folgt, ist besiegt, die Dinge sind entschieden, entschieden zum Guten. Das Gute wird siegen – und mag die Hölle dagegen toben.
IV.
In die Szenenfolge seiner Hoffnungsbilder hat der Autor der Apokalypse auch die Skizze von so etwas wie einer Osterstadt aufgenommen, das Inbild des himmlischen Jerusalem, von dem die heutige zweite Lesung spricht. Die Stadt, Inbild und Sinnbild menschlicher Gemeinschaft, von Schutz und Hort, Austausch und Heimat, sie wird, ist sie gleichsam in Ostern getaucht, zu einem einzigen Edelstein, strahlend und transparent, ohne Dunkel, aus dem Gefährliches drohte.
Die Mauer, die sie hat, ist groß und hoch, Schutz und Bergung, aber nach allen Seiten durchbrochen von Toren, viermal drei, also ihrer zwölf nach heiliger Zahl. Mauern also, die buchstäblich nur noch aus Toren bestehen. Die Stadt so offen, weder Festung noch Gefängnis, dass sie eine einzige Einladung zum Eintreten ist. Die Tore tragen die Namen der zwölf Stämme Israels, die sind seit je gleichsam Gottes menschengestaltiges Einladungsschreiben an die ganze Welt gewesen, doch in seiner Nähe zu wohnen. Und mit den Namen der zwölf Apostel, die ja nichts anderes sind als eine nochmalige Bestätigung der Zwölf-Stämme-Botschaft –, mit ihnen sind die Grundsteine der Stadtmauer beschrieben, auf dass bis zum Grunde mit dem Siegel der Fürsorge Gottes um seine Geschöpfe besiegelt sei, was er ihnen als Heimat und Ziel bereitet.
Und dann schaut der Seher etwas, das im ersten Moment irritiert und in einem zweiten Augenblick für die Späteren, die sein Osterstadtbild betrachten, wie etwa wir heute, beinahe zu einem Stachel im Fleisch werden kann. Denn der Seher sieht keinen Tempel in dieser Gottesstadt. In ihr gibt es kein Heiligtum mehr, lateinisch: kein Sanctuarium, also wörtlich übersetzt: keinen herausgeschnittenen Bereich, der dem Menschen entzogen wäre, um mit ihm an Gottes Gegenwart zu erinnern. Ein solches Allerheiligstes braucht die neue Stadt nicht mehr, weil Gott selbst ihr Tempel ist. Die Bürger der Osterstadt sind unmittelbar zu Gott, sind ganz in ihn eingegangen und er in sie. Gerade so, wie auch schon Paulus das buchstäblich ausdrückt, wenn er auf seine Bekehrung, die ja seine besondere Ostererfahrung war, zu sprechen kommt: Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir. Eben das geschieht mit allen, die sich ins Ostergeheimnis hinein ziehen lassen: Gott und das Lamm, wie der Seher sagt, also der Gott der Osternacht, der die ganze Schöpfung in Händen hält, ist allgegenwärtig in der Osterstadt. Denn nur in ihm kann es so eine Stadt mit Mauern nur aus Toren überhaupt geben, solches angstloses Offensein aller für alle, und ein Leuchten, das keine Lichter, nicht einmal Himmelslichter braucht, weil sie selber von innen leuchtet, licht gemacht durch den Gott in ihr, der sich in Licht hüllt wie in ein Gewand, wie es im 104. Psalm heißt.
V.
