Lob der Zufälligkeit
18. Sonntag C: Koh 1,2; 2,21-23 + Lk 12,13-21
I.
In der jüdischen Schriftauslegung – den sogenannten Talmud und Midrasch – wimmelt es von irritierenden Geschichten über das Geheimnis des Menschseins. Eine davon geht so: Es sagte Rabbi Schimon: Als der Heilige, gepriesen sei er, kam, um den ersten Menschen zu schaffen, da bildeten die Engel Gruppen und Parteien. Die einen davon sagten: Er werde erschaffen!, die anderen sagten: Er werde nicht erschaffen. Es heißt ja: Liebe und Wahrheit stießen aufeinander, Gerechtigkeit und Frieden bekämpften sich. Die Liebe sagt: Er werde erschaffen, denn er wird Liebeswerke vollbringen! Die Wahrheit sagt: Er werde nicht erschaffen, denn er ist ganz und gar Lüge! Die Gerechtigkeit sagt: Er werde erschaffen, denn er wird Werke der Nächstenliebe vollbringen! Der Friede sagt: Er werde nicht erschaffen, denn er wird ganz und gar streitsüchtig sein! Was tat der Heilige, gepriesen sei er? Er nahm die Wahrheit und warf sie auf die Erde. Da sagten die Engel vor dem Heiligen, gepriesen sei er: Herr der Welten, warum erniedrigst du sie, die über deinen Ordnungen steht?... Doch während die Engel noch disputierten, schuf der Heilige, gepriesen sei er, den Menschen. Und er sprach zu seinen Engeln: Was nützt euch euer Disputieren? Der Mensch ist bereits erschaffen.
II.
Natürlich hatten die vier Engel mit ihrem Dafür und Dawider recht, was das Geschöpf Mensch betrifft: Der Engel der Liebe wusste schon, dass dieses Gebilde aus Lehm – also Vergänglichkeit – und ewigem Gotteshauch Werke der Liebe vollbringen werde; der Engel der Wahrheit wusste aber auch, dass diese Kreatur zugleich ein Sack voll Lügen sein wird; der Engel der Gerechtigkeit wiederum sieht die menschlichen Werke der Solidarität voraus; der Engel des Friedens hält die Streitsucht dagegen, der der Mensch frönen wird. Das alles zusammen ist wahr – und trotzdem setzt sich der Schöpfer über dieses Patt von Soll und Haben zugunsten seines Geschöpfs hinweg; darum wirft er die Wahrheit auf die Erde hinab. Will sagen: Er riskiert gegen alle Theorie das Abenteuer Mensch.
III.
Das hat natürlich zur Folge, dass sich dieses Geschöpf Mensch seinerseits nicht theoretisch erfassen und von unverrückbaren Wesenswahrheiten her begreifen lässt. Genau davon redet unsere heutige Lesung aus dem Buch Kohelet, einem der seltsamsten und auch provozierendsten Stücke der ganzen Bibel. Schon die Einleitungssätze: Windhauch, Windhauch, alles ist Windhauch. Kann sein, dass einer sich plagt, Besitz erwirbt, Wissen, Können und Erfolg erlangt – und dann stirbt er, und ein anderer, der für all das keinen Finger gerührt hat, genießt die angehäuften Güter. Was also hat der Mensch von all seinem Gewerkel? Nichts. Genauso umgekehrt: Er macht sich Sorgen um dies und das, wälzt in schlafloser Nacht Probleme, ärgert sich über dies und das. Und was kommt heraus? Wieder nichts.
So geht das zwölf Kapitel lang und endet mit Sätzen, in denen sich der Autor des Kohelet-Buches gleichsam selbst ironisch auf den Arm nimmt. Er, der Autor einer Weisheitsschrift, schließt mit der Mahnung:
Im Übrigen... lass dich warnen! Es nimmt kein Ende mit dem vielen Bücherschreiben und viel Studieren ermüdet den Leib. Hast du alles gehört, so lautet der Schluss: Fürchte Gott und achte auf seine Gebote! Das allein hat jeder Mensch nötig.
Eigentlich müsste man den Kohelet für einen Schwarzseher und Weltverächter halten, wenn man all das liest, wenn es dann nicht auch Stellen in seinem Buch gäbe, die in ganz andere Richtung weisen und damit die Passagen der heutigen Lesung und auch den eben zitierten Schluss in ganz anderes Licht tauchen. Die schönste dieser Kontraststellen lautet:
Also: Iss freudig dein Brot, und trink vergnügt deinen Wein; denn das, was du tust, hat Gott längst so festgelegt, wie es ihm gefiel... Mit einer Frau, die du liebst, genieß das Leben alle Tage deines Lebens voll Windhauch, die er dir unter der Sonne geschenkt hat, alle deine Tage voll Windhauch. Denn das ist dein Anteil am Leben und an dem Besitz, für den du dich unter der Sonne anstrengst. Alles, was deine Hand, solange du Kraft hast, zu tun vorfindet, das tu! Denn es gibt weder Tun noch Rechnen noch Können noch Wissen in der Unterwelt, zu der du unterwegs bist.
