Christliche Existenz: Jesus heute (Lk 6, 20-26)

Predigtreihe „Zugänge zum Christlichen“, St. Ludwig Berlin

I
Eine ganze Zeit, damals nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil und den damit einhergehenden Hoffnungen, da hatte man gedacht: Wenn alles Rituelle zurückgestutzt, die Sprache verständlich gemacht und die Klerikalismen ausgetrieben sind aus dem Gottesdienst, wenn man das vom Ruß der Andachtskerzen verdunkelte Jesusbild der Evangelien in seinen originalen Farben wieder freilegt, da wird es zu einem kirchlichen Aufschwung kommen, einer neuen Vitalität des christlichen Glaubens. Und manches, wie etwa die Bewegung der Jesus-People, die Christsein und Popkultur verwebten, schienen dem Recht zu geben. Aber wer etwas genauer hinhörte, konnte hinter und neben all dem schnell auch andere Stimmen wahrnehmen, Stimmen, die wohl Religiöses zu schätzen wussten, aber mit Jesus nichts zu tun haben wollten.

II
Hans Eric Zander brachte diesen Trend eines Tages auf den Punkt, als er bekannte:
„‘Das Interessante am Christentum’, pflegte meine englische Großmutter zu sagen, ‘ist nicht Jesus, sondern die Katholische Kirche.’ Ich will es anders sagen: Jesus war ein Sandkorn in der Muschel des alten Judentums. Das Christentum ist die Perle, die sich um ihn, schwierig genug, geschlossen hat. Warum die Muschel aufbrechen, warum die Perle zerschlagen, um alle Andacht, alles Augenmerk nur noch dem Sandkorn zu weihen?“
Und dann attestiert er dem Jesus, wie er in den Evangelien begegnet, ein höchst erfolgreicher Rosstäuscher und Scharlatan gewesen zu sein, einer, für den ein Gemisch aus religiösem Größenwahn und menschlicher Schäbigkeit charakteristisch gewesen sei. Das ist übrigens gar nicht so schwierig, wenn man, wie Zander, einzelne Worte Jesu oder gar Wörter der Evangelien aus ihrem Zusammenhang reißt und dann isoliert für sich traktiert. So etwa beim markinischen Programmwort „euthys“ – zu deutsch: „sogleich“ –, das der Evangelist 42 mal gebraucht, um die konsequente Orientierung seines ganzen Evangeliums auf die Passion hin zu verdeutlichen. Für Zander drückt dieses griechische Wort nur den Charakter einer unruhigen Überstürztheit aus, in der sich nichts anderes als eine dämonische Großmannssucht dieses Jesus artikuliere. Dem ganz entsprechend habe dieser auch die höchst nützliche Gabe besessen, bei aufgrund ihrer Witwenschaft unausgelasteten Damen zu charmieren und ihnen das Geld aus der Tasche zu ziehen. In diesem Stil geht Zander das Leben Jesu bis zur Passion durch. Am Ende steht als Resultat – nochmals Originalton Zander:
„Beherrschung unter dem Vorwand der Betreuung, Belästigung unter dem Vorwand des Mitleids, Einmischung ins Innerste unter dem Vorwand der Nächstenliebe – das ist der Alltag der Kirche. Und die Kirche ist nicht etwa so, weil sie Jesus verraten hätte. Jesus selber war schon so. Wer schamlos genug ist, distanzlos genug, Gott mit ‘Papi’ (‘Abba’) anzusprechen, der ist auch im Umgang mit Menschen zu jeder Grenzüberschreitung bereit.“
Und die ethische Summe eines solchermaßen begründeten anti-jesuanischen Gottesglaubens kann nur lauten:
„Man frage sich in jeder Lebenslage, was jetzt Jesus täte. Und dann tue man das Gegenteil.“

