Wer Du bist
Christi Himmelfahrt C: Lk 24,46-53
I.
Was und wer ein Mensch war, wird immer erst dann wirklich klar, wenn er nicht mehr ist. Die Hinterlassenschaft, die Spuren eines gelebten Lebens nach seinem Ende erst lassen uns verstehen, wenigstens erahnen, was einer gewollt, was er gesucht hat – wer er gewesen ist. Schon sechsundzwanzig Jahrhunderte vor Christus hatten die alten Ägypter ein Sinnbild gefunden, das ihnen auszudrücken vermochte, wie der Tod nicht nur offenbar macht, wer der oder die war, sondern was der Mensch überhaupt ist: Wenn sie den Leib eines Verstorbenen zur letzten Ruhe betteten, so legten sie ihn auf eine Bahre, die in Gestalt zweier Panther geschnitzt war. Panther sind Raubtiere. Sie stehen für den Schmerz des Sterbens. Niemals gibt es Tod ohne Leid – er ist und bleibt ein Gefressenwerden, eine Ver-Nichtung im buchstäblichen Sinn. Aber: Die Panther haben ein geflecktes Fell, das in seiner eigenartigen Hell-Dunkel-Zeichnung an den sternenübersäten Nachthimmel erinnert. Wer gestorben ist, will das bedeuten, ist nur noch mit seiner sterblichen Hülle auf Erden. Seinem Wesen, seinem Menschsein nach aber birgt ihn der Schoß des Himmels, wie einen der nie erlöschenden Sterne. – Das bist du, Mensch.
II.
Darf es uns wundern, dass das Evangelium auf ähnliche Weise zu sprechen beginnt, wenn es vom Geheimnis dessen erzählt, der nach seiner Überzeugung der Mensch schlechthin war; der, der ganz von Gott kam, um uns Menschenkinder, seine Geschwister zu lehren, was Menschsein heißt, damit alle anfangen, ganz Kinder Gottes zu sein, wie er das Kind Gottes schlechthin, der Sohn, ist? Wird nicht in seinem Sterben jener Wesenskern des Menschseins – in die Ewigkeit zu gehören – besonders eindeutig zutage treten?
Genau darum weiß das Evangelium, dass zum Karfreitag und zum Ostermorgen auch eine Himmelfahrt gehört. Jesu Sterben ist nicht Untergang, sondern ein – wörtlich genommen – Aufgehobensein bei Gott für immer. Die, die noch auf Erden leben, können gar nicht anders, als dieses Aufgehobenwerden eines anderen als Fortgang, als Entrückung zu erleben. Und so beschreibt das Evangelium auch, was mit Jesus geschah. Aber es sagt uns auch dazu, dass dieses Aufgehobenwerden Jesu – sein Fortgehen – keine Trennung schafft zwischen ihm und den Jüngern, ja, dass gerade durch das Fortgehen eine sichtbare und greifbare Brücke zwischen ihm und ihnen entsteht.
III.
Darum beginnt unser Evangelium von der Himmelfahrt mit einem Hinweis auf die Heilige Schrift des Alten Testaments, in dem ja nach dem durchgängigen Zeugnis aller einschlägigen neutestamentlichen Passagen das Ostergeheimnis bereits niedergeschrieben steht. Dort steht: Der Messias wird leiden, am dritten Tag von den Toten auferstehen und – auch das steht dort – allen Völkern wird man in seinem Namen Umkehr zur Vergebung der Sünden predigen. Das, was schon geschehen ist, und das, was noch geschehen wird in der Geschichte Gottes mit den Menschen, Vergangenheit und Zukunft der Absichten Gottes, sind damit benannt.
Und die Gegenwart? Die ist der Ort der Jünger: Ihr seid Zeugen dafür! Zeugen für das Geschehene dadurch, dass sie die Erinnerung an Jesus wach halten; und Zeugen für das Kommende, indem sie als Verkünder zu allen Völkern weitertragen, dass seit Jesus die Dinge zwischen Gott und Welt wieder ins Lot kommen: dass für alle Gott Gott ist und jeder Mensch Mensch – so wie Gott alles am Anfang gedacht hat. Denn das ist der Wille Gottes, und das ist das eine Ziel, das dieser Wille hat: Himmel und Erde, Gott und Mensch wieder zu versöhnen, indem alles Trennende dazwischen verwunden wird in der Macht der vergebenden Liebe.