Was geschieht da? Da spricht kein Kleinmütiger in seiner Resignation. Da singt einer vielmehr das Lob des Zufälligen! Das Lob des Zufälligen? Ja. Keiner von uns weiß um sein letztes Woher und Wohin, höchstens hoffen können wir diesbezüglich. Keiner weiß, wofür im Letzten gut ist, dass er sich um dies oder jenes plagt, und ob es nicht sinnvoller wäre, sich ein paar weniger Sorgen zu machen und manchmal die Hände im Schoß ruhen zu lassen. Aber umgekehrt heißt das auch: Ergreife, was dir zufällt, im buchstäblichen Sinn des Wortes: die Begegnung mit einem, die mich unverhofft weiterbringt, das gute Essen, mit dem mich jemand überrascht, jemand zu finden, der mich bezaubert und auch noch Freud und Leid mit mir teilen mag, der wunderschöne Sommermorgen, an dem ich eigentlich unfreiwillig unterwegs bin, weil ich einer Pflicht nachkomme, obwohl ich viel lieber hätte ausschlafen wollen, die gelungene Arbeit, für die ich die Anerkennung der anderen bekomme.
Natürlich: Aufs große Ganze gesehen ist das alles immer noch Windhauch: die Begegnung, mein Weiterkommen in einer Frage, das gute Essen, das bezaubernde Du auf Du, der Sommermorgen und das, was ich zusammengebracht habe. Aber genau dieses Große und Ganze ist eben gar nicht die mir angemessene Perspektive. Sie ist mir – wie man so sagt – eine, wahrscheinlich sogar mehrere Schuhnummern zu groß. Und ich brauche mir diesen Schuh auch gar nicht anzuziehen. Dafür, dass etwas in Ordnung, ja sogar wertvoll ist, reicht, dass es sich einigermaßen mit Gottes Gebot in Einklang befindet, mag es ansonsten so randständig und zufällig sein, wie es will. Das steht hinter dem Koheletbuch und seinem Zeugnis von der Kostbarkeit des Zufälligen. Warum es so etwas wirklich geben kann, das deutet unsere Geschichte vom Anfang an: Weil Gott selbst sich bei seiner Schöpfung aus so etwas Fragiles – und, ja: auch Widersprüchliches – wie den Menschen eingelassen, ihn riskiert hat, darum muss der selbst nicht in einer Tour aufs Wesentliche und Ewige trachten (er vermag ohnehin nicht zu wissen, was beides wirklich meint). Es reicht, wenn er – der Mensch – in Tuchfühlung zu seinem Gott seiner Gänge geht und nicht übersieht, wie viel Spuren seiner Zuneigung dieser Gott ihm tagtäglich legt – manchmal sogar noch inmitten des Schweren, das es zu bestehen gilt.
IV.
Im Christlichen blieb diese Weisheit vom Schatz des Zufälligen ungebrochen lebendig, wenngleich sie im Gang der jüngeren Geschichte und besonders gegenwärtig besonders vergessen scheint. Schon Jesu Gleichnis aus dem heutigen Evangelium vom reichen Mann, dem auch noch eine reiche Ernte zufällt, handelt davon. Hätte der nicht versucht, durch den Bau größerer Scheunen aus der Superernte etwas zu machen, was ihn für lange sichert – hätte er statt dessen seinen unglaublichen Überschuss verschenkt, er wäre, um es drastisch zu sagen, einer der Helden des Evangeliums geworden. Dass er vor lauter Getreidesäcken seine eigene Endlichkeit vergisst, das macht ihn laut Gleichnis zum Narr, was in biblischer Redeweise soviel heißt wie: zum Atheisten. Was umgekehrt bedeutet: Nur wer seine eigene Endlichkeit nicht vergisst und entsprechend umgeht mit dem, was ihm oder ihr unverhofft zufällt, sammelt Schätze vor Gott. Am rechten Umgang mit dem Zufälligen entscheidet sich unser Stehen und Bestehen vor dem Ewigen.
V.
Die größte Versuchung bei dieser geistlichen Aufgabe wird immer darin bestehen, dass wir sie von vornherein zu groß, zu erhaben ansetzen. Johannes Chrysostomus, ein berühmter Theologe und Prediger des vierten Jahrhunderts, sagte in einer seiner Predigten: Wie gut Gott es mit uns Menschen meine, lasse sich daran ermessen, dass er uns auch nach dem Sündenfall mehrfach Zeichen seiner Güte belassen habe: Die Blumenpracht, die Liebe und den Sternenhimmel. Gut 900 Jahre später kommentierte der nicht minder große Hl. Thomas von Aquin besagte Chrysostomus-Stelle mit den lapidaren Worten: Johannes hat schon recht mit den Blumen, der Liebe und den Sternen. Aber den Wein und den Käse, die hat er vergessen. Vielleicht wäre gut, all die Genannten von Kohelet bis Thomas zu unseren Lehrern dafür werden zu lassen, warum das Zufällige und Beiläufige im Leben geistlich besonders wichtig sein kann. Und vielleicht sind gerade die Ferientage jetzt besonders geeignet, das Gespür dafür wiederzufinden.