Das heißt freilich auch: Seit der Osternacht leben wir auf eine neue Welt zu, in der Gott so auf Du und Du mit uns steht, so nah hinterm Zaun wohnt, wie der Dichter vorhin sagte, dass es keinen Tempel, also auch keine Kirche, keine Sakramente und Ämter sowieso nicht mehr brauchen wird. Das alles wird nicht wertlos deshalb. Denn jetzt, da wir noch unterwegs sind, fern vom Herrn, wie Augustinus einmal sagt, da sind uns die Kirche, die Ämter in ihr, die heiligen Zeichen geschenkt, dass jenes das Zielbild des neuen Jerusalem nicht verblasst und verloren geht, auf das hin wir – von Gott eingeladen – unterwegs sind. Aber wenn man der Vision von der biblischen Osterstadt folgt, wird man von der Kirche und allem, was zu ihr gehört, gelassener denken, mit manchem vielleicht auch geduldiger werden, weil es doch transitorisch ist, und vielleicht wird man auch die eine oder andere schrille Wortmeldung, die bisweilen aus amtlichen Stuben schallt, als das verstehen, was sie in Wahrheit ist: Ausgeburt von Enge oder Eitelkeit (oder beidem). Man muss dem widersprechen, wenn es passiert, aber trotzdem: Was wiegt es wirklich verglichen mit dem, was uns versprochen ist und wohin wir schon längst unterwegs sind?!
VI.
Nun könnte jemand natürlich unschwer einwenden, dass eine solche Gottunmittelbarkeit einer und eines jeden doch der Willkür Tür und Tor öffnet. Macht sich denn, wenn jede und jeder sich in Gott wissen darf und darum Gott auch zu allererst im Innersten ihrer und seiner selbst begegnet, nicht schnell seinen oder ihren Gott zurecht? Die Gefahr bestünde in der Tat, wenn dem nicht von der Mitte des Ostergeheimnisses vorgebeugt wäre: Denn an seiner tiefsten Wurzel stoßen wir auf – die Fußwaschung, also die Liebe. Da wird das Jenseitige auf eine Weise an Diesseitiges gebunden, dass es einem die Sprache verschlägt. Wie ich vor Gott einmal stehe, fällt damit zusammen, wie ich hier und jetzt zu der oder dem bin, denen ich – aus welchen Gründen auch immer – Nächster werde. Das Gericht ist christlich ein Standgericht, hat Kafka einmal geschrieben. Wir machen es uns selbst, wenn wir den Dienst der Fußwaschung, die Liebe verweigern, die die Substanz, das Innere von Ostern ausmacht. Ohne die Liebe fänden wir die Osterstadt nie und nimmer – und das wäre, bliebe es dabei, die Hölle für uns. Nur für die Liebe wohnt Gott nah hinterm Zaun.
VII.
Ein dem Namen nach unbekannt gebliebener Jesuit schrieb in einem Nachruf auf den Gründervater seines Ordens, den Hl. Ignatius von Loyola, dieser habe sich vom Größten nicht bezwingen und dennoch vom Kleinsten einnehmen lassen: Non coerceri a maximo, contineri tamen a minimo – das Größte erwarten und der kühnsten Hoffnung nachjagen, aber zugleich sich vom Banalsten beanspruchen lassen, in Augenhöhe bleiben mit dem gelebten Leben, mit seinen Trivialitäten oft auch, also empfindsam zu sein für Glück und Not des anderen, dafür Sorge zu tragen, dass die Hand des Armen nie ohne Brot ist, wie unser Dichter sagte – die Spannung zwischen beidem auszuhalten und das Größte mit dem Kleinsten behutsam zu versöhnen und umgekehrt: das ist so etwas wie die Kurzbeschreibung des Weges in die Osterstadt. Die Sehnsucht nach ihr tragen Viele, vielleicht sehr Viele mehr, als wir gewöhnlich denken, in der Seele. Vielleicht würden sie es nie so sagen in der Sprache der Bibel und der Kirche. Aber sie meinen dasselbe. Es ist ja kein Zufall, dass ein so radikal Moderner und auf sich selbst Geworfener wie Friedrich Hölderlin in seinem großen Hyperion-Roman gleich im Vorwort jenen Spruch über Ignatius von Loyola zitiert.
Keine schlechte Gesellschaft, würde ich sagen, in der wir da unterwegs sind mit dem Suchbild der Osterstadt in der Seele – eine Vision zwar, gewiss. Aber eine, die auch unsere Gegenwart jetzt schon deutet und richtet – und eine, die uns ermutigt.
