Einladung nach innen

Neujahr C: Gal 4,4-7

I.
Ein neues Kalenderjahr hat zur vergangenen Mitternacht begonnen. Wir zählen die Jahre nach der Geburt Jesu. Juden und Muslime folgen seit je ihrer eigenen Zeitrechnung. Und im Grunde tun alle gläubigen Menschen aller Religionen etwas Ähnliches, um auszudrücken, dass alle Zeit und Dauer für sie aus Gottes Hand hervorgeht oder aus jenem Urgrund, der alles trägt. Dennoch erinnert diese Relativität der Jahreszahlen daran, dass sie und ihr Kommen und Gehen eigentlich gar nicht so wichtig sind. Was aber ist dann das Wichtige für uns?

II.
Verblüffenderweise gibt es ein Zeugnis aus dem 14. Jahrhundert, das auch mit dieser Frage nach dem wirklich Wichtigen zu tun hat und zugleich eine entschiedene Antwort gibt: Am Morgen des 26. April 1336 brach Francesco Petrarca, der größte Dichter der italienischen Frührenaissance, zu der Besteigung eines Berges, des knapp 2000 Meter hohen provencalischen Mont Ventoux, auf. Den Wunsch hatte Petrarca schon lange gehegt. Der Berg stand allgemein im Ruf, zwar nur mühselig zu besteigen zu sein, aber eine schier einzigartige Sicht ringsum zu bieten. Als Petrarca und seine Begleiter endlich den Gipfel erreichen, sind sie erschöpft und zugleich hingerissen von der Welt, die ihnen da zu Füßen liegt: Auf der einen Seite sehen sie weit nach Italien hinein, daneben leuchten die schneebedeckten Alpengipfel. Auf der anderen Seite bietet sich ihnen die Provinz von Lyon, der Golf von Marseille und das Rhonetal.
Doch dieser wunderbare Anblick ist Petrarca noch nicht genug. Er möchte – wie er im Rückblick schreibt – nicht nur den Leib, sondern auch die Seele ergötzen. So greift er dort auf dem Gipfel nach dem Buch, das er immer mit sich führt. Es sind die berühmten "Bekenntnisse" des Heiligen Augustinus. Er schlägt das Buch an einer zufälligen Stelle auf. Es ist eine Seite im zehnten Kapitel, und dort fällt sein Blick auf Zeilen, in denen steht: Und es gehen die Menschen, zu bestaunen die Gipfel der Berge und die ungeheuren Fluten des Meeres und die weit dahinfließenden Ströme und den Saum des Ozeans und die Kreisbahnen der Gestirne – und haben nicht acht ihrer Seele.
Petrarca ist wie betäubt von dieser Stelle. Er fühlt sich von den Zeilen im Innersten getroffen. Fast wird er unwillig über sich, dass er seine Blicke noch immer auf die irdische Pracht des grandiosen Anblicks richtet und dass er noch nicht erkannt hat, dass allein die Seele bewundernswert und groß sei. – Da beschied ich mich, so endet sein Bericht, genug von dem Berge gesehen zu haben, und wandte das innere Auge auf mich selbst, und von Stund an hat niemand mich reden hören, bis wir unten ankamen.

III.
Petrarca hatte das Großartige erleben, hatte einmal buchstäblich über den Wolken sein wollen. Und als er das wirklich erlebte, da wurde er darauf gestoßen, dass das wirkliche Große und Wesentliche ganz anderswo zu finden sei: in seiner eigenen Seele. Wir heute wollen noch immer nichts anderes als Petrarca, weil das menschlich ist: das Große, Grandiose zu begehren, mit dabei sein, wenn das Überwältigende passiert. Und die Werbung verspricht uns ja auch auf allen Kanälen den ultimativen Kick, gerade auch zu Gelegenheiten wie heute Nacht, dem Jahreswechsel. Aber ist Ihnen das auch schon passiert: Da wünscht man sich etwas, strebt danach, strengt sich an, dass man es gewinnt – endlich hat man es in der Hand. Und dann dieses eigenartige Gefühl, dass man eigentlich über das Erhoffte, Begehrte schon wieder hinaus ist – dieses wie aus dem Nichts aufkommende Enttäuschtsein, das sich beinahe verschämt vor einem selbst in die Worte drängt, ob es denn das schon gewesen sei.
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Um keinen Preis möchte ich den Eindruck erwecken, als gäbe es in dieser unserer Menschenwelt nichts Schönes, das unseres Bemühens wert wäre. Im Gegenteil. Aber nichts ist wohl dazu angetan, uns wirklich zu erfüllen. Dafür scheint das, was wir unsere Seele nennen, einfach zu groß. E Dio solo basta, sagte die Heilige Teresa von Avila dafür: Gott allein genügt; er nur ist groß genug, um die menschliche Seele zu befrieden. Ich weiß: Jener Gedanke Petrarcas und diese Antwort Teresas klingen heute wie von einem anderen Stern: Gott, die Seele, das Unendliche. Und doch: Ich frage mich, frage mich gar nicht so selten, ob es nicht genau die Frage nach diesen scheinbar so vorgestrigen Dingen ist, die viele unserer Zeitgenossen heimlich umtreibt, die es ansonsten weit von sich weisen würden, etwas mit Glaube, Gott oder gar der Kirche zu tun zu haben. Und ich frage mich natürlich auch, was denn an unserem christgläubigen, kirchlichen Reden von diesen großen Dingen nicht stimmt, dass so viele es oft wie einen schlechten Witz beiseite wischen.

