Weihnachts-Märtyrer

Hl. Stephanus C (St. Anton, Regensburg): Mt 10,17-22

I.

Gerade eine Nacht und Tag sind es her, dass wir Gottes Kommen zu uns im Menschenkind der Krippe gefeiert haben – zuerst mit den Weihnachtsgeschichten, die an die Seele rühren, dann geleitet von dem unergründlichen Hymnus, der den Anfang des Johannesevangeliums bildet. Heute aber, jetzt, mischt sich ein ganz anderer Ton hinein, einer, der vom Widerspruch erzählt, vom Versuch, das Evangelium mundtot zu machen. Und Anlass dazu gibt die Erinnerung an den ersten Märtyrer der Kirche, den Diakon Stephanus. Das Fest seines Gedenkens war so alt und wichtig für die junge Kirche, dass es auch von dem allmählich aus immer tieferer geistlichen Einsicht ins Evangelium herauswachsenden Weihnachten nicht verdrängt wurde.

II.

Dazu bestand dazu auch gar kein Anlass, denn: Genau besehen starb Stephanus, weil er an Weihnachten glaubte. Weil er glaubte, dass Himmel und Erde aufs Engste verbunden sind, dass dort von Belang ist, was hier getan und gelassen wird, und dass umgekehrt sich dieser Gott darum mitten in diesem gelebten Leben mit seinem Großen und seinen Grenzen, mit Glück und Not finden lässt – aber dass er darum natürlich auch zum Störfaktor wird, wo immer eine und einer meint, das Leben selbst allein in der Hand zu haben. Was das bedeutet, kommt wie durch einem Brennspiegel zusammengezogen in der berühmten matthäischen Bergpredigt und ihrer Parallele bei Lukas, der Feldrede, zur Sprache – und auch der Widerspruch, den die Frohbotschaft vom lebensnahen Gott provozieren kann. Unser Evangelium von heute ist darum auch gar keine Katastrophengeschichte, sondern lediglich eine Art praktisches Echo auf jene kleine Summe der jesuanischen Botschaft in der Bergpredigt bzw. der Feldrede.

III.

Wir brauchen da nur einige wenige Verse lang einmal hineinzuhören: Selig ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes. Selig, die ihr jetzt hungert, denn ihr werdet satt werden. Selig, die ihr jetzt weint, denn ihr werdet lachen, heißt es da etwa. – Gut. Kenn' ich, werden Sie vielleicht sagen. Aber bedenken Sie doch einmal: Was ist das eigentlich für ein seltsames Gerede? Leute seligpreisen, die Not leiden und denen es elend geht! Friedrich Nietzsche, der bissigste Philosoph der ganzen Moderne, hatte nicht viel übrig für das Christentum mit seinem Barmherzigkeitsgedusel, wie er sagte. Aber wenn ihm Verse aus dem Evangelium wie die Bergpredigt oder die Feldrede unter die Augen kamen, fing er regelrecht zu schäumen an. Er hielt sie schlichtweg für eine hintertriebene Erfindung derer, die im Leben zu kurz gekommen sind, mit den Starken nicht mithalten können und darum ihre Schwäche in einen Wert umlügen.

Kostprobe gefällig? Es giebt – schreibt Nietzsche – bei dem Menschen wie bei jeder anderen Thierart einen Überschuss von Missrathenen, Kranken, Entartenden, Gebrechlichen, nothwendig Leidenden; die gelungenen Fälle sind auch beim Menschen immer die Ausnahme und sogar in Hinsicht darauf, dass der Mensch das noch nicht festgestellte Thier ist, die spärliche Ausnahme... Wie verhalten sich nun die [...] beiden grössten Religionen [nämlich Buddhismus und Christentum] zu diesem Überschuss der misslungenen Fälle? Sie suchen zu erhal¬ten, im Leben festzuhalten, was sich nur irgend halten lässt, ja sie nehmen grundsätzlich für sie Partei, als Religionen für Leidende, sie geben allen denen recht, welche am Leben wie an einer Krankheit leiden, und möchten es durchsetzen, dass jede andre Empfindung des Lebens als falsch gelte und unmöglich werde. Möchte man diese schonende und erhaltende Fürsorge [...] noch so hoch anschlagen: in der Gesamt-Abrechnung gehören die [...] Religionen zu den Hauptursachen, welche den Typus Mensch auf einer niedrigeren Stufe festhielten, - sie erhielten zu viel von dem, was zu Grunde gehn sollte.

Und diese Denkungsart gehört keineswegs der Vergangenheit an. Sie findet auch heute ihre Parteigänger, etwa in der Debatte um das, was in der Gentechnik und Medizin erlaubt ist oder nicht, weil Rücksicht auf die Schwachen und Angeschlagenen schlichtweg zu kostspielig sei. Und genauso auf Punkt und Komma findet bei nicht Wenigen unserer Zeitgenossen Zustimmung, was Nietzsche über den Glauben der Christen sagt: "Der christliche Gottesbegriff - Gott als Krankengott, Gott als Spinne, Gott als Geist - ist einer der corruptesten Gottesbegriffe, die auf Erden erreicht worden sind;... Gott zum Widerspruch des Lebens abgeartet, statt dessen Verklärung und ewiges Ja zu sein! Gott die Formel für jede Verleumdung des 'Diesseits', für jede Lüge vom 'Jen¬seits'! In Gott das Nichts vergöttlicht, der Wille zum Nichts heilig gesprochen." – Und der beste Beleg dafür: Unser Evangelium von vorhin.

IV.