Sieben mal sieben Tage lang feiern wir, was in der Osternacht geschehen ist. Die lange Zeit brauchen wir nicht zuletzt dafür, den vielfältigen, oft auch disparaten Ostergeschichten der Bibel nachzusinnen. Und auch deren Vielstimmigkeit ist kein Wunder. Denn wenn da geschah, was in den Urformeln des christlichen Credo bekannt wird und was wir bis heute nachsprechen, dann muss sich dafür erst einmal die rechte Sprache einstellen. Gott hat seinen Jesus auferweckt, erhöht, verklärt, dem Tode entrissen, sagten die ersten Christen dafür. Alles Worte, die sie aus den Hoffnungsbildern ihres jüdischen Glaubens kannten, die dem, was sie ausdrücken wollten, schon irgendwie nahe kamen – und es doch noch nicht wirklich trafen. Denn die alten Wörter sollen ja von etwas ganz Neuem, noch nicht Gewesenem künden.
Am besten können so etwas meist die Dichter, diese alten Träumer und Utopisten, die das Vertraute sprengen und sich ausmalen, was wäre wenn... – Was wäre, wenn Ostern wahr, wenn der Karfreitag nichts anderes als ein Gottesbeweis wäre? Ein Gottesbeweis, weil der Tod das Innerste Gottes, die Liebe, für die Jesus steht, wirklich nicht überwältigen kann? Denn hätte er sie überwältigt, die Liebe, die zu allem sagt: „Ich will, dass du bist“, dann herrschte nur noch das Nichts, dann gäbe es uns einfach nicht mehr. Aber weil die Welt besteht nach dem Karfreitag, weil es uns gibt, deshalb wissen wir in der Logik des Glaubens, dass Ostern wahr und dass Gott Gott ist.
II.
Wer diesen Gedanken wagte, für den finge auch das Bild der Welt an, sich zu verändern. Gerade so, wie es der Dichter Rudolf Otto Wiemer einmal in einen „Entwurf für ein Osterlied“ gefasst hat:
Die Erde ist schön, und es lebt sich leicht im Tal der Hoffnung.
Gebete werden erhört. Gott wohnt nah hinterm Zaun.
Die Zeitung weiß keine Zeile vom Turmbau.
Das Messer findet den Mörder nicht. Er lacht mit Abel.
Das Gras ist unverwelklicher grün als der Lorbeer.
Im Rohr der Rakete nisten die Tauben.
Nicht irr surrt die Fliege an tödlicher Scheibe.
Alle Wege sind offen. Im Atlas fehlen die Grenzen.
Das Wort ist verstehbar.
Wer ja sagt, meint Ja, und Ich liebe bedeutet: jetzt und für ewig.
Der Zorn brennt langsam. Die Hand des Armen ist nie ohne Brot.
Geschosse werden im Fluge gestoppt.
Der Engel steht abends am Tor.
Er hat gebräuchliche Namen und sagt, wenn ich sterbe:
Steh auf.
III.
Es ist kein Zufall, dass uns ein ganz ähnliches Repertoire von Bildern und eine solche visionäre Poesie auch ganz am Ende des Neuen Testaments begegnet: In der Apokalypse, dem Buch der Geheimen Offenbarung. Aus ihm sind alle zweiten Lesungen der Ostersonntage in diesem Lesejahr genommen. Dieses Buch, geschrieben in ärgster Bedrängnis der jungen Gemeinde, setzt buchstäblich gegen den übermächtigen Anschein des Untergangs alles auf eine Karte: Es zieht gleichsam die Osterperspektive aus bis in die Gegenwart und über sie hinaus bis ans Ende der Geschichte in der Überzeugung, dass der Gott, der sich an seinem Jesus genau als der erwiesen hat, der er seit je in der Geschichte war, nämlich als der Treue, der über jeden Abgrund trägt, – dass der auch jetzt seine Glaubwürdigkeit erweisen wird als der, der er ist, der er war und der er sein wird. Darum hält die Apokalypse dem Szenario der Verfolgung, der Angst und Gewalt zwar mit zitterndem Herzen, aber doch unbeirrbar die Visionen einer Osterwelt entgegen. Deren Fundamente sind in der Osternacht gelegt, der Tod und was aus ihm folgt, ist besiegt, die Dinge sind entschieden, entschieden zum Guten. Das Gute wird siegen – und mag die Hölle dagegen toben.
