Grundgesetz

Stephanus C: Apg 6,8-10; 7,54-60

I.
Für alles Wichtige im Leben brauchen wir Zeit und nehmen wir uns Zeit. Wenn zwei Menschen, die sich mögen, einander kennen lernen, fliegen die Stunden dahin. Wendepunkte im Leben – Taufe, Trauung, Studienabschluss, Berufsbeginn – werden vorbereitet und groß gefeiert, um der Bedeutung dessen inne zu werden, was eigentlich geschieht. Noch heute etwa ist in Sizilien keine Seltenheit, dass eine Hochzeitsfeier Tage, manchmal eine ganze Woche lang dauert.

II.
Wenn wir die großen Feste unseres Glaubens begehen, verhält es sich ganz ähnlich. Wir brauchen Zeit, damit unsere Seele nachkommt mit allem, was es zu schauen, zu hören, zu fühlen gibt. Darum haben wir vorgestern Heilige Nacht gefeiert, gestern haben wir das Geheimnis der Weihnacht gleichsam im Licht der Taghelle betrachtet. Und heute begehen wir noch einen Festtag. Es ist der Tag des Hl. Stephanus, des ersten Märtyrers der Kirche, des ersten also, der lieber sein Leben darangab, als dem Glauben abzuschwören. Ursprünglich hatte Stephanus mit Weihnachten gar nichts zu tun. Das Gedächtnis dieses Heiligen war viel älter, viel direkter und handfester als das liturgische Weihnachtsfest, das erst in der Glaubensgeschichte gleichsam meditativ Stück für Stück seine Gestalt fand. So sind die beiden Festtage einfach nebeneinander geraten. Aber dass sie dann nahtlos zusammengewachsen sind, das Größere das Kleinere nicht verdrängt hat, ist trotzdem kein Zufall: Denn in der Geschichte des Stephanus spiegelt sich genau das, was an Weihnachten das eigentlich Aufregende ist.

III.
Stephanus war in der frühen Kirche ein wichtiges Amt anvertraut worden. Er wirkte als Diakon, also als Mitarbeiter der Apostel, zuständig für den Dienst an den Tischen – also für die Caritas, würden wir heute sagen –, aber auch für die Verkündigung des Evangeliums. Er muss seine Sache hervorragend gemacht haben: Voll Gnade und Kraft wirkte er große Zeichen und Wunder im Volk, erzählt die Apostelgeschichte. Das meint: Was er sagte und tat, war überzeugend, glaubwürdig, war mitreißend – hatte Folgen unter den Menschen, denen er begegnete: Sie ließen sich darum taufen und wurden Christus-Leute. Deren Zahl war damals am Anfang, in den ersten Jahren nach Ostern, noch verschwindend klein gewesen, die Mehrheit wollte nichts davon wissen, dass der Mensch Jesus von Nazaret das Gleichnis Gottes sein sollte. Denn das ungefähr meinten die ersten Christen, wenn sie Jesus Gottes Sohn oder Gottes Wort nannten: jemanden oder etwas, das untrennbar zu Gott in seiner Unermesslichkeit gehört, aber dennoch zu uns gleichsam herüber reicht. Einen, an dem einmal Maß genommen werden wird, was vom Leben vor Gott gültig sein wird und was nicht. Das meinte unsere Lesung vorhin, wenn sie Stephanus in einer Vision Jesus zur Rechten Gottes stehen sieht. Mit diesem Glauben aber war die frühe Gemeinde eine innerjüdische Reformgruppe, von außen gesehen eine vom überlieferten Glauben abweichende Sekte.
Offenkundig hat Stephanus die Gegner der Jesus-Botschaft mit seiner überzeugenden, ansteckenden Art, Christ zu sein, provoziert. Deshalb haben sie ihn eines Tages mit Gewalt beiseite geschafft. Die Folge: Panisch ergriff die kleine Christengemeinde die Flucht. Voller Angst liefen sie in alle Himmelsrichtungen auseinander. Das Aus der Jesus-Bewegung war so gut wie besiegelt. Aber was geschah? Überall dort, wo die Christen hinkamen, erzählten sie von Jesus. Und überall, gerade außerhalb Israels, im Ausland bei den Heiden, bekehrten sich Menschen und wurden Christen – in Scharen, wie die Apostelgeschichte mehrfach bezeugt. Was wie Vernichtung aussah, war in Wirklichkeit ein Neubeginn, ein Anfang, aus dem das, was schon verloren schien, so stark, so lebendig wie nie vormals hervorging.

