Salomo lehrt unterscheiden
Kirchweihfest der Dominikanerkirche: 1 Kön 8,22-23. 27-30
I.
Einer der großen Moraltheologen des 20. Jahrhunderts, Pater Bernhard Häring, erzählt in seinen Lebenserinnerungen folgende Begebenheit aus seiner Jugend: Als er 14 Jahre alt war – 1926 – entband seine älteste Schwester in einer Frühgeburt Zwillinge. Das erste der beiden Kinder kam gerade noch lebend zur Welt, konnte notgetauft werden und starb. Das zweite wurde tot geboren. Der Ortspfarrer in dem bayerischen Dorf bestand darauf, dass nur das getaufte Kind auf dem geweihten Friedhof beerdigt wurde, das ungetaufte außerhalb der Friedhofsmauer.
II.
Solch erschütternde Fühllosigkeit entstammte nicht bloß dem bornierten Starrkopf eines überdurchschnittlichen tumben Dorfpfarrers. Es ist schier unglaublich, aber wahr: Vor noch nicht einmal 50 Jahren, in der Vorbereitungsphase des II. Vatikanischen Konzils, waren römische Kurienbehörden fest entschlossen, durch das Konzil der Welt verkünden zu lassen, dass alle ungeborenen und geborenen, aber ohne Taufe verstorbenen Kinder vom ewigen Heil ausgeschlossen seien, wenn sie auch keine Folterstrafen zu erwarten hätten. Ein paar wachsame Theologen haben diesen Irrsinn verhindern können. Solche Absurditäten gehen aber nicht einfach nur zu Lasten menschlicher Dummheit. Sie entstammen – und das macht sie so gefährlich –, sie entstammen der Anmaßung, über das Innerste Gottes begreifend zu verfügen. Oder anders: Sie entstammen der Verwechslung zwischen Gott selbst und den aus verschiedenen Gründen verzerrten Bildern, die wir uns von ihm machen.
Das hat es halt früher manchmal gegeben, meinen Sie? Weit gefehlt: Als vor ein paar Jahren bei einem mittlerweile berüchtigten Theologenkongress in Rom von allerhöchster Seite glattweg behauptet wurde, die Nichtbefolgung der von der Enzyklika "Humanae Vitae" verlangten Weise der Familienplanung stelle – so wörtlich – einen Anschlag auf die Heiligkeit Gottes dar, da war es schon wieder einmal soweit.
III.
Dabei hätten wir es gar nicht so schwer, den nötigen Unterschied zu wahren zwischen Gott und dem, was wir über ihn zu denken versuchen. Kein Geringerer als der für seine gottgeschenkte Weisheit sprichwörtlich bekannte König Salomo hilft uns nämlich dabei. Und noch dazu tut er das auf eine Weise, die dem Gewicht der Sache wahrhaft angemessen ist.
Salomos Vater David hatte den Plan gefasst, in der Königsstadt des Volkes Israel dem rettenden und befreienden Gott ein Haus zu bauen. Auf Gottes Geheiß durch den Mund des Propheten Nathan darf David aber nur die Vorbereitungen treffen. Er hat zu viel Blut an den Händen, als dass er dem dreimal Heiligen, gelobt sei er, ein würdiges Haus errichten könnte. Erst sein Sohn Salomo wird das Werk ausführen. Wunderbarer und großartiger als je sonst wo wird das Heiligtum errichtet. Seitenweise schwelgt das Alte Testament in der Beschreibung dieses Bauwerks aus Zedernholz, Marmor und gleißendem Gold. Nach 46 Jahren Bauzeit ist es endlich so weit. Der Tempel wird eingeweiht – die heutige erste Lesung erzählt davon. Sie ist unserer ganzen Aufmerksamkeit wert, denn schon die Art und Weise, in der die Tempelweihe geschieht, ist bedeutsam:
Die Weihe erfolgt nämlich nicht durch die Unterzeichnung einer Urkunde, nicht durch eine feierliche Deklaration, auch nicht durch majestätische Riten, ein levitiertes Hochamt sozusagen mit Monsignori, Kapitularen, Prälaten, Protonotaren und sonstiger Klerusfolklore, sondern ganz einfach: durch ein Gebet. Aber was für eines! Salomo betet: Herr, Gott Israels, im Himmel oben und auf der Erde unten gibt es keinen Gott, der so wie du Bund und Huld seinen Knechten bewahrt, die mit ungeteiltem Herzen vor ihm leben. Das Allererste in des Menschen Umgang mit seinem Gott ist also – Erinnerung: Erinnerung an das, was Gott von sich aus seinen Geschöpfen an Zuwendung und Treue erweist. Gottes Initiative ist das Erste; alles, was Menschen auf Gott hin tun, alle Religion also, bezieht ihren Sinn und ihre Wahrheit daraus, dass sie Antwort ist auf Gottes aus Liebe zuvorkommende Anrede an uns. Wo das nicht ins Vergessen fällt, wird man kaum die menschliche Frage nach der Reichweite der Gnade auf dem Rücken gestorbener Säuglinge austragen und die Größe der Majestät Gottes ausgerechnet am Maß seiner Unerbittlichkeit versinnbilden wollen. Das ist das Erste.