Wenn man diese Wutausbrüche nicht einfach abtut - was haben wir dann eigentlich gehört vorhin in den Seligpreisungen der Armen, Hungernden, Weinenden, Gehassten? Wir hören immer das, worauf wir achten, sagt eine alte Weisheit. Was also hören wir, wenn wir auf die Bergpredigt, die Feldrede oder unser Evangelium von heute stoßen? Das, was Nietzsche hörte? Oder könnte da auch etwas ganz anderes gesagt sein? Zum Beispiel dies:

Wenn ihr überzeugt seid, daß ein Mensch mehr ist als sein Konto und seine Karriere, mehr als seine Ellenbogen, sein Cabrio und seine schnieke Wohnung; wenn ihr auch überzeugt seid, daß wenig daran hängt, wie ein anderer von außen aussieht, weil das Schöne immer von innen kommt und man nur um seinetwillen eine, einen anderen liebhaben kann; wenn ihr von all dem überzeugt seid und ihr darum an alle dem, was man haben, machen und leisten kann, nicht hängt und darum frei seid: Selig seid ihr!

Wenn ihr überzeugt seid, daß man Geld nicht essen kann, ja sogar, daß es nichts auf der Welt gibt, was uns wirklich satt macht, weil die Sehnsucht von uns Menschenkindern nach einem Erfülltsein dafür viel zu groß ist; daß uns der Hunger nach Brot und erst recht der nach Angenommensein und Liebe beständig daran erinnert, daß wir nicht aus uns selbst bestehen, sondern angewiesen sind auf das, was die Erde und die anderen für uns übrig haben – und wenn ihr dann noch begreift, daß es trotzdem gut ist mit uns so, wie es ist, weil ihr euch einem verdankt, der euch Leben gönnt und es euch gut meint und darum euren Hunger stillen wird: Selig seid ihr, selig jetzt schon, da ihr noch den Hunger spürt, weil er der euch zugleich die Verheißung gibt, einmal wirklich satt zu sein.

Wenn ihr überzeugt seid, daß es nicht nötig ist, immer gut drauf zu sein, da einem manchmal zum Heulen ist, weil ihr eine Chance vertut, einen wichtigen Wink nicht erkennt, ein anderer – gar lieber Mensch – euch hintergeht, ihr jemanden von eurer Seite auf immer verliert und untröstlich seid. Wenn ihr anerkennt, daß es all das im Leben geben kann und ihr weinen müßt – und trotzdem die Welt darüber nicht zerbricht, weil auch noch das menschlich gesehen Verfehlte und Verlorene, gerade es, in Gottes Hand geschrieben ist: Selig seid ihr.

Ja, und dann das andere auch noch: Die Seligpreisung für die, die wegen ihres Bekenntnisses zu Jesus gehaßt, ausgeschlossen, geschmäht oder schließlich vernichtet werden wie Stephanus. Der war übrigens nicht zufällig Diakon, also jemand, der – modern gesprochen – mit Caritas und Sozialarbeit, also den Angeschlagenen und Übervorteilten zu tun hatte. Wer überzeugt ist, dass das mit dem Armsein, dem Hungern und Trauern stimmt und das auch noch sagt, der muss mit solchen Reaktionen rechnen. Längst ist es darum auch bei uns wieder normal, Christinnen und Christen ihres Glaubens wegen zu verhöhnen. Zumal katholische. Katholischsein sei ungefähr so, wie wenn in einem muffigen Keller ungewaschene Unterhosen verbrannt würden, meinte neulich ein bekannter Kabarettist.

V.

Dass ich nicht falsch verstanden werde: Es gibt genug Dinge in unserer Kirche, die einen die Wände hochgehen lassen könnten. Über manches davon kann ich nur noch den Kopf schütteln, über anderes ärgere ich mich. Aber über all dem darf zugleich nicht aus dem Blick geraten, dass das provozierend Unzeitgemäße am Christsein daherrührt, dass unser Glaube – ich muss es so schneidend sagen – eigentlich gar nicht zuerst Religion ist, sondern prophetische Aufklärung: ungeschminktes Hervorsagen der Wahrheit und damit Erkenntnis, wie es um uns Menschen im Letzten steht.

Eben darum sind die Weherufe der lukanischen Feldrede, die ihren Seligpreisungen folgen, auch nicht Ausdruck der Schadenfreude derer, die ansonsten zu kurz kommen im Leben. Sie beschreiben lediglich, was denen passiert, die das Reichsein jetzt, das Sattsein jetzt, das Lachen jetzt, das schöne Gerede der anderen jetzt für das Ganze halten und sich darum an es klammern: Ihr habt weg euren Trost, wird ihnen gesagt (wenn man wörtlich übersetzt). Sie haben weg ihren Trost, weil sie vom Menschen viel zu klein gedacht haben – dass es mit ein bisschen Habe, reichlichem Essen, einer Bettaffäre und zünftiger Fröhlichkeit genug sei für ihn.

Wo doch Gott den Menschen so sehr viel größer gewollt, ihm gleichsam als persönliche Signatur die Unendlichkeit im Denken und Fühlen in die Seele geschrieben hat. Darum gibt seiner Sehnsucht Stimme, wer seinen Glauben bekennt. Stephanus war das wichtiger als alles andere. In seinem Ende spiegelt sich auf menschliche Weise der unbedingte Ernst, mit dem Gott sich von unserem Menschenleben berühren lässt. Deswegen finden wir Stephanus gleich auf den ersten Seiten jenes Bilderbuchs zum Evangelium, das die Heiligen sind. Und darum feiern wir ihn heute.