Von der Würde und der Heimat

6. Ostersonntag C: Joh 14,23-29 + Offb 21,10-14.22-23

Zu den beeindruckendsten Dichtern des 20. Jahrhunderts gehört für mich Julien Green, der beinahe so alt geworden ist wie sein Saeculum. Green, gebürtiger Amerikaner, kam jung nach Paris und blieb für immer dort. Mit 16 Jahren wurde er katholischer Christ. Seine Werke, gut zwei Dutzend, haben - so verschieden sie sind - ein einziges Thema: Sünde und Gnade - das Drama des Lebens. Man sagt, höchstens ein anderer Dichter habe sich noch leidenschaftlicher, tiefer, qualvoller ins Religiöse und Philosophische vorgewagt: Kafka. In einer seiner Tagebücher schreibt Green einmal den Satz: Ich glaube, würde ein wahrer Christ vor mir auftauchen, ich fühlte mich versucht, mich vor ihm auf die Knie zu werfen.

II.

Geht´s auch etwas weniger dramatisch?, fragen Sie jetzt vielleicht – diese kühne Tonlage! Und ich antworte Ihnen: Nein, eigentlich nicht. Green hat Grund, so zu reden. Den gibt ihm das Evangelium. Das, das wir heute gehört haben. Wenn jemand mich liebt, sagt Jesus, wird er an meinem Wort festhalten; mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und bei ihm wohnen. Jesus und durch ihn auch Gott wohnen dem Menschen inne, sind in ihm gegenwärtig. Kein Grund, vor ihm in die Knie zu sinken? Die Bedingung dafür aber, dass Gott so in einem Menschen sich vergegenwärtigt, die ist unzweideutig: Wenn einer mich liebt. Jesus lieben - keine fromme Anwandlung, sondern: Ihn lieben besteht darin, sein Wort festzuhalten. Dabei freilich geht es nicht um Lehren und Lehrsätze. Das Johannesevangelium, das eben so spricht, nennt ja nicht zufällig gleich ganz am Anfang Jesus selbst ho logos, das Wort - das Wort, das von Gott kommt. Festhalten an ihm, an dem, was er sagt und dem, was er tat und war - das heißt: ihn lieben. Darunter geht´s nicht. Und es ist anspruchsvoll.

Bedenken Sie: Was Jesus war, wofür er steht, das hat seinen schlechthinnigen Ausdruck in der Fußwaschung gefunden. So miteinander umzugehen, wie er es durch diese Geste versinnbildet, das heißt: Jesus lieben. Und darum auch: den Vater - also Gott vergegenwärtigen. Gott besteht für uns darin, dass wir einander zu Diensten sind. So begegnet er uns. Und begegnet dadurch, dass wir Jesus lieben. Logisch dann auch, dass Jesus nicht lieben so viel heißt wie: an seinem Wort - an dem, was er ist, nicht festhalten. Aber das sagt er eigens, weil er die Gefahr kennt, dass wir es mit Lippenbekenntnissen gut sein lassen, also uns als Christen bekennen, ohne zu sein, was diesen Namen erst erfüllt. Und darin Gott selbst Lügen strafen, indem wir behaupten, er sei dort, wo er gar nicht ist und nicht sein kann.

III.

Wenn Gott ist, wo ein Mensch Jesus liebt - wie geschieht das, seit Jesus nicht mehr da ist, seit Ostern also, bei uns? Das sagt uns Jesus so: Der Beistand, der Heilige Geist, wird euch alles lehren und euch an alles erinnern. Was er - Jesus - war, wird dort gegenwärtig, wo Menschen sich in seinem Namen versammeln. Und wo sie das tun, in jeder Gemeinde z.B., aber auch anderswo, in einer Altenheimkapelle, der Mehrzweckhalle einer Justizvollzugsanstalt etwa, überall, wo das Wort verkündet und das Brot gebrochen wird, da lehrt sie der Geist. D.h.: Alles, was Menschen, die sich im Namen Jesu treffen, überlegen, was sie untereinander austauschen und miteinander tun, verwirklicht, was Jesus tat und wollte. Und darin besteht das Lehren des Geistes - dass sie, wo immer sie stehen, Jesu Wort - was er sagte und tat - neu durchbuchstabieren und so festhalten an ihm. Und er, der Geist, erinnert sie an alles, was Jesus war, und lässt sie nichts vergessen, was wichtig gewesen ist.

