Dem Leben Form geben
Collegium Borromaeum SoSe 2007: Mt 10, 16-23
I.
Ich kenne einen Mitbruder, der hat die Angewohnheit, allen Paaren aus dem Verwandten- und Freundeskreis, die ihn bitten, mit ihnen die kirchliche Trauung zu feiern, das gleiche Geschenk mitzubringen: einen kleinen Weihwasserkessel für die Wohnung. Wenn er irgendwann später das Paar besucht, kann er es sich nicht verkneifen, wenigstens aus den Augenwinkeln zu suchen, ob denn das Hochzeitsgeschenk seinen Platz gefunden habe. Selten, erzählte er mir, werde er enttäuscht. Doch fast ebenso oft sei das kleine Behältnis leer. Meistens zierten es höchstens ein paar Kalkspuren, die verraten, dass da einmal ein wenig Wasser verdunstet ist.
II.
Eine Banalität, dies – und vielleicht doch mehr. Zumindest Sinnbild für das, was schon Georg Bernanos, der Sensible, gern mit Dostojewskij auf eine Stufe Gestellte, den Protagonisten in seinem Roman „Tagebuch eines Landpfarrers“ so sagen lässt:
„Nein, ich habe den Glauben nicht verloren. Der Ausdruck ‚den Glauben verlieren’, so wie man seinen Geldbeutel verliert oder einen Schlüsselbund, ist mir übrigens immer ein wenig albern vorgekommen ... Man verliert nicht den Glauben, aber er hört auf, dem Leben Form zu geben. Das ist alles. Und darum haben erfahrene Lenker der Herzen nicht unrecht, wenn sie gegenüber geistigen Krisen ihre Zweifel hegen, denn die sind gewiss viel seltener, als man behauptet.“
III.
Mit diesen wenigen Worten entlarvt Bernanos die Rede vom Glauben-Verlieren als das, was sie in Wahrheit ist: Versuch einer Selbstentschuldigung. Gewiss gibt es Fälle, in denen jemand den Glauben verliert, weil ihn das Schicksal dermaßen schlägt, dass ihm der Gedanke an einen gütigen, barmherzigen Gott nur noch zynisch anmutet. Oder einem verdunkelt sich die Seele in so abgründiger Angst und Trauer, dass er nicht mehr weiß, was es heißt, sich jemandem anzuvertrauen. Oder jemand gerät in jenes verlorene Land, wo Menschen Opfer der Dummheit und Anmaßung anderer werden, die für sich beanspruchen, im Namen Gottes und der Kirche zu handeln – so wie jene Ordensschwester, die auf dem Sterbebett sagte: „An den Himmel kann ich nicht mehr glauben. Aber an die Hölle glaube ich, die muss es geben – wegen meiner Oberinnen und dem, was sie mir angetan haben, als ich jung war.“ Das sind geistige Abstürze, und die, die sie durchleiden, dürfen wir getrost in Gottes Hand wissen.
Der Normalfall des Glaubensverlustes ist das nicht. Das Schlimme an diesem Normalfall ist seine Banalität. Glaube und Leben entwickeln sich unmerklich auseinander, und eines Tages merkt der Betroffene, dass ihm sein Glaube nur noch Vergangenheit ist, wie ein altes Foto, das man manchmal hervorkramt und das einem ohne Bedauern die Bemerkung entlockt: „Ja, so war das einmal.“ Das hatte Bernanos im Blick, als er schrieb: „Man verliert nicht den Glauben, aber er hört auf, dem Leben Form zu geben. Das ist alles.“
IV.
