Getsemani-Grauen

Gründonnerstag C: Ex 12, 1-8. 1-14 + Joh 13, 1-15 [+ Lk 22, 43]

I.
Mit dem beginnenden Abend jetzt treten wir ein in die Feier der Heiligen Drei Tage – Ursprung und Mitte von dem, was unseren Glauben trägt. Wer, wie viele von uns, im Gang der Feste und Riten des Kirchenjahres groß geworden ist, verbindet wohl mit einer gewissen Selbstverständlichkeit den Gründonnerstag mit dem Bild des letzten Abendmahls, der Fußwaschung der Jünger. Aber vielleicht ist das alles noch gar nicht die innerste Mitte. Vielleicht muss man noch genauer, feinfühliger hinhören auf die Erzählung der Evangelien und hinschauen auf die Zeichen, die unser Beten und Feiern heute begleiten, um an diese Mitte zu rühren.

II.
Eines dieser Zeichen, nur einmal im Jahr – nämlich heute – begegnend, scheint mir besonders dicht. Früher hat man es manchmal fast theatralisch inszeniert, heute geschieht es nüchterner, aber immer noch genauso sprechend: Nach dem letzten Gebet räumen wir den Altar ab: keine Kerzen mehr, kein Tischtusch, keine Blumen. Die Türen des Tabernakel, des kleinen Bundeszelts der Gottesgegenwart, bleiben offen stehen. Drinnen ist es leer, das ewige Licht erloschen. Was drückt das aus? Es setzt sichtbar um, was Jesus in seinem Innern empfand, als er nach dem Abendmahl in den Garten am Ölberg ging.

III.
Er wusste, dass seine Stunde gekommen war, schreibt Johannes verhalten und deutet damit in Wahrheit eine Katastrophe an: Jesus hatte nach anfänglichem kurzen Erfolg mit seiner Predigt vom Gottesreich Zug um Zug Schiffbruch erlitten. Je länger, je mehr verkehrte sich, was er sagte und tat, um Gottes Güte zu bezeugen, in eine einzige Provokation der Hörerschaft. Und schon länger deutete sich an, dass diese Provokation umschlagen würde in ein Zum-Schweigen-bringen des Provokateurs. Jesus hat das kommen sehen, aber er wusste genauso, dass er nicht anders konnte als er tat. Sonst hätte er sich selbst und darin den Gott Lügen gestraft, von dem er in den zu Herzen gehenden Bildern vom guten Hirten und barmherzigen Vater zu reden wusste und von dem, der seine Sonne aufgehen lässt über Bösen und Guten, weil er gewiss ist, dass seine Güte das wahre Gericht ist, das den Sünder erschüttert.
Er merkte, wie sich das Misstrauen gegen ihn, die Ablehnung, bis in den innersten Kreis der Jünger fraß. Darum nahm er mit einem Mahl Abschied von ihnen. Noch einmal tritt er in die Rolle des Hausvaters, bricht das Brot und reicht den Segensbecher. Mitten darin steht er auf, kniet sich nieder, wäscht, was sonst der Haussklave zu tun hat, den Mahlhaltenden die Füße, was die Jünger so bestürzt, dass sie es wie der Petrus verhindern möchten. Dann beschließt er das Mahl und sagt dazu, dass er das habe sein wollen für sie, was sie da eben sahen, einer, der dient bis zum buchstäblich Letzten, um ihnen in die Seele zu brennen, wie Gott selber ist – nämlich so, wie er, Jesus, war: die Liebe selber. Und dass sie, wann immer sie Mahl halten würden, an ihn denken und mit ihm eins sein würden, hineingenommen in die Liebe, die sich ausdrückt im Brotbrechen und Teilen des Bechers. Weil das, was er soeben tat, nicht irgendetwas war, sondern buchstäblich sein Leben selbst. Das Brot getränkt, der Becher gefüllt mit der Liebe, wo immer sie in seinem Namen davon essen und daraus trinken. Das ist das Letzte, was er geben kann. Und das tut er.

