Einüben ins absichtslose Beten

17. Sonntag C: Lk 11,1-13

I.
Im Sufismus, der Tradition islamischer Weisheit, gibt es seltsamerweise Legenden von Isa – das ist der muslimische Name für Jesus. Eine davon überliefert der Imam Al Ghasali. Sie erzählt, wie Isa einmal einige Menschen trübsinnig an einer Mauer sitzen sah. Er fragte sie: Was ist euer Kummer? – Sie antworteten: Durch unsere Angst vor der Hölle sind wir so geworden. – Er ging weiter und begegnete einer Gruppe von Menschen, die freudlos und untröstlich in seltsamen Körperhaltungen entlang einer Straße lagerten. Er sagte: Was ist euer Kummer? – Sie antworteten: Das Verlangen nach dem Paradies hat uns zu dem gemacht, was wir sind. – Er machte sich wieder auf den Weg und begegnete einer dritten Gruppe von Menschen. Sie wirkten, als ob sie schon viel durchgemacht hätten, aber ihre Gesichter leuchteten vor Freude. Isa fragte sie: Was hat euch so froh gemacht? – Und sie antworteten: Der Geist der Wahrheit. Wir haben die Wirklichkeit geschaut, und das ließ uns geringere Ziele vergessen. Und Isa sprach: Das sind die Menschen, die zur Vollendung gelangen.

II.
Eine seltsame geistliche Weisheit ist das, die unverblümt ausspricht, dass Angst vor der Hölle und nicht anders das Streben nach dem Paradies Menschen an die Wand drückt und dermaßen verbiegt, dass sie ihres Lebens nicht mehr froh werden können, vor lauter Gram wie gelähmt sind! Dem Unheil zu entkommen und das Glück zu gewinnen, ist ihre Absicht. Beides vergiftet ihr Leben, weil sie beides zu ihrem Zweck gemacht haben, weil sie das Tiefste und das Höchste einspannen wollen für sich, ihre Wünsche und Pläne. Und was haben die andern, die mit den leuchtenden Gesichtern, anders gemacht, dass sie so glücklich sind? Ganz einfach: Sie haben sich keine Zwecke gesetzt. Wir haben die Wirklichkeit geschaut, sagen sie: Absichtslos haben sie wahrgenommen, was ist, bereit, auf das zu lauschen, was ihnen die Geschichten ihres Lebens zu sagen haben. So haben sie sich dem Geist der Wahrheit geöffnet und gemerkt, dass der Reichtum ihres gelebten Lebens größer ist als das Vermeiden der Hölle und das Erringen des Paradieses. Dadurch beschreiten sie den Weg der Vollkommenheit. Seltsam nüchtern und undramatisch, ja geradezu diesseitig dünkt diese Weisheit vom Weg zum Glück. Und doch muss sie gerade Christinnen und Christen alles andere als fremd sein. Begegnen wir ihr doch buchstäblich Tag für Tag – immer dann nämlich, wenn wir das Vaterunser beten.