Dem Leben Form geben – daran hängt, dass Glaube wirklich ist. Aber was heißt das: dem Leben Form geben durch Glauben? Eine chassidische Geschichte sagt es so: Ein Mann hatte in seinem Leben so gut wie keines der Gebote Gottes gehalten und viel Böses getan. Nur ein Gebot, ein winziges, hatte er immer gehalten: nie etwas zu essen, ohne sich vorher die Hände zu waschen. Tagelang schon ist er unterwegs, der Hunger quält ihn. Als er zufällig einen anderen Wanderer trifft und ihn anbettelt, reicht der ihm ein Stück Brot. Schon will er es gierig verschlingen. Da fällt ihm das Händewaschen ein, das einzige Gebot, das er immer im Leben gehalten hatte, wenigstens dieses. Er kann kaum widerstehen: das Brot, das er in Händen hält, und sein Hunger dazu. Und trotzdem: Nein! Er geht weiter, rennt manches Stück, um an einen Bach, auch nur eine Pfütze zu kommen für das Händewaschen. Und um dessentwillen, sagt die Geschichte, wurde ihm alles andere vergeben. Formgeben besteht darin, dem Sichs-leicht-machen nicht nachzugeben.
V.
Leicht gesagt, umso schwerer getan natürlich. Es scheint Situationen zu geben, da geht das Formgeben wie von selbst – wie damals Ende der 80er Jahre, als im Januar ein Flugzeug beim Start vom Washingtoner Flughafen verunglückte und in den eisschollenübersäten Potomac-Fluss stürzte. Die Fernsehkameras waren genauso schnell da wie die Helfer. Eine der erhaltenen Filmsequenzen zeigt einen schnauzbärtigen Glatzkopf, der – auf Armlänge entfernt von den Helfern im Rettungsboot – eine junge Frau neben sich im Wasser zu packen kriegt, sie ergreift, den Rettern entgegenstemmt und selbst in den Fluten versinkt. Ich weiß nicht, ob der Mann Christ war. Aber er hat seinem Leben eine Form gegeben, die verdiente, christlich zu heißen.
VI.
Anders als sonst im Leben nimmt sich dieses Formgeben diesseits extremer Situationen ungleich schwieriger aus. Dennoch steht und fällt mit ihm alles. Wenn es einen guten Grund für Sie gibt, hier in diesem Haus zu leben, dann – meine ich – hat er damit zu tun, dass Sie in dieses Formgeben tief hineinwachsen. Gewiss stellt sich diese Aufgabe auch Ihren Mitstudentinnen und -studenten an unserer Fakultät. Aber im Blick darauf, dass Sie Priester werden möchten, kommt doch noch ein besonderes Moment dazu. Es hat mit dem zu tun, was wir vorhin im Evangelium hörten: Jesus schickt seine Erstgesandten, die Apostel, auf deren Schultern Sie einmal stehen werden, aus – einfach so, ohne Erfolgsgarantie. Trotzdem nimmt das Evangelium ihr ganzes Leben in Anspruch. Auch Sie werden bisweilen mit Verständnislosigkeit rechnen müssen, mit Ablehnung bis in den familiären und den Freundeskreis hinein. Wie kannst Du nur? Hast Du nichts Besseres vor mit Dir und Deinem Leben? Und nirgends ist gesagt, dass es nicht auch an aufgeladenen Orten unser gegen alles Unbedingte neuralgischen Kultur wieder zu richtiger Feindseligkeit kommen kann gegen das Christliche. Wobei die Gleichgültigkeit das sein wird, was Ihnen am meisten an die Substanz geht.
Wenn da einer nicht gelernt hat, seinem Leben durch den Glauben Form zu geben, kann er nur resignieren – oder Fundamentalist werden. Form aber wächst aus geduldiger Übung und, ja auch das, aus Disziplin im Denken und Handeln. Die kleine Treue des Werktags im Studieren und in der Kultur, zu deutsch: der Pflege des geistlichen Lebens, auf die kommt es an, denn in beidem drückt sich aus, wie ernst einer seinen Glauben nimmt. Und nur, wessen Leben Form gewonnen hat, ist auch frei genug, sich verantwortet für die Ausnahme von der Regel zu entscheiden. Form und Freiheit sind die zwei Seiten einer Münze. Studium und Seminarleben stehen darum in beider Dienst. So haben ihr Arbeiten und ihre Zeit hier im Haus so etwas wie ein existenzielles Format. Sie sind hoch privilegiert. Wenn Sie sich das zu Herzen nehmen, werden es Ihnen später die danken, für die Sie da zu sein haben.
