Zwischen Ernst und Zuversicht

21. So C: LK 13,22-30

I.
Mein Lieblingsreiseziel ist Italien. Ein Land, unvorstellbar reich an Kunstwerken und vor allem an Kirchen. Viele davon habe ich schon besucht. Dabei fiel mir auf, wie oft in den Domen und Kathedralen das Jüngste Gericht dargestellt ist, gemalt, als Relief oder Mosaik: Im Dom von Orvieto z.B., in der Kirche der Insel Torcello bei Venedig, in der Kathedrale von S. Gimignano. Und in ein paar bestimmten Zügen ähneln sich diese Bilder erstaunlich: Im Fegfeuer und der Hölle zeigen sich neben einfachen Männern und Frauen ungeschminkt auch Päpste, Kaiser, Bischöfe und Edelleute. Das ist ungewöhnlich, wenn man bedenkt, dass all diese Darstellungen aus einer Zeit stammen, in der die Gesellschaft streng in ein Oben und Unten, ein Befehlen und Gehorchen eingeweiht war – kirchlich wie politisch. Dennoch konnten sich diese Bilder durchsetzen. Sie hatten das Evangelium hinter sich, z.B. das heutige. Man nahm ernst, dass manche von den Letzten die Ersten und manche von den Ersten Letzte sein werden.

II.
An dieser Aussicht befriedigt sich keineswegs die schadenfrohe Missgunst derer, die ihre irdischen Lebtage lang zu den Letzten, den Kleinen gehören. Vielmehr erinnert dieses Wort des Evangeliums daran, dass es keine Automatik gibt, die zur Seligkeit führt. Weder Amt noch Rang, den einer in der Kirche oder in der Gesellschaft einnehmen mag, macht, dass der Träger von selbst sein Leben so lebt, dass es einmal gültig sein kann vor Gott. Im Gegenteil: Gerade wer kraft seines Amtes dem Heiligen besonders nahe steht, wird sich auch besonders hüten müssen, sich nicht über das Heilige herzumachen. Er bedarf der Reue und Umkehr genauso wie der, der sich eher fernstehend dünkt – und vielleicht manchmal mehr als dieser. Nur wie einer persönlich sein Leben besteht, entscheidet darüber, wie er einmal vor Gott stehen wird. Dazu gehört auch beharrliches Bemühen. Menschen neigen gern zum Weg des geringsten Widerstandes, zum Sichs-Leicht-Machen. Das ist bequemer. Nach diesem Maßstab freilich ist das Gültigwerden des Lebens vor Gott so etwas wie der Durchgang durch eine enge Tür. Es verlangt Entschiedensein, Geradlinigkeit ab. Und manchmal gibt es die nur um den Preis, dass einer Vorteile drangibt, die er für den Moment hätte ergreifen können.
Das gilt natürlich nicht nur von den Amtsträgern, den Großen in den Augen der Menschen. In den Himmel kommt auch kein anderer von selbst. Es hilft nichts, sich darauf zu berufen: Wir haben doch mit dir gegessen und getrunken, und du hast auf unseren Straßen gelehrt. Oder auf unsere Verhältnisse gemünzt: Ich bin doch auch dabei gewesen. Getauft bin ich worden, zur Erstkommunion bin ich gegangen, Firmung war, kirchlich geheiratet hab’ ich sogar und die Oma anständig begraben lassen. Das alles ist recht. Aber es begründet keinen Anspruch. Vor allem: Es entlässt nicht aus der Pflicht, so zu leben, dass das, was ich so im Werktag tue und lasse, einigermaßen zusammengeht mit dem, was ich als Christ bekenne. Das ist manchmal nicht so einfach, wie es klingt. Darum redet das Evangelium von Mühe, die es kostet, Christ nicht nur zu heißen, sondern auch zu sein.