Indem wir einander durch unser Glaubenszeugnis - z.B. auch durch die Mitfeier des Sonntags - an Jesus erinnern, erinnert uns der Geist. Das müssen wir wörtlich nehmen. Weil es dieses einander Erinnern und Belehren durch das Glaubenszeugnis gibt, bleibt Jesus gegenwärtig. Jede, jeder von Ihnen ist im Glauben Schüler und Lehrer. Jede, jeder hat viel zu lernen, aber auch etwas zu lehren aus seiner persönlichen Lebens- und Glaubensgeschichte. Ich habe von manchem und mancher schon gelernt, die keine Theologen waren und keine Bücher geschrieben hatten. Und gewiss nicht Unwichtiges. Dass ich dem einen und der anderen von Ihnen umgekehrt auch etwas zu lehren habe als Christ und Seelsorger und Theologe, das zu hoffen, ist keine Anmaßung - ist es doch der eine und selbe Geist, der versprochene Beistand, der beides tut, in Ihnen für mich, in mir für Sie. Durch dieses gegenseitige Schüler- und Lehrersein geschieht Gegenwart Jesu, sein Bei-uns-Bleiben nach Ostern.

IV.

Ob das alles Flausen sind oder ob es wahr ist, können sie selber prüfen. Jesus gibt uns den Maßstab für diese Prüfung dazu: Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Wo er selber gegenwärtig ist, stellt sich ein, was wir nirgends in der Welt wirklich finden, aber dringlicher als alles andere suchen: Dass wir innerlichst zur Ruhe kommen; dass uns nichts mehr Angst macht. Wer sich mit Jesus so verbindet, dass das ein Ihn-Lieben heißen kann, der weiß - ja weiß! - sich dadurch in Gott so geborgen, dass ihm nichts mehr Bangen macht. In solchem Frieden der Seele, der sich wie von selber fortsetzt in einem menschlichen Miteinander mit denen, die einem begegnen, - in solchem Frieden ist Jesus da, obwohl er am Karfreitag fortging. Die eigene Seele sagt uns: Er hat uns nicht verlassen. Und er bleibt. Und sein Dasein in dir, in mir - ist unsere Würde.

V.

Diese Erfahrung angstbefreiten Lebens, wie die Jünger sie zu Ostern haben machen dürfen, die bleibt, wenn sie einmal eingetreten ist. Das eben ist es ja, was Gott durch Jesus hat wirken wollen und auch gewirkt hat: dass Menschen - getroffen vom Geschick des gekreuzigten Auferstandenen - eine Veränderung ihres Lebensganges wagen: dass sie loskommen von dem Wahn, sich selber ihr Dasein garantieren zu müssen und - so befreit - Gott wieder als Gott anerkennen und anbeten können als den, der ihnen ihr Leben gratis schenkt. Und dass sie in der Folge davon nicht mehr meinen, nur die Abschottung gegen alle anderen könne ihr Lebenshaus zusammenhalten, sondern dass sie - befreit davon - anderen teilgeben an Freude und Leid des eigenen und teilnehmen an Freude und Leid anderen Lebens. Das alles zusammen ist ja jener österliche Friede, der aufleben lässt, - dieses Gegenteil der Angst, vor ungestilltem Lebenshunger umzukommen. Diesen Frieden hinterlässt der Herr allen, die sich einlassen auf sein Ostern.

Dieser österliche Neuanfang freilich kann - wenn denn etwas daran sein soll - kein Ding, kein Etwas jenseits unseres gelebten Lebens sein. Er muss mitten darin geschehen. Unser irdisches Leben ist sein Resonanzboden, auf dem sich der Neuanfang allererst ereignen und bewahrheiten kann. Das ist gleichsam die innere Bedingung für das österlich Neue. Jesus sagt das auch ganz unmissverständlich - aber: nicht als moralische Forderung, sondern in einem geradezu intim getönten, persönlichen Ruf: Wenn jemand mich liebt, wird er an meinem Wort festhalten. An seinem Wort - an dem, was er predigend und handelnd kundtat, - daran hält fest, wer ihn liebt. Das, was er brachte - den Osterfrieden nämlich - bewahrt und dem bleibt treu, wer ihm, ihm persönlich, sich anvertraut und liebend übereignet. Ostern für uns ist die Folge der persönlichen Liebe von Menschen zu Jesus. Und weil eben diese Liebe ihre Vollgestalt in der Geste der Fußwaschung hat, heißt Jesus lieben: an seinem dienenden Dasein für die anderen auf seine Weise teilnehmen. Darin wurzelt der neue Anfang und deshalb unser endgültiges Leben. Ohne das gibt es kein Ostern. Wer mich nicht liebt, hält an meinem Wort nicht fest. Das steht nicht umsonst noch einmal da. Und es steht da, weil es dabei nicht um etwas, sondern um alles geht, denn - so fährt Jesus fort: wer mich liebt und so an meinem Wort festhält, den wird auch mein Vater lieben, und wir werden zu ihm kommen und bei ihm Wohnung nehmen. Das bedeutet: wer sich der Praxis Jesu anschließt, der wird in dessen unverstelltes Gottesverhältnis miteinbezogen. Gott selber schenkt sich ihm; ja, er kann sich ihm endlich schenken, weil sich ihm in diesem Menschen nichts mehr entgegenstellt, der sich mit Jesus ganz zusammentut. Die praxisgewordene Liebe zu Jesus macht ein Menschenleben samt seiner Endlichkeit, samt seinen Grenzen, samt - ja manchmal gerade in seiner menschlichen Ohnmacht - zum Ort der Gegenwart Gottes. Wohnung Gottes mitten in der Welt - nichts weniger als das wäre der unverwechselbare Wesenszug jeder christlichen Gemeinde. Das darf sie nach dem Fortgehen Jesu sein, wenn sie - durch ihr gelebtes Leben das Evangelium weitererzählend - ihren Ursprung gegenwärtig hält.