Ich kenne einen Mitbruder, der hat die Angewohnheit, allen Paaren aus dem Verwandten- und Freundeskreis, die ihn bitten, mit ihnen die kirchliche Trauung zu feiern, das gleiche Geschenk mitzubringen: einen kleinen Weihwasserkessel für die Wohnung. Wenn er irgendwann später das Paar besucht, kann er es sich nicht verkneifen, wenigstens aus den Augenwinkeln zu suchen, ob denn das Hochzeitsgeschenk seinen Platz gefunden habe. Selten, erzählte er mir, werde er enttäuscht. Doch fast ebenso oft sei das kleine Behältnis leer. Meistens zierten es höchstens ein paar Kalkspuren, die verraten, dass da einmal ein wenig Wasser verdunstet ist.
II.
Eine Banalität, dies – und vielleicht doch mehr. Zumindest Sinnbild für das, was schon Georg Bernanos, der Sensible, gern mit Dostojewskij auf eine Stufe Gestellte, den Protagonisten in seinem Roman „Tagebuch eines Landpfarrers“ so sagen lässt:
„Nein, ich habe den Glauben nicht verloren. Der Ausdruck ‚den Glauben verlieren’, so wie man seinen Geldbeutel verliert oder einen Schlüsselbund, ist mir übrigens immer ein wenig albern vorgekommen ... Man verliert nicht den Glauben, aber er hört auf, dem Leben Form zu geben. Das ist alles. Und darum haben erfahrene Lenker der Herzen nicht unrecht, wenn sie gegenüber geistigen Krisen ihre Zweifel hegen, denn die sind gewiss viel seltener, als man behauptet.“
III.
Mit diesen wenigen Worten entlarvt Bernanos die Rede vom Glauben-Verlieren als das, was sie in Wahrheit ist: Versuch einer Selbstentschuldigung. Gewiss gibt es Fälle, in denen jemand den Glauben verliert, weil ihn das Schicksal dermaßen schlägt, dass ihm der Gedanke an einen gütigen, barmherzigen Gott nur noch zynisch anmutet. Oder einem verdunkelt sich die Seele in so abgründiger Angst und Trauer, dass er nicht mehr weiß, was es heißt, sich jemandem anzuvertrauen. Oder jemand gerät in jenes verlorene Land, wo Menschen Opfer der Dummheit und Anmaßung anderer werden, die für sich beanspruchen, im Namen Gottes und der Kirche zu handeln – so wie jene Ordensschwester, die auf dem Sterbebett sagte: „An den Himmel kann ich nicht mehr glauben. Aber an die Hölle glaube ich, die muss es geben – wegen meiner Oberinnen und dem, was sie mir angetan haben, als ich jung war.“ Das sind geistige Abstürze, und die, die sie durchleiden, dürfen wir getrost in Gottes Hand wissen.
Der Normalfall des Glaubensverlustes ist das nicht. Das Schlimme an diesem Normalfall ist seine Banalität. Glaube und Leben entwickeln sich unmerklich auseinander, und eines Tages merkt der Betroffene, dass ihm sein Glaube nur noch Vergangenheit ist, wie ein altes Foto, das man manchmal hervorkramt und das einem ohne Bedauern die Bemerkung entlockt: „Ja, so war das einmal.“ Das hatte Bernanos im Blick, als er schrieb: „Man verliert nicht den Glauben, aber er hört auf, dem Leben Form zu geben. Das ist alles.“
IV.