III.
Eines Tages sahen die Jünger Jesus beten. Als er geendet hatte, bittet ihn einer: Herr, lehre uns beten. Jesus folgt dieser Bitte und vertraut den Jüngern fünf Bitten an – fünf Bitten, wie sie unerwarteter nicht sein können, wenn einer gefragt wird, wie denn auf rechte Weise mit Gott zu sprechen sei. Wenn ihr betet, so sprecht: Vater, dein Name werde geheiligt. Ohne Einleitung, ohne Schnörkel unterwürfiger Annäherung, ohne vorherige Entschuldigung für die Belästigung einer Schauern machenden Majestät dürfen die Christen Gott als ihren „Vater“ anreden. Das aber heißt: Mit dem ersten Wort, mit dem Jesus die Seinen beten lehrt, nimmt er sie hinein in sein eigenes Verhältnis zu Gott – hinein in eine Vertrauensgemeinschaft, die durch nichts verstellt ist und die allein schon durch den Herzensfrieden, den sie schenkt, das ganze Glück einer Menschenseele ausmacht: Abba, lieber Vater, der du mich geschaffen hast und der du mich jetzt trägst. Und dann die erste Bitte; sie kann nur sprechen, wer mit seinem Beten keinen Zweck, keine Absicht in seinem Interesse verfolgt, sondern beglückt ist, dass Gott ihm Vater sein will: Dein Name werde geheiligt, das meint: Dir, deinem Namen, also dem Vater-Namen werde die Ehre gegeben. Weil du so für uns da bist, wie dieser Name besagt, darum sollst du allererst gelobt und soll dir Dank gesagt sein, dass alle Welt dich erkenne und dir singe. Weil du unser guter Vater bist, darum kann uns dein Lob wichtiger sein als die drängendsten Anliegen sogar, denn wir sind gewiss, dass unsere Anliegen und unsere Bitten darum, dass es gut ausgehe mit unserem Leben –, dass diese Bitten und ihre Erhörung schon aufgehoben sind in deinem Vatersein, aufgehoben oft anders als wir uns ausdenken, aber unwiderruflich und unvergessen aufbewahrt in Deiner Sympathie für uns.
Die zweite Bitte – Dein Reich komme – ist gleichsam nur noch ein selbstverständlicher Nachtrag zur ersten: Sie will, dass sich dieses ungestörte Vertrauensverhältnis zwischen Gott und Jesus und dann durch Jesus zwischen Gott und den Christen, die das Vaterunser beten –, dass das sich allüberall ausbreite in der Welt; dass jedem Menschen gegeben sei, an dem Glück dieser Geborgenheit teilzuhaben. Wieder also die Absichtslosigkeit, weil keiner etwas für sich allein erfleht, sondern an die anderen denkt, weil er sich selbst schon beschenkt weiß dadurch, dass er zu Gott „Vater“ sagen darf.
Umso überraschender muss uns freilich nun die dritte Bitte vorkommen, die Jesus uns lehrt: Gib uns täglich das Brot, das wir brauchen. Mitten in den geistlichen Gedanken an Gott und sein Reich ist auf einmal vom Essen die Rede. Und das ist fürwahr kein Zufall, sondern intensives, ja untrügliches Indiz für die Menschlichkeit des Evangeliums. Wir sind eben keine engelgleichen Geistwesen, die einzig von frommen Gedanken und Halleluja-Singen leben. Wir haben zur Seele auch einen Leib, der sein Recht fordert und mehr braucht als Luft und Liebe sogar: nämlich Brot. Bis in die Höchstform des christlichen Gottesdienstes hinein findet diese Menschlichkeit des Evangeliums ja ihren Widerhall: Genau im Punkt der Vollendung des Dankgebets der Eucharistie als dem Ausdruck unserer Hingabe an Gott, da gibt es für den dankenden Menschen zu essen: Brot und Wein, damit er mit allen Sinnen die überschwängliche Fürsorge Gottes erfahre. In der Brotbitte des Vaterunsers vertrauen die Christen also auch die Bedürfnisse ihrer Sinnlichkeit dem himmlischen Vater an: Gib uns täglich das Brot, das wir brauchen. Die Bitte geht wohlgemerkt auf ein Doppeltes: Gib uns das Brot, das wir brauchen – also nicht weniger, aber auch nicht mehr als uns gut tut. Der Herr weiß um unsere Angst gezeugte Versuchung, mehr Brot zu brauchen oder einfach zu horten als wir wirklich brauchen, um zu leben. Und solches geschieht immer dadurch, dass andere weniger haben als sie bräuchten. So lehrt uns Jesu Brotbitte unbeschadet unserer Bedürfnisse wieder jene Absichtslosigkeit, die es braucht, damit wir selber gegeneinander nicht hart und lieblos und ungerecht werden.
Nach der Brotbitte folgt die Bitte um Vergebung der Sünden. Sie kennen vielleicht jenes bitterböse, gleichwohl unbestreitbare Wort Brechts, dass zuerst das Fressen komme und dann die Moral. Erst der Mensch, der seiner elementaren Überlebenssorge ledig ist, kann ein feines Gespür dafür entwickeln, wo überall er Gott etwas – und meist viel – schuldig bleibt und darum um Vergebung bitten. Von welch ungeheurem Gewicht ist, was diese Bitte erhofft, kann freilich nur der ermessen, der selbst bereit ist, dem zu vergeben, der an ihm selbst schuldig geworden ist. Es braucht die menschliche Einübung des Verzeihens, damit einer Gott ehrlich um Vergebung bitten kann: Erlass uns unsere Sünden, denn – denn auch wir erlassen jedem, was er uns schuldig ist.
Und schließlich: Führe uns nicht in Versuchung! Unser Leben ist manchmal so kompliziert, so undurchschaubar; es kommt uns so unbegreiflich hart vor, dass wir sogar unsern Glauben verlieren möchten – und damit den Schatz, zu Gott Vater sagen und uns mit Leib und Seele der fürsorglichen Liebe Gottes anvertraut wissen zu dürfen. Davor bewahre uns! Wir müssen keine Hölle fürchten und kein Paradies unter Aufbietung aller Kräfte erkämpfen, solange du, Gott, lieber Vater, uns deine Spuren sehen, wenigstens ahnen lässt in den Windungen der Tage, die du uns schenkst. Lass uns deinen Namen Vater so ernst nehmen, dass wir uns an ihn klammern, auch dann noch, wenn wir uns im Treibsand unserer Lebtage gänzlich verlassen vorkommen. Das erfleht die Bitte, vor Versuchung bewahrt zu bleiben.

IV.
Jetzt sehen Sie: Gott, der gute Vater, am Anfang wie am Ende. Sein Name ist die Seele des Vaterunsers. Und jetzt können Sie auch verstehen, woher Jesus in den beiden Gleichnissen von dem um Brot bittenden Freund und vom Vater, der seinem Sohn niemals eine Schlange statt des erbetenen Fisches geben würde –, woraus er da seine unumstößliche Gewissheit zieht, dass Gott sein und unser Gebet des Vaterunsers unverbrüchlich erhören wird: Er wird es erhören, weil wer so betet, sich selbst Gott ganz anheim gibt mit Leib und Seele in dem Vertrauen, dass, wer wahrhaft Abba, lieber Vater heißt, uns niemals böse will, auch dann nicht, wenn unser Bittgebet unerhört scheint. Jedes Gebet, das sich an das Grundmuster des Vaterunsers hält wird – nein: ist erhört. Dass das wahr ist, können Sie selbst überprüfen: Vergleichen Sie doch von Zeit zu Zeit das, was Ihnen widerfahren ist, mit dem, worum Sie gebetet haben. Und wenn zwischen beidem ein Unterschied klafft, dann überlegen Sie, wie Sie hätten beten müssen, dass Ihr Gebet zu dem gepasst hätte, was Ihnen geschehen ist. Es wird immer ein Gebet sein nahe am Vaterunser. Darum haben wir so nötig, das Vaterunser wie hernach jeden Sonntag neu einzuüben und es jeden Tag zu beten.