IV.
Vielleicht liegt es einfach daran, dass die Christinnen und Christen selbst nur mehr oder weniger halbherzig mit den geistlichen Dingen umgehen. Es gehört ja in der Tat eine ganze Menge dazu, heute der Meinung zu sein, dass die wirklich wichtigen Dinge, auch die Abenteuer des Lebens, in der Seele geschehen – und nicht beim Erlebnis-Shopping, im Fitness-Center oder während der gefahrengespickten Surviving-, also Überlebenstour im Jahresurlaub. Und doch gehört genau jenes Wichtignehmen der Seele gleichsam zur Grundausstattung eines christlichen Lebens. Noli foras ire, redi in te ipsum, sagte Augustinus dafür: Geh nicht irgendwo hinaus auf der Suche nach deinem Ziel und Glück und Sinn, kehr ein in dir selbst, und dort wirst du finden, was du suchst: Dich selbst und in dir als deine innerste Mitte Gott. Einer, der gut 1200 Jahre nach Augustinus geboren wurde, durchaus in dessen Geist dachte und selbst zu den so großen wie streitbaren Geistern des christlichen Denkens gehört – Blaise Pascal – meinte genau das Gleiche, als er schrieb: Das größte Unglück des Menschen bestehe darin, dass er es kaum eine Stunde mit sich allein auf seinem Zimmer aushalte.

V.
Vielleicht wäre es gerade das, was wir Christinnen und Christen unseren so aufgeregten und oft gleichzeitig so frustrierten Zeitgenossen zu allererst zu bieten hätten: Eine Einladung nach innen. Freilich müssten wir dazu zuerst einmal selbst mit diesem Innen ernst machen. Wir müssten uns selbst speisen aus dem Gedächtnisspeicher der Kirche bezüglich der geistlichen Dinge, diesem unendlich reichen und untrüglichen Schatz, den die Heiligen, die christlichen Dichter und Denker in den letzten knapp 2000 Jahren zusammengetragen haben. Und genau das könnte unser wichtigster Beitrag für das nach unserer christlichen Zeitrechnung nächste Jahr und das noch so junge Jahrhundert sein: dass wir unbeirrt von anderen Stimmen das Innere und das Geistliche für ebenso wirklich halten wie all das, was man mit Händen greifen kann.
Mit Überheblichkeit und Elitetum hat das nicht im Geringsten zu tun. Im Gegenteil. Einer der Großen des geistlichen Lebens, der Mystiker Johannes Tauler, bringt das, was geistliches Leben meint, so auf den Punkt:
Das Pferd macht den Mist im Stalle,
und obgleich der Mist einen Unflat
und Stank an sich hat,
so zieht dasselbe Pferd
doch den Mist mit großer Mühe
auf das Feld,
und dann wächst daraus edler,
schöner Weizen
und der edle, süße Wein,
der nimmer so wüchse,
wäre der Mist nicht da.


Also trage deinen Mist –
Das sind deine eigenen Gebrechen,
die du nicht abtun
und ablegen noch überwinden kannst,
– mit Müh und mit Fleiß
auf den Acker
des liebreichen Willens Gottes
in rechter Gelassenheit deiner selbst.


Prosaisch gesagt: Geistliches, das wirklich geistlich ist, ist immer geerdet. Und genau das macht es so welthaltig, so wirklich. Ein geistlicher Mensch werde ich, wenn ich meine Stärken lebe und meine Schwächen geduldig und gelassen ertrage, weil Gott selbst noch aus ihnen Gutes zu wirken weiß. Vielleicht wäre es gut, wenn wir uns fürs neue Jahr nichts anderes und nicht mehr vornähmen, als auf diesem Weg des Geistlichwerdens einen kleinen Schritt nach innen zu tun.