Das Zweite, was uns Salomons Gebet über Gott und unsern Glauben lehrt ist: das Staunen. Wohnt denn Gott wirklich auf der Erde? Siehe, selbst der Himmel und die Himmel der Himmel fassen dich nicht, wieviel weniger dieses Haus, das ich gebaut habe. – Wer sich der Wundertaten Gottes erinnert, der wird bald zu ahnen beginnen, dass die menschlichen Gedanken, Worte und Werke, in denen der Glaube sich Ausdruck schafft, hinter dem, was Gott tut und wie er ist, unendlich zurückbleiben. Keine menschliche Antwort, die je auf Gottes Ruf an uns erging, entspricht dem, worauf sie antworten möchte. Ist der Jubelton der Lieder noch so festlich, mögen die Gotteshäuser im Prunk überborden – Gott ist unendlich größer. Jede Ähnlichkeit zwischen ihm und seinen irdischen Sinnbildern bleibt von einer umso größeren Unähnlichkeit umgriffen, hat das IV. Laterankonzil im 13. Jahrhundert gelehrt. Wo die Gläubigen dessen eingedenk bleiben, werden sie nicht in Versuchung kommen, Gott und die Kirche zu verwechseln. Was immer sie über ihn sagen, was immer sie gläubig tun: er bleibt in allem und über allem der Deus semper maior – der immer wieder noch einmal Größere.
Darum mündet auch Salomons Staunen wieder zurück ins Bittgebet: Wende dich, Herr, dem Beten und Flehen deines Knechtes zu! Halte deine Augen offen über diesem Haus, über der Stätte, von der du gesagt hast, dass dein Name hier wohnen soll. – Salomo hat glaubend erkannt: Gott ist wirklich zugegen im Tempel, sein Name, also sein Wesentliches, sein Geheimnis wohnt da, aber er weiß auch, dass Gott zugleich über dem Tempel wohnt, ihn unendlich überragend: Höre unser Gebet im Himmel, dem Ort wo du wohnst. Obwohl das Heiligtum der Ort ist, wo die Menschen mit Gott in Gemeinschaft treten durch Gebet und heilige Feier, lässt sich Gott nicht beschränken auf den Tempel. Der ist auch nicht die Burg, in der er sich gleichsam verschanzt, erst recht nicht der Ort, da Menschen ihren Gott be-greifen im buchstäblichen Sinn und darum von ihm Besitz ergreifen könnten. Obwohl da in Gestalt seines frei geschenkten, unverfügbaren Namens, thront er unendlich über diesem Ort. Immer und immer wieder taucht dieses Motiv des Darüber-Hinaus, der Transzendenz Gottes über alles Sichtbare und Sinnliche hinaus in der biblischen Tradition auf, um uns diese Unverfüglichkeit Gottes unauslöschlich in die Seele zu graben: So etwa besonders eindrücklich auch in der Gottesvision des Propheten Jesaja, an die uns bei jeder Eucharistie das Heilig, heilig, heilig erinnert, das zum ersten Mal in ihrer Mitte erklingt, jenem Moment, da der Prophet Gottes Herrlichkeit schauen darf und dabei sieht, wie allein schon die Schleppe des Königsmantels den Tempel erfüllte, die Schleppe allein! Oder ganz anders, wie Gott dem Propheten Elija nicht im Erdbeben, nicht im Sturm, nicht im Feuer, sondern im leisen, sanften Säuseln begegnet. Das alles steht dahinter, wenn Juden bis heute den Namen Gottes, geschrieben als Tetragramm in vier Konsonsanten, nicht aussprechen, sondern dort, wo es in der Bibel steht, immer Adonai – Herr – sagen: Salomonische Frömmigkeit der Transzendenz ist das!