III.
Aber gleichzeitig ist das Evangelium von etwas überzeugt, was dazu gar nicht recht zu passen scheint: ... man wird von Osten und Westen und von Norden und Süden kommen und im Reich Gottes zu Tisch sitzen. Die Bilder vom Jüngsten Gericht in den Kirchen, von denen ich vorhin sprach, machen das dadurch sichtbar, dass auf ihnen im Himmel regelrecht ein Gedränge herrscht. Genauso, wie wir es hier im großen Gerichtsfresko unserer Pfarrkirche sehen: Kopf an Kopf warten Frauen und Männer, Große und Kleine, Alte und Kinder vor der Pforte des himmlischen Jerusalem, die gerade von den Engeln geöffnet wird – 12000 mal 12000, wie es in der Offenbarung des Johannes heißt, 144000 also, und das heißt so viel wie: unzählig viele.
So zu leben, dass, was einer vollbringt, vor Gott Bestand hat, ist trotz der Mühe, die es kostet, keineswegs Sache einer kleinen Elite bloß. Von Osten und Westen, Norden und Süden wird kommen, wer vor Gott bestand hat: Jeder Rasse und Kultur, jeden Berufs und jeden Bildungsstands werden die Vollendeten sein. Das ermutigt ungeheuer, denn es heißt: Nichts in der Welt kann es geben, was mich hinderte, mein Leben vor Gott gütig zu machen. Alles taugt, um ihm die Ehre zu geben. Viele Weise der Welt und Heilige der Kirchen haben gleich lautend schon gesagt, wie das geschieht: Nicht indem ich Großes suche und Spektakuläres wage, sondern indem ich hier und jetzt, da wo ich halt gerade stehe, das Meine tue. Den Glauben in die Perspektive der ersten Person Singular übersetzen – das ist die christliche Grundaufgabe, das, was man geistliches Leben nennt.
Den Grundsatz für alle solche existenzielle Glaubensübersetzung hat klarer als andere Johannes XXIII. schon in seiner Zeit als Seminarist Angelo Roncalli ins Tagebuch notiert. Unter dem Datum vom 16. 1. 1903 heißt es dort:
„Da ich immer wieder darauf gestoßen worden bin, ist mir eines klar geworden: wie falsch die Auffassung ist, die ich mir von der Heiligkeit, der ich nachstrebe, gebildet hatte. Bei meinen einzelnen Handlungen, meinen kleinen, sofort erkannten Verfehlungen stellte ich mir das Bild irgendeines Heiligen vor, den ich mir in allem, auch in kleinsten Dingen, nachzuahmen vornahm, genau wie ein Maler ein Bild von Raffael kopiert. Ich sagte mir immer: Wenn der hl. Aloisius in diesem Fall so oder so handeln würde, dann würde er nicht dieses oder jenes andere tun usw. So kam ich dahin, daß ich nie das erreichte, was ich mir eingebildet hatte tun zu können, und das beunruhigte mich. Es ist ein falsches System. Von der Tugend der Heiligen muß ich das Wesentliche und nicht das Zufällige übernehmen. Ich bin nicht der hl. Aloisius und muß mich nicht genau so heiligen, wie er es getan hat, sondern wie es mein anderes Wesen, mein Charakter, meine verschiedenen Lebensbedingungen verlangen. Ich muß nicht die kümmerliche und dürre Reproduktion eines wenn auch noch so vollendeten Typs sein. Gott will, daß wir dem Beispiel der Heiligen solcherart folgen, daß wir das Lebensmark ihrer Tugend uns zu eigen machen, es in unserem Blut umwandeln und unseren besonderen Anlagen und Umständen anpassen. Wenn der hl. Aloisius das wäre, was ich bin, würde er auf eine andere Weise heilig werden, als er es wurde.“
Anders gesagt: Nachfolge besteht nicht in Nachahmung. Und nur in der Subjektivität einer Übersetzung in die Ich-Perspektive der ersten Person kann Gnade wirksam werden. Heilige und Heiliger wird man immer nur im banalen Alltag. Mit weniger sollte sich eigentlich keine und keiner zufrieden geben. Das sind wir uns schuldig – und darum auch Gott.