VI.

Durch die Teilnahme an der Praxis Jesu Gottes Wohnung in der Welt sein können – denken Christen und Christinnen eigentlich daran, dass der Evangelist das wörtlich gemeint haben könnte? Gemeinde als der Ort, wo mitten im engen Geviert der Menschenwelt wenigstens in Zeichen jenes Unwahrscheinliche aufleuchtet, was sich nicht mehr menschlichem Planen und Vermögen verdankt? Wenn sich aus einem letzten, nicht mehr sicherbaren Vertrauen von Menschen auf ihren Herrn irgendwo Hass in Vergebung wandelt, Gleichgültigkeit in Sympathie, öde Pflicht in stille Freude, Resignation in schöpferischen Protest, böse Tage der Krankheit in Zeit, für die einer auf einmal dankbar sein möchte, Befangenheit in mutigen Gebrauch der Freiheit, überall da haben Menschen etwas erfahren dürfen von dem, was der Herr uns bei seinem Fortgehen hinterlassen hat. Überall da haben Men-schen an Jesu Wort festgehalten, indem sie es wagten, in die Bewegung seines Lebens miteinzugehen.

Denken wir uns dabei die möglichen Folgen solcher Teilnahme an der Praxis Jesu nicht zu kleinkariert. Denn wir wissen ja gar nicht im vorhinein, was alles möglich wäre, wenn sich die Einzelnen, wenn sich unsere Gemeinde, wenn sich die ganze Kirche auf dieses Wagnis einließe. Genau das meint ja der Herr, wenn er uns zusagt: Der Beistand, der Heilige Geist, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe. Das bedeutet: Was alles in meinem Wort - in der frohen Botschaft - beschlossen liegt, was da alles mitgemeint ist in diesem österlichen "Der Friede sei mit euch!" - das wird in seinem ganzen Umfang erst offenbar im Gesamt der Zeit zwischen dem Fortgehen Jesu und dem Ende der Geschichte - also jetzt und jeden Tag mehr. - Dass Menschen sich - oft wider alles Erwarten und überraschend für sie selbst - bekehren, Gott mit brennendem Herzen suchen und dann in der Tonart ihrer Lebensweise verkünden, eben dadurch wird immer neu an alles erinnert, was Jesus, der Herr, gesagt hat. So wird sein Wort gegenwärtig gehalten. Und dadurch, daß wir es wagen, die Situation unseres Werktags, die Sackgasse genauso wie die Hochzeiten mit Gott zusammenbringen und so gleichsam von seiner Warte aus deuten und entscheiden, - eben dadurch fingen wir an zu lernen, welche Lebensmacht uns in der Frohen Botschaft eröffnet ist – wieviel Ungeahntes im Dasein jedes Einzelnen wie im Leben der ganzen Gemeinde noch ungehoben verborgen liegt. Wir bräuchten nur unseren eigenen Standpunkt nicht mehr für den Nabel der Welt zu halten, nicht mehr gar so sehr Realisten zu sein und ein wenig mehr Vertrauen zu setzen in jenes unbezwingbare Sehnen - "Heiliger Geist" nennen wir es -, jenes Sehnen, das uns immer wieder Unwahrscheinliches hoffen und wagen lässt. Suchen denn unsere menschlichen Utopien im Kleinen und im Großen etwas, das über jene Unwahrscheinlichkeit hinausragt, die Gott selbst in der Auferstehung Jesu als Maßstab dafür aufrichtet, was wir von ihm erwarten dürfen? Und warum begegnet denn gegen Ende der Bibel das Bild des neuen Jerusalem, jener utopischen Stadt, deren Mauern so gut wie aus lauter Toren bestehen und die keine Leuchte und nicht einmal mehr einen Tempel, einen ausgegrenzten heiligen Bezirk braucht, weil Gottes entgrenzte Gegenwart sie durchwirkt und hell macht? Darauf will es hinaus mit uns!

Der Heilige Geist wird wohl da seine Kirche noch viel, viel lehren müssen, bis sie endlich groß genug von ihm denkt. Christwerden beginnt damit, in eben diesen Lernprozess mit einzutreten: jede und jeder, wo sie können, jede und jeder, wie sie können, jede und jeder mit ihrem Ureigenen, bis wir daheim sind, wo wir hingehören.