Und seltsamerweise schließt Salomo sein Gebet mit der Bitte: Höre, Herr, unsere Gebete! Höre sie, und verzeih! Das ist nichts anders als das nüchterne aber eben darum aus tiefster Weisheit kommende Eingeständnis, dass jedes Wort an und über Gott und jede Tat für diesen Gott unzulänglich und armselig, ja etwas schuldig bleibt vor diesem Gott und seinem Geheimnis. Das macht Salomons Tempelweihe so ergreifend, das hält sie frei vom Prahlen und der Anmaßung und lässt auch das gleißende Wunderwerk des Heiligtums durchsichtig bleiben auf den hin, für den es gedacht ist und auf den es von Ferne verweisen darf.
IV.
Heute, am Weihfest unser Kirche hier, 276 oder 277 Jahre nach ihrer Indienstnahme als Gotteshaus, sagen wir Dank dafür, dass wir Kirche Gottes sind, und dafür, dass wir unser Suchen nach Gott und unsere leisen Ahnungen von seinem unbegreiflichen Geheimnis in menschlichen Worten vernehmen und ausdrücken können, die uns gut tun. Salomo hat uns heute gelehrt, wie das auf rechte Weise geschieht: die Erinnerung an Gottes Liebestun, das Staunen über ihn und seine Größe, die Demut der Einsicht in das Ungenügen aller menschlichen Antwort darauf – diese drei sinds, was uns auf gottgewollte Weise gläubige Kirche sein und in Wahrhaftigkeit von der Kirche denken und über sie reden lässt. So bleiben wir auch vor liebloser Kritik an ihr bewahrt, und genauso vor dem heute wieder so modisch gewordenen arroganten Triumphalismus derer, die gern von sich behaupten, sie seien Gläubige "strikter Observanz". Wieviel gewänne die Kirche an Glaubwürdigkeit, würde sie sich nicht mehr scheuen, zusammen mit ihren Lehren und Geboten immer wieder auch selbst das Bekenntnis des König Salomo nachzusprechen: Höre, Herr unsere Worte, höre und verzeih!
Das täte umso mehr Not, als einer auf Erden jene drei Räte Salomons – das Erinnern, das Staunen, die Demut -, weil einer die vollkommen gelebt und erfüllt hat: Jesus von Nazaret, der Christus – unser aller Herr und Haupt der Kirche. Darum ja auch ist er für die Christinnen und Christen an die Stelle des Salomonischen Tempels getreten. Er in Person ist für uns Ort der Begegnung mit dem lebendigen Gott und zugleich Sinnbild dafür, wie dieser Gott alles sprengt, was Menschen je über ihn zu wissen beansprucht haben. Oder hat sich je einer einen Gott ausgedacht, der sich derart vermenschlicht, bis zum leiblichen Sterben hinab, um sich seinen Geschöpfen gerade dadurch als der wahre Gott zu erweisen? Was aber könnte es für die Kirche Wichtigeres geben als ihrem Herrn genau in dem ähnlich zu werden, was sein tiefstes Geheimnis ausmacht: im Menschlich-Werden Gott gegenwärtig zu machen? Wenn sie Salomons Räten folgt, vermag sie das – und wäre so der wahre Tempel Gottes. Das Kirchweihfest heute ist eine Art Jawort zu diesem Auftrag.