Von der Kompetenz des Christenmenschen
Dekanatsjahrtag Regenstauf: 07.07.04 (Lappersdorf)
I.
Wenn in einigen Jahrzehnten die Historiker einmal die Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts schreiben werden, werden sie es wahrscheinlich das Jahrhundert der Kirche nennen. "Die Kirche erwacht in den Seelen", fasste Romano Guardini die Stimmung unter den Katholiken in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zusammen. Das II. Vatikanische Konzil nannte man schon bei seinem Abschluss 1965 ein Konzil der Kirche über die Kirche. Zu keinem Thema haben die Theologen in der Folgezeit mehr und differenzierter gearbeitet als zum Thema "Kirche". Und jetzt – kurz nach Beginn eines neuen Jahrhunderts – ist wiederum viel von der Kirche die Rede, diesmal freilich ganz anders als die beiden anderen Male.
II.
Ich spreche nicht von manch gehässiger Polemik gegen die Kirche in bestimmten Medien. Da reagieren sich meist Leute ab, die mit ihrer eigenen kirchlichen Vergangenheit nicht im Reinen sind. Und an manchen Orten hat dieses Phänomen ja auch seine durchaus komplizierten Hintergründe, weil, wie man in den Wald hineinruft, es bekanntlich auch zurückschallt.
Weit mehr zu denken geben muss, wie sich in letzter Zeit Frauen und Männer zum Thema Kirche zu Wort melden, deren Loyalität zur Kirche absolut nicht zur Debatte steht. Das Unbehagen, das sich da Ausdruck verschafft, komme – so sagen solche Stimmen – von einem Problemstau in der Kirche, der selbst verantwortungsbereite Christen regelrecht lähme und der mittlerweile die Form eines Dauerzustandes annehme. Das Zentralkomitee der Deutschen Katholiken hat schon vor Jahren ein Diskussionspapier vorlegt, das anders als die sonstigen Verlautbarungen dieses Gremiums innerhalb, teils sogar außerhalb der Kirche mit hellwacher Aufmerksamkeit zur Kenntnis genommen wurde. Das Papier trägt den Titel "Dialog statt Dialogverweigerung". Das ist natürlich ein Programm, besser eine Forderung, noch besser: ein kritischer Maßstab. Und nach diesem Maßstab steht vieles und viel zu vieles in der Kirche der Gegenwart nicht zum Besten: Der Dialog zwischen Rom und den Bischöfen; der Dialog zwischen Laien und Amtsträgern, der Dialog zwischen den nahezu ausschließlich männlichen Verantwortlichen und den weitreichend zum Schweigen vergatterten Frauen, die dennoch die allergrößten Teile der Glaubensvermittlung und der Diakonie tragen; der Dialog zwischen Alten und Jungen – und wie geschieht er. Geschieht er überhaupt? Wer die genannten Beziehungsfelder genauer unter die Lupe nimmt, wird eine nahezu gänzliche Fehlanzeige zu melden haben. Der eine Teil dieser Dialoge fällt kommentarlos aus, ein anderer wird gezielt verweigert. Ausnahmen hie und da gibt es auf eher unteren Ebenen. Und dabei täte jeder Einzelne dieser Beziehungsebenen der Dialog so bitter not. Nicht zuletzt, um den Verdacht abzuwehren, mit bestimmten Beziehungsfloskeln – "Brüder und Schwestern"; "Kirche als communio" etc. – nur eine durchaus gewollte Beziehungslosigkeit zu kaschieren. Der Spitzensatz des Dialog-Papiers aus dem Zentralkomitee lautete: "Die Kirche in ihrer geschichtlich gewordenen Gestalt ist ungleichzeitig mit dem Selbstbewusstsein heutiger Menschen." Das ist der Punkt.
III.
Zu diesem Selbstbewusstsein der Menschen von heute aber gehört untrennbar der Dialog: Sie erheben Anspruch, in den Belangen, die sie berühren, auch selbst gehört, gefragt, hinsichtlich ihrer Erfahrung ernstgenommen zu werden. Im Menschlichen und in den Dingen des Glaubens auch. Jede Frau, jeder Mann ist wer als Mensch und als Christ. Ist von vornherein wer kraft eigenen Rechts und nicht erst dadurch und in dem Maß es ihnen von Instanzen und Autoritäten zugestanden wird. Natürlich braucht jedes Sozialgebilde Strukturen, darunter einige, die auch autoritative Funktionen ausüben. Und nochmals in besonderer Weise gilt dies gewiss von der Kirche, weil sie sich, wofür sie steht, ja nicht selbst verdankt, sondern als Anvertrautes zu treuen Händen empfangen hat. Im Zueinander von Amt und Gläubigen spiegelt sich tatsächlich nichts anderes als die buchstäbliche Zuvor-Kommenheit von Gottes Wort der Gnade. Wir müssen uns das Wort, das erlöst, nicht selber sagen. Gott sei Dank. Wir dürfen es uns sagen lassen.