IV.
Und dann geht er hinaus in den Ölgarten. Dort betet er. So erschüttert, so niedergeschlagen und entmutigt, dass ihm der Angstschweiß wie Blutbäche herab rinnt. Warum? Weil er aus dem heraus, was alles gewesen ist die paar Jahre seines Wirkens, den Gedanken an sich heran lassen muss, dass alles vergeblich gewesen sein kann. Und wenn es so wäre, wenn all das, was er selbst geglaubt, gesucht, gefunden und bezeugt hatte, verloren war, muss er dann nicht den noch fürchterlicheren Gedanken zulassen, dass hinter allem – nur ein Nichts gähnt, dass alles, dass Gott selber Trug war?
In seiner berühmten Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei hat Jean Paul dieses Schreckensszenario ausgemalt, versetzt in einen Alptraum des Erzählers, gleichsam um noch ein Stück Distanz zu diesem furchtbaren Bild zu halten: Er sieht die Toten aus den Gräbern kommen und hört Christus zu ihnen sagen:
Ich ging durch die Welten, ich stieg in die Sonnen und flog mit den Milchstraßen durch die Wüsten des Himmels; aber es ist kein Gott. Ich stieg herab, soweit das Sein seine Schatten wirft, und schauete in den Abgrund und rief: ‚Vater, wo bist du?’ Aber ich hörte nur den ewigen Sturm, den niemand regiert, und der schimmernde Regenbogen aus Wesen stand ohne eine Sonne, die ihn schuf, über dem Abgrunde und tropfte hinunter. Und als ich aufblickte zur unermesslichen Welt nach dem göttlichen Auge, starrte sie mich mit einer leeren bodenlosen Augenhöhle an; und die Ewigkeit lag auf dem Chaos und zernagte es und wiederkäuete sich. – Schreiet fort, Misstöne, zerschreiet die Schatten; denn Er ist nicht. […]
Wie ist jeder so allein in der weiten Leichengruft des All! Ich bin nur neben mir – O Vater! o Vater! wo ist deine unendliche Brust, dass ich an ihr ruhe? – Ach, wenn jedes Ich sein eigner Vater und Schöpfer ist, warum kann es nicht auch sein eigner Würgeengel sein?
Erst damit sind wir auf den wirklichen Boden des Gründonnerstagabend gebracht: Jesu Erschüttertwerden vom Gottesfehl, einem Abgrund, dem er nicht entkommen kann, wenn alles vergeblich gewesen sein soll, was ihm kostbar, sein Ein und Alles war. Knapp 100 Jahre nach Jean Paul hat van Gogh, der sich Zeit seines Lebens weigerte, biblische Sujets darzustellen, unter dem Titel Olivenhain genau diese entsetzliche Leere der Ölbergnacht gemalt: Einfach ein leicht ansteigendes Feld mit Ölbäumen. Sonst nichts. Keine Gestalt, kein Gestirn. Nur die Leere. Wer eine Weile vor dem Bild steht, spürt die Leere gähnen. Und nochmals ein paar Jahre später, 1906, hat Rainer Maria Rilke den Faden erneut aufgenommen und gedichtet:
Er ging hinauf unter dem grauen Laub
ganz grau und aufgelöst im Ölgelände
und legte seine Stirne voller Staub
tief in das Staubigsein der heißen Hände.

Nach allem dies. Und dieses war der Schluß.
Jetzt soll ich gehen, während ich erblinde,
und warum willst Du, daß ich sagen muß
Du seist, wenn ich Dich selber nicht mehr finde.


Ich finde Dich nicht mehr. Nicht in mir, nein.
Nicht in den andern. Nicht in diesem Stein.
Ich finde Dich nicht mehr. Ich bin allein.


Ich bin allein mit aller Menschen Gram,
den ich durch Dich zu lindern unternahm,
der Du nicht bist. O namenlose Scham...


Später erzählte man: ein Engel kam –.

Warum ein Engel? Ach es kam die Nacht
und blätterte gleichgültig in den Bäumen.
Die Jünger rührten sich in ihren Träumen.
Warum ein Engel? Ach es kam die Nacht.

Die Nacht, die kam, war keine ungemeine;
so gehen hunderte vorbei.
Da schlafen Hunde und da liegen Steine.
Ach eine traurige, ach irgendeine,
die wartet, bis es wieder Morgen sei.