IV.
In die Szenenfolge seiner Hoffnungsbilder hat der Autor der Apokalypse auch die Skizze von so etwas wie einer Osterstadt aufgenommen, das Inbild des himmlischen Jerusalem, von dem die heutige zweite Lesung spricht. Die Stadt, Inbild und Sinnbild menschlicher Gemeinschaft, von Schutz und Hort, Austausch und Heimat, sie wird, ist sie gleichsam in Ostern getaucht, zu einem einzigen Edelstein, strahlend und transparent, ohne Dunkel, aus dem Gefährliches drohte.
Die Mauer, die sie hat, ist groß und hoch, Schutz und Bergung, aber nach allen Seiten durchbrochen von Toren, viermal drei, also ihrer zwölf nach heiliger Zahl. Mauern also, die buchstäblich nur noch aus Toren bestehen. Die Stadt so offen, weder Festung noch Gefängnis, dass sie eine einzige Einladung zum Eintreten ist. Die Tore tragen die Namen der zwölf Stämme Israels, die sind seit je gleichsam Gottes menschengestaltiges Einladungsschreiben an die ganze Welt gewesen, doch in seiner Nähe zu wohnen. Und mit den Namen der zwölf Apostel, die ja nichts anderes sind als eine nochmalige Bestätigung der Zwölf-Stämme-Botschaft –, mit ihnen sind die Grundsteine der Stadtmauer beschrieben, auf dass bis zum Grunde mit dem Siegel der Fürsorge Gottes um seine Geschöpfe besiegelt sei, was er ihnen als Heimat und Ziel bereitet.
Und dann schaut der Seher etwas, das im ersten Moment irritiert und in einem zweiten Augenblick für die Späteren, die sein Osterstadtbild betrachten, wie etwa wir heute, beinahe zu einem Stachel im Fleisch werden kann. Denn der Seher sieht keinen Tempel in dieser Gottesstadt. In ihr gibt es kein Heiligtum mehr, lateinisch: kein Sanctuarium, also wörtlich übersetzt: keinen herausgeschnittenen Bereich, der dem Menschen entzogen wäre, um mit ihm an Gottes Gegenwart zu erinnern. Ein solches Allerheiligstes braucht die neue Stadt nicht mehr, weil Gott selbst ihr Tempel ist. Die Bürger der Osterstadt sind unmittelbar zu Gott, sind ganz in ihn eingegangen und er in sie. Gerade so, wie auch schon Paulus das buchstäblich ausdrückt, wenn er auf seine Bekehrung, die ja seine besondere Ostererfahrung war, zu sprechen kommt: Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir. Eben das geschieht mit allen, die sich ins Ostergeheimnis hinein ziehen lassen: Gott und das Lamm, wie der Seher sagt, also der Gott der Osternacht, der die ganze Schöpfung in Händen hält, ist allgegenwärtig in der Osterstadt. Denn nur in ihm kann es so eine Stadt mit Mauern nur aus Toren überhaupt geben, solches angstloses Offensein aller für alle, und ein Leuchten, das keine Lichter, nicht einmal Himmelslichter braucht, weil sie selber von innen leuchtet, licht gemacht durch den Gott in ihr, der sich in Licht hüllt wie in ein Gewand, wie es im 104. Psalm heißt.
V.