III
Es kann einem aber passieren, dass solche Polemik auf einmal ein Stück irritierender Resonanz in einem selber findet, wenn man vor bestimmte Passagen des Evangeliums gerät. Man braucht nur solche wie die aus dem Lukasevangelium vorhin zu nehmen: Es war Jesu Feldrede aus dem Lukasevangelium, das Gegenstück zur ungleich bekannteren Bergpredigt aus dem Matthäusevangelium: Selig ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes. Selig, die ihr jetzt hungert, denn ihr werdet satt werden. Selig, die ihr jetzt weint, denn ihr werdet lachen. Haben Sie es genau gehört? – Was ist das denn für ein seltsames Gerede? Leute selig preisen, die Not leiden und denen es nicht gut geht! Friedrich Nietzsche hatte nicht viel übrig für das Christentum mit seinem Barmherzigkeitsgedusel, wie er sagte. Aber wenn ihm Verse aus dem Evangelium wie die Feldrede unter die Augen kamen, fing er regelrecht zu schäumen an. Er hielt sie schlichtweg für eine hintertriebene Erfindung derer, die im Leben zu kurz gekommen sind, mit den Starken nicht mithalten können und darum ihre Schwäche in einen Wert umlügen, hundert Jahre vor Zander.
Kostprobe gefällig?
„Es giebt“ – schreibt Nietzsche – „bei dem Menschen wie bei jeder anderen Thierart einen Überschuss von Missrathenen, Kranken, Entartenden, Gebrechlichen, nothwendig Leidenden; die gelungenen Fälle sind auch beim Menschen immer die Ausnahme und sogar in Hinsicht darauf, dass der Mensch das noch nicht festgestellte Thier ist, die spärliche Ausnahme... Wie verhalten sich nun die genannten beiden grössten Religionen [Buddhismus und Christentum] zu diesem Überschuss der misslungenen Fälle? Sie suchen zu erhalten, im Leben festzuhalten, was sich nur irgend halten lässt, ja sie nehmen grundsätzlich für sie Partei, als Religionen für Leidende, sie geben allen Denen recht, welche am Leben wie an einer Krankheit leiden, und möchten es durchsetzen, dass jede andre Empfindung des Lebens als falsch gelte und unmöglich werde. Möchte man diese schonende und erhaltende Fürsorge, insofern sie neben allen anderen auch dem höchsten, bisher fast immer auch leidensten Typus des Menschen gilt und galt, noch so hoch anschlagen: in der Gesamt-Abrechnung gehören die bisherigen, nämlichen souveränen Religionen zu den Hauptursachen, welche den Typus Mensch auf einer niedrigeren Stufe festhielten, – sie erhielten zu viel von dem, was zu Grunde gehn sollte.“
Schon länger wissen wir, dass diese Denkungsart keineswegs der Vergangenheit angehört. Peter Sloterdijk hat vor ein paar Jahren mit seinem Gerede, dass die Zähmung des Menschen durch den Humanismus gescheitert und darum künftig seine Züchtung nach gentechnischen Regeln nötig sei, die Sicht Nietzsches auf Punkt und Komma fortgeschrieben. Und genauso auf Punkt und Komma würde er unterschreiben, was Nietzsche über den Glauben der Christen sagt:
„Der christliche Gottesbegriff“ – so nochmals Nietzsche – Gott als Krankengott, Gott als Spinne, Gott als Geist - ist einer der korruptesten Gottesbegriffe, die auf Erden erreicht worden sind; ... Gott zum Widerspruch des Lebens abgeartet, statt dessen Verklärung und ewiges Ja zu sein! Gott, die Formel für jede Verleumdung des ‚Diesseits’, für jede Lüge vom ‚Jenseits’! In Gott das Nichts vergöttlicht, der Wille zum Nichts heilig gesprochen.“
Und der beste Beleg dafür: Unser Evangelium von vorhin.