IV.
Und sagen Sie nicht: So was hat´s halt damals vor Jahrhunderten einmal gegeben! Haargenau das Gleiche ist erst vor einigen Jahren auch in Mittelamerika geschehen. In San Salvador gab es ein kleines Zentrum des Jesuitenordens, das sich besonders der Unterstützung der ausgebeuteten Kleinbauern und Handwerker widmete. Eines Tages wurde das kleine Kloster überfallen. Männer in Militäruniformen erschossen sechs Patres und die zwei Frauen, die sich um das Haus kümmerten, mit Maschinenpistolen. Einer der Patres blieb übrig, weil er zufällig auswärts war. Bald darauf kannte man die Verantwortlichen, aber die Beweise für eine Anklage wurden bewusst zurückgehalten. Ein hoffnungsvoller Aufbruch einer jungen Kirche wurde brutal niedergemacht. Und die Folge? Nach dem Massaker stieg die Zahl junger Männer in Mittelamerika, die Jesuiten werden wollten, drastisch an: um mehr als 150%. Die Mörder hatten die Glaubwürdigkeit, die Überzeugungskraft des Ordens stärker gemacht. Sie haben das Gegenteil von dem bewirkt, was sie zu erreichen suchten. Aus Vernichtung ging wie von selbst Neues hervor.

V.
Wenn ein Christ, eine Christin dem ein wenig nachsinnt, was da in El Salvador, was 19 Jahrhunderte vorher mit Stephanus in Jerusalem geschah, dann wird er oder sie schnell erkennen, dass sich darin das Geheimnis des Karfreitags und des Ostermorgens widerspiegelt. Und wenn jemand noch ein wenig tiefer geht, wird er oder sie entdecken, dass all diese österlichen Ereignisse ihren ersten Vorschein schon in der Krippe von Bethlehem haben: Gott, der Unendliche und Unermessliche, wie wir menschlich unbeholfen sagen, verzichtet auf sein Gottsein, auf sich selbst. Er, über den hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, erweist seine größte Größe darin, dass er seine Größe ablegt und buchstäblich auf sein Gottsein verzichtet. Er macht sich klein wie ein Kind, wehrlos – ohne alles. Und eben dadurch, dass er uns so ungeschützt auf Du und Du begegnet, durch das Erstaunen darüber, bricht er den Panzer auf, der um unsere Seelen liegt. An der Krippe begegnen wir Gott ohne Misstrauen und Angst so herzlich wie einem Kind und werden darüber selbst Kinder – gerade so, wie Erwachsene, wenn sie mit einem Kind sprechen, von selber wie Kinder zu sprechen anfangen. Wer aber so wird, fängt neu an mit sich – in Gottes Namen. Und damit hat er auch schon begonnen, Christ und Christin zu sein. Stephanus war überzeugt: Dieser Neuanfang ist unzerstörbar. Darum hat er ihn nie mehr preisgegeben. Und darum ist sein Fest mit Weihnachten zusammengewachsen. Würden wir unser eigenes Leben auch nur ein wenig diesem Nahekommen Gottes aussetzen, würden wir so frei zu werden beginnen wie Stephanus. Er und alle, die mit ihm gehen, sind Weihnachtsmenschen. Wir könnten auch dazu gehören.