Das heißt freilich auch: Seit der Osternacht leben wir auf eine neue Welt zu, in der Gott so auf Du und Du mit uns steht, so nah hinterm Zaun wohnt, wie der Dichter vorhin sagte, dass es keinen Tempel, also auch keine Kirche, keine Sakramente und Ämter sowieso nicht mehr brauchen wird. Das alles wird nicht wertlos deshalb. Denn jetzt, da wir noch unterwegs sind, fern vom Herrn, wie Augustinus einmal sagt, da sind uns die Kirche, die Ämter in ihr, die heiligen Zeichen geschenkt, dass jenes das Zielbild des neuen Jerusalem nicht verblasst und verloren geht, auf das hin wir – von Gott eingeladen – unterwegs sind. Aber wenn man der Vision von der biblischen Osterstadt folgt, wird man von der Kirche und allem, was zu ihr gehört, gelassener denken, mit manchem vielleicht auch geduldiger werden, weil es doch transitorisch ist, und vielleicht wird man auch die eine oder andere schrille Wortmeldung, die bisweilen aus amtlichen Stuben schallt, als das verstehen, was sie in Wahrheit ist: Ausgeburt von Enge oder Eitelkeit (oder beidem). Man muss dem widersprechen, wenn es passiert, aber trotzdem: Was wiegt es wirklich verglichen mit dem, was uns versprochen ist und wohin wir schon längst unterwegs sind?!
VI.
Nun könnte jemand natürlich unschwer einwenden, dass eine solche Gottunmittelbarkeit einer und eines jeden doch der Willkür Tür und Tor öffnet. Macht sich denn, wenn jede und jeder sich in Gott wissen darf und darum Gott auch zu allererst im Innersten ihrer und seiner selbst begegnet, nicht schnell seinen oder ihren Gott zurecht? Die Gefahr bestünde in der Tat, wenn dem nicht von der Mitte des Ostergeheimnisses vorgebeugt wäre: Denn an seiner tiefsten Wurzel stoßen wir auf – die Fußwaschung, also die Liebe. Da wird das Jenseitige auf eine Weise an Diesseitiges gebunden, dass es einem die Sprache verschlägt. Wie ich vor Gott einmal stehe, fällt damit zusammen, wie ich hier und jetzt zu der oder dem bin, denen ich – aus welchen Gründen auch immer – Nächster werde. Das Gericht ist christlich ein Standgericht, hat Kafka einmal geschrieben. Wir machen es uns selbst, wenn wir den Dienst der Fußwaschung, die Liebe verweigern, die die Substanz, das Innere von Ostern ausmacht. Ohne die Liebe fänden wir die Osterstadt nie und nimmer – und das wäre, bliebe es dabei, die Hölle für uns. Nur für die Liebe wohnt Gott nah hinterm Zaun.
VII.
Ein dem Namen nach unbekannt gebliebener Jesuit schrieb in einem Nachruf auf den Gründervater seines Ordens, den Hl. Ignatius von Loyola, dieser habe sich vom Größten nicht bezwingen und dennoch vom Kleinsten einnehmen lassen: Non coerceri a maximo, contineri tamen a minimo – das Größte erwarten und der kühnsten Hoffnung nachjagen, aber zugleich sich vom Banalsten beanspruchen lassen, in Augenhöhe bleiben mit dem gelebten Leben, mit seinen Trivialitäten oft auch, also empfindsam zu sein für Glück und Not des anderen, dafür Sorge zu tragen, dass die Hand des Armen nie ohne Brot ist, wie unser Dichter sagte – die Spannung zwischen beidem auszuhalten und das Größte mit dem Kleinsten behutsam zu versöhnen und umgekehrt: das ist so etwas wie die Kurzbeschreibung des Weges in die Osterstadt. Die Sehnsucht nach ihr tragen Viele, vielleicht sehr Viele mehr, als wir gewöhnlich denken, in der Seele. Vielleicht würden sie es nie so sagen in der Sprache der Bibel und der Kirche. Aber sie meinen dasselbe. Es ist ja kein Zufall, dass ein so radikal Moderner und auf sich selbst Geworfener wie Friedrich Hölderlin in seinem großen Hyperion-Roman gleich im Vorwort jenen Spruch über Ignatius von Loyola zitiert.
Keine schlechte Gesellschaft, würde ich sagen, in der wir da unterwegs sind mit dem Suchbild der Osterstadt in der Seele – eine Vision zwar, gewiss. Aber eine, die auch unsere Gegenwart jetzt schon deutet und richtet – und eine, die uns ermutigt.