Diesen unerschütterlichen Willen Gottes sollen jetzt die Jünger, die Freude Jesu, die dieses Angebot Gottes als erste ergriffen haben, in Welt und Geschichte hinein weitertragen. Sie sollen verkünden und bezeugen, was Jesus durch Gott getan hat und für alle übrig hat. Und sie sollen das auf Gottes Weise tun, wie sie es durch Jesu Art an sich erfahren haben und wie Paulus es auf einmalige Weise in einem Satz des 2. Korintherbriefes zum Ausdruck brachte, einem Satz, der den ganzen Sinn allen kirchlichen Amtes zusammenfasst: Wir bitten an Christi statt: Lasst euch mit Gott versöhnen. Gott – ein Gott, der nicht sich bitten lässt, sondern durch sein Liebstes, seinen Sohn, bittet – seine Geschöpfe, uns! – , seine ausgestreckte Hand der Versöhnung möge nicht ins Leere gestreckt bleiben. Eben das haben die Jünger zu bezeugen durch die Weise, wie sie selbst von Gott und seinem Christus künden; daran muss sich darum auch alles kirchliche Reden messen lassen. Jede Predigt, jede amtliche Verlautbarung, in der nicht auch noch im Ernsten ihres Anliegens wenigstens ein Hauch dieser zuvorkommenden Güte spürbar wäre, hätte sich buchstäblich im Ton vergriffen und ihre Sache verfehlt.
Indem sie dieses Zeugenamt übernehmen, gehören die Jünger selbst in die große Geschichte Gottes mit seinen Geschöpfen hinein, jene Geschichte, deren roter Faden und Sinnspitze zugleich das Kommen, Leben und Geschick Jesu sind. Und eben dadurch bleiben sie ihm – diesen Jesus – verbunden, obwohl, nein: gerade dadurch, dass er fortgeht. Indem sie Zeugen werden, treten sie ja an seine Stelle, stellen sich also auf seinen Weg, den Weg, der sein letztes Ziel in der Himmelfahrt hat. So fangen sie an, in Einklang mit ihrem innersten Geheimnis als Menschen zu leben – dem Geheimnis, als vergängliches, zerbrechliches Wesen für immer aufgehoben zu sein bei Gott. In jeder Feier der Eucharistie werden wir übrigens eben daran ausdrücklich erinnert, wenn wir den Eröffnungsdialog des Hochgebetes miteinander singen: Der Herr sei mit euch. – Und mit deinem Geiste. – Erhebet die Herzen, lateinisch: Sursum corda, also: die Herzen empor. – Wir haben sie beim Herrn: Da treten wir ein in die Bewegung der Himmelfahrt des Herrn, auf die wir mitgenommen sind.
IV.
Und am Ende hebt Jesus die Hände und segnet die Seinen und segnend geht er fort. Mit seinem Aufgehobenwerden bei Gott ist alles gut. Für ihn. Und für die Jünger – also auch uns. Anders gesagt: Für Lukas sind Himmelfahrt und Segensgeste eins. Im Segnen geht er – und bleibt zugleich da. Denn der Segen verbindet den Segnenden und die Gesegneten auf engst mögliche Weise, geradezu unzerreißbar. So wie Eltern ihren Kindern oder Partner einander ein Kreuz auf die Stirn zeichnen, wenn einer weggeht und damit zum Ausdruck bringen: Du bist Gott anvertraut. Er behütet dich und wir werden uns wieder sehen. Bedenken Sie: Dieses "Wir werden uns wieder sehen" - das stimmte sogar, wenn der eine oder der andere tatsächlich nicht wiederkäme, weil ihm etwas zugestoßen wäre. Sie werden sich ja unverfehlbar wieder sehen – bei Gott.
V.
Auf eben diese Weise geht auch Jesus von den Seinen. In seinem Segen ist alles zusammengefasst, was er gesagt, gebracht, gewollt hat. Jesus wollte sein und war ein einziger Segen für die, die sich ihm öffneten. Darum ist sein Vermächtnis einfach ein Segen. Die Jünger verstanden das; darum heißt es, dass sie mit großer Freude nach Jerusalem zurückkehrten, obwohl sie gerade Abschied genommen hatten von Jesus.
Und noch eines hatten die Jünger verstanden: Jesus hatte ihnen ja aufgetragen, Zeugnis von ihm und für ihn zu geben. Wenn er für sie Segen war, dann kann dieses Zeugnis in nichts anderem bestehen als darin, dass sie selber für andere zum Segen werden. Gerade so, wie – nicht zufällig erzählt Lukas die Himmelfahrt ja wie das Endes eines Gottesdienstes: Die letzten Worte des Priesters, dann der Segen, und dann gehen die Gläubigen wieder in ihr Leben und in den Alltag hinein – als Gesegnete, also mit der Zusage, auch dort mit Gott verbunden zu sein und darum auch dort seinen Willen tun, also am Werk der Versöhnung mitwirken zu können.
Segen sein und Segen wirken macht darum das Wesen der Kirche aus, im großen wie im kleinen. Und da wir als Getaufte nicht einfach in der Kirche sind, sondern Kirche sind, ist ebendies auch der Lebensauftrag jeder und jedes einzelnen seit der Himmelfahrt: Dass wir einander ein Segen sind.