Dem Leben Form geben – daran hängt, dass Glaube wirklich ist. Aber was heißt das: dem Leben Form geben durch Glauben? Eine chassidische Geschichte sagt es so: Ein Mann hatte in seinem Leben so gut wie keines der Gebote Gottes gehalten und viel Böses getan. Nur ein Gebot, ein winziges, hatte er immer gehalten: nie etwas zu essen, ohne sich vorher die Hände zu waschen. Tagelang schon ist er unterwegs, der Hunger quält ihn. Als er zufällig einen anderen Wanderer trifft und ihn anbettelt, reicht der ihm ein Stück Brot. Schon will er es gierig verschlingen. Da fällt ihm das Händewaschen ein, das einzige Gebot, das er immer im Leben gehalten hatte, wenigstens dieses. Er kann kaum widerstehen: das Brot, das er in Händen hält, und sein Hunger dazu. Und trotzdem: Nein! Er geht weiter, rennt manches Stück, um an einen Bach, auch nur eine Pfütze zu kommen für das Händewaschen. Und um dessentwillen, sagt die Geschichte, wurde ihm alles andere vergeben. Formgeben besteht darin, dem Sichs-leicht-machen nicht nachzugeben.
V.
Leicht gesagt, umso schwerer getan natürlich. Es scheint Situationen zu geben, da geht das Formgeben wie von selbst – wie damals Ende der 80er Jahre, als im Januar ein Flugzeug beim Start vom Washingtoner Flughafen verunglückte und in den eisschollenübersäten Potomac-Fluss stürzte. Die Fernsehkameras waren genauso schnell da wie die Helfer. Eine der erhaltenen Filmsequenzen zeigt einen schnauzbärtigen Glatzkopf, der – auf Armlänge entfernt von den Helfern im Rettungsboot – eine junge Frau neben sich im Wasser zu packen kriegt, sie ergreift, den Rettern entgegenstemmt und selbst in den Fluten versinkt. Ich weiß nicht, ob der Mann Christ war. Aber er hat seinem Leben eine Form gegeben, die verdiente, christlich zu heißen.
VI.
Anders als sonst im Leben nimmt sich dieses Formgeben diesseits extremer Situationen ungleich schwieriger aus. Dennoch steht und fällt mit ihm alles. Wenn es einen guten Grund für Sie gibt, hier in diesem Haus zu leben, dann – meine ich – hat er damit zu tun, dass Sie in dieses Formgeben tief hineinwachsen. Gewiss stellt sich diese Aufgabe auch Ihren Mitstudentinnen und -studenten an unserer Fakultät. Aber im Blick darauf, dass Sie Priester werden möchten, kommt doch noch ein besonderes Moment dazu. Es hat mit dem zu tun, was wir vorhin im Evangelium hörten: Jesus schickt seine Erstgesandten, die Apostel, auf deren Schultern Sie einmal stehen werden, aus – einfach so, ohne Erfolgsgarantie. Trotzdem nimmt das Evangelium ihr ganzes Leben in Anspruch. Auch Sie werden bisweilen mit Verständnislosigkeit rechnen müssen, mit Ablehnung bis in den familiären und den Freundeskreis hinein. Wie kannst Du nur? Hast Du nichts Besseres vor mit Dir und Deinem Leben? Und nirgends ist gesagt, dass es nicht auch an aufgeladenen Orten unser gegen alles Unbedingte neuralgischen Kultur wieder zu richtiger Feindseligkeit kommen kann gegen das Christliche. Wobei die Gleichgültigkeit das sein wird, was Ihnen am meisten an die Substanz geht.
Wenn da einer nicht gelernt hat, seinem Leben durch den Glauben Form zu geben, kann er nur resignieren – oder Fundamentalist werden. Form aber wächst aus geduldiger Übung und, ja auch das, aus Disziplin im Denken und Handeln. Die kleine Treue des Werktags im Studieren und in der Kultur, zu deutsch: der Pflege des geistlichen Lebens, auf die kommt es an, denn in beidem drückt sich aus, wie ernst einer seinen Glauben nimmt. Und nur, wessen Leben Form gewonnen hat, ist auch frei genug, sich verantwortet für die Ausnahme von der Regel zu entscheiden. Form und Freiheit sind die zwei Seiten einer Münze. Studium und Seminarleben stehen darum in beider Dienst. So haben ihr Arbeiten und ihre Zeit hier im Haus so etwas wie ein existenzielles Format. Sie sind hoch privilegiert. Wenn Sie sich das zu Herzen nehmen, werden es Ihnen später die danken, für die Sie da zu sein haben.