Denn Engel kommen nicht zu solchen Betern,
und Nächte werden nicht um solche groß.
Die Sich-Verlierenden läßt alles los,
und sie sind preisgegeben von den Vätern
und ausgeschlossen aus der Mütter Schooß.


V.
Nur von dieser Gottesverzweiflung Jesu her, von der die Evangelien ungeschminkt reden, auch wenn sie – wie erschrocken – größte Diskretion dabei wahren, – nur von ihr her wird erahnbar, was das Abendmahl und die Gabe des Mahlzeichens bedeuten: die letzte, die allerletzte, die das Letzte wagende Bitte an die Seinen, sein Zeugnis von Gottes Gottsein anzunehmen: dass sie glauben, dass Gott die Liebe sei und darum nichts, was je ist, verloren gehen wird, weil Gott nichts verloren gibt, was je gewesen ist. Mehr als diese Bitte, zu der er sich selber macht, hat er nicht. Mit ihr hat er alles gegeben. Und wenn das nicht reichte? Dann, ja dann ist auch kein Gott. Denn wenn die Liebe nicht zählt, gibt es ihn nicht. Denn er ist die Liebe.

VI.
Das ist der Schrecken dieser Nacht. Ein Schrecken noch größer als der des Volkes Israel beim Vorübergang JHWHs in der Pesach-nacht. Die Lukaspassion, die wir vor wenigen Tagen am Palmsonntag gelesen haben, hat diese die Kehle zuschnürende Beklemmung nicht mehr ausgehalten und erzählt – anders als die anderen Evangelien – an dieser Stelle von einem Engel, der gekommen sei, um den in der Angst versinkenden Jesus zu stärken. Rilke wollte davon nichts hören, hat im Gedicht das angebliche Kommen des Engels als ein Wispern des Nachtwinds in den Blättern der Bäume abgetan. Wenn es ihm darum ging, eine billige Lösung, den Deus ex machina abzutun, der im letzten Moment aus der Kulisse springt, um die Lage zu entschärfen, dann hatte er Recht. Was aber, wenn der Wink der Lukas-Passion in eine ganz andere Richtung ginge?
Die Theologie hat immer darum gewusst, dass das, was wir Engel nennen, keine besseren Gespenster sind, sondern die Gedanken, die Gott von seinen geistbegabten Geschöpfen hat, also auch von uns. In diesem Sinn spricht etwa auch ein Thomas von Aquin davon, dass die, die die Stille ihrer geistlichen Betrachtung und Gottinnigkeit verlassen und aus Liebe zu anderen gehen, um ihnen vom Geheimnis Gottes zu predigen, gleichsam Engel seien, die zwischen Himmel und Erde auf und niedersteigen, Gottesboten von der Liebe getrieben. Vielleicht darf man den Getsemani-Engel bei Lukas so ähnlich verstehen. Dann wäre der stärkende, tröstende Engel im Ölberg-Garten jede und jeder, denen die Regung ihres menschlichen Herzens eingibt, einen, den die Angst so überkommt wie diesen an Gott irre werdenden Jesus am Ölberg, nicht allein zu lassen, zu ihm zu gehen, bei ihm zu bleiben – und darin ein Zeugnis zu geben, dass die Liebe kein Trug ist. Und das allein vermöchte dem Rachen der Angst stand zu halten und an Gott gegen Gott festzuhalten.
Es mag uns sehr fremd sein, aber am Gründonnerstag ist nicht Jesus der Tröstende, sondern der, der unser tröstendes Bei-ihm-Sein braucht. Wir sind der Engel. Jede Eucharistie – und besonders die heute – ist von innen gesehen ein Bitten Jesu um unser Bleiben bei und in ihm. Im Verweilen bei ihm macht sich die Liebe wahr und verwandelt sich darum das Bitten in Dank dafür, dass es die Liebe, dass es Gott wirklich gibt. Lukas’ Wink mit dem Engel ist die schmale Pforte, durch die das Damals und Einst der Ölbergnacht ins Jetzt dieses Abends tritt – das ist heute:
Bleibet hier und wachet mit mir;
Wachet und betet, wachet und betet.