IV
Was also haben wir eigentlich gehört vorhin in den Seligpreisungen der Armen, Hungernden, Weinenden, Gehassten – und den Weherufen über die, denen ein Wehe angesagt ist, weil für sie von all dem das Gegenteil gilt? Das, was Nietzsche hörte? Oder könnte da auch etwas ganz anderes gesagt sein, wenn wir darauf achten? Zum Beispiel dies:
Wenn ihr überzeugt seid, dass ein Mensch mehr ist als sein Konto und seine Karriere, mehr als seine Ellenbogen, sein Cabrio und seine schnieke Wohnung; wenn ihr auch überzeugt seid, dass wenig daran hängt, wie ein anderer von außen aussieht, weil das Schöne immer von innen kommt und man nur um seinetwillen eine, einen anderen lieb haben kann; wenn ihr von all dem überzeugt seid und ihr darum an alle dem, was man haben, machen und leisten kann, nicht hängt und darum frei seid: Selig seid ihr!
Wenn ihr überzeugt seid, dass man Geld nicht essen kann, ja sogar, dass es nichts auf der Welt gibt, was uns wirklich satt macht, weil die Sehnsucht von uns Menschenkindern nach einem Erfülltsein dafür viel zu groß ist; dass uns der Hunger nach Brot und erst recht der nach Angenommensein und Liebe beständig daran erinnert, dass wir nicht aus uns selbst bestehen, sondern angewiesen sind auf das, was die Erde und die anderen für uns übrig haben – und wenn ihr dann noch begreift, dass es trotzdem gut ist mit uns so, wie es ist, weil ihr euch einem verdankt, der euch Leben gönnt und es mit euch gut meint und darum euren Hunger stillen wird: Selig seid ihr, selig jetzt schon, da ihr noch den Hunger spürt, weil der euch zugleich die Verheißung gibt, einmal wirklich satt zu sein.
Wenn ihr überzeugt seid, dass es nicht nötig ist, immer gut drauf zu sein, da einem manchmal zum Heulen ist, weil ihr eine Chance vertut, einen wichtigen Wink nicht erkennt, ein anderer – gar lieber Mensch – euch hintergeht, ihr jemanden von eurer Seite auf immer verliert und untröstlich seid. Wenn ihr anerkennt, dass es all das im Leben geben kann und ihr weinen müsst – und trotzdem die Welt darüber nicht zerbricht, weil auch noch das menschlich gesehen Verfehlte und Verlorene, gerade es, in Gottes Hand geschrieben ist: Selig seid ihr.
Ja, und dann das andere auch noch: Die Seligpreisung für die, die wegen ihres Bekenntnisses zu Jesus gehasst, ausgeschlossen und geschmäht werden. Wer überzeugt ist, dass das mit dem Armsein, dem Hungern und Trauern stimmt und das auch noch sagt, der muss mit solchen Reaktionen rechnen. Längst ist es darum auch bei uns wieder normal, Christinnen und Christen ihres Glaubens wegen zu verhöhnen. Zumal katholische. Katholischsein sei ungefähr so, wie wenn in einem muffigen Keller ungewaschene Unterhosen verbrannt würden, meinte neulich ein bekannter Kabarettist.

V
Dass ich nicht falsch verstanden werde: Es gibt genug Dinge in der Kirche, die einen nur aufregen können: Beispiele mögen Sie mir an dieser Stelle schenken! Aber über all dem darf zugleich nicht aus dem Blick geraten, dass das provozierend Unzeitgemäße am Christsein daherrührt, dass unser Glaube – ich muss es so schneidend sagen – eigentlich gar nicht zuerst Religion ist, sondern prophetische Aufklärung: ungeschminktes Hervorsagen der Wahrheit und damit Erkenntnis, wie es um uns Menschen im Letzten steht.
Eben darum sind die Weherufe der lukanischen Feldrede, die ihren Seligpreisungen folgen, auch nicht Ausdruck der Schadenfreude derer, die ansonsten zu kurz kommen im Leben. Sie beschreiben lediglich, was denen passiert, die das Reichsein jetzt, das Sattsein jetzt, das Lachen jetzt, das schöne Gerede der anderen jetzt für das Ganze halten und sich darum an es klammern: Ihr habt weg euren Trost, wird ihnen gesagt (wenn man wörtlich übersetzt). Sie haben weg ihren Trost, weil sie vom Menschen viel zu klein gedacht haben – dass es mit ein bisschen Habe, reichlichem Essen, einer Bettaffäre und zünftiger Fröhlichkeit genug sei für ihn. Wo doch Gott den Menschen so sehr viel größer gewollt, ihm gleichsam als persönliche Signatur die Unendlichkeit im Denken und Fühlen in die Seele geschrieben hat!
Das kann man auch vernehmen, wenn man dem Wanderprediger Jesus aus Galiläa nachlauscht. Freilich braucht es dafür eine Art Achtsamkeit für das Marginale, zu deutsch: für das Randständige. Was in einem Text am Rand steht, stört das Geschriebene, korrigiert es. Jesus ist von Wesen eine Randbemerkung zum Text – wörtlich: zum Gewebe – der Welt. Aber was für eine! Für Glaubende reicht das Kürzel seines Namens „Jesus der Christus“, um aufzuklären, was der Welttext sagt und was er wert ist. Glauben heißt, in dieser fleischgewordenen Marginalie Gottes eigene Handschrift entziffern.