Aber alles hängt daran, wie die Amtsträger diese Zuvor-Kommenheit vergegenwärtigen. Denn bei Strafe der Selbstwiderlegung wird Zuvor-Kommenheit nur dann zuvorkommend sein, wenn sie sich die Mühe macht, ihre Adressaten statt anzuherrschen einzuladen, statt abzukanzeln anzusporen, statt mundtot zu machen für mündig zu halten und also auch damit zu rechnen, dass die Adressaten auch aus sich etwas zur Wahrheit beizutragen haben. So stellte sich die als vermisst beklagte Gleichzeitigkeit zwischen Kirche und Menschen von heute ein. Nur wirklicher Dialog kann für sie aufkommen.
Wenn wache Christen diesen Dialog in der Kirche endlich vehement einfordern, geschieht das keineswegs aus kosmetischen Gründen, weil sich solcher Stil halt besser macht oder ins Heute zu passen scheint. Verpflichtet sind die Glieder der Kirche auf den dialogischen Umgang miteinander vielmehr aus einem eminent theologischen Grund: Das Wort Gottes – von oben – ist seinem Wesen nach auf die Antwort der Hörer des Wortes angelegt. Erst zusammen mit dieser kommt seine Wahrheit ganz zur Sprache. Anders könnte sich ja auch niemals Gottes Wort in dem so vielschichtigen und vielfältig gebrochenen Menschenwörtern der Bibel etwa verlautbaren. Jede Hörerin, jeder Hörer des Wortes hat etwas zu sagen über Gott und den Glauben und die Welt, wie der Glaube sie sieht – mitsamt der Kirche darin. Das Vaticanum II. hat eben dies dadurch zum Ausdruck gebracht, dass es davon sprach, jeder Christ habe – noch diesseits jeder amtlichen Beauftragung – bereits kraft seiner oder ihrer Taufe Anteil am prophetischen Amt Christi, also an demjenigen Amt, welches Wahrheit verbürgt. So steht das im Dekret über die Kirche "Lumen Gentium" Nr. 12.
IV.
Wenn solche Grundkompetenz im Glauben jeder Christin, jedem Christen aus Prinzip eignet, kann es in der Kirche ebenso prinzipiell keinen anderen als einen dialogischen Stil der Wahrheitsfindung geben – und am wenigsten dort, wo über praktische Konsequenzen und Konkretionen der Wahrheit zu befinden ist, heiße das anstehende Problem nun Bischofsernennung, Familienplanung, Zulassung zu den Ämtern oder Lehrberufung.
Wer an diese christliche Kompetenz aller Getauften erinnert, muss sich aus bestimmten Ecken vorhalten lassen, er huldige damit nur dem modischen Zeitgeist. Die Geschichte belehrt eines Besseren, denn sie kennt herausragende Zeugen für diese Kompetenz aus der Taufe. Zu ihnen gehört auch der Hl. Papst Leo der Große, ein Petrusnachfolger, der alles andere als verdächtig ist, was das Amt in der Kirche betrifft. Ist er in Person doch so etwas wie ein Meilenstein bei der Durchsetzung des Primats für den Bischof von Rom. Aber Leo war als Theologe groß und der Wahrheit streng genug verpflichtet, um in einer Predigt sagen zu können:
"So sehr ist keiner durch das heilige Amt vom andern getrennt, dass sein bescheidener Teil keinen Zusammenhang mit dem Haupt mehr hätte. In der Einheit des Glaubens und der Taufe besitzen wir eine ungeteilte Gemeinschaft und eine gemeinsame Würde.
Alle, die in Christus wiedergeboren sind, macht das Zeichen des Kreuzes zu Königen und weiht die Salbung des Heiligen Geistes zu Priestern."
Darin gründet die Pflicht aller in der Kirche zum Dialog. Im Maß diese Pflicht Erfüllung im innerkirchlichen Dialog findet, wird man es der Kirche dann auch abnehmen, wenn sie behauptet, den Dialog mit dem Denken und Fragen außerhalb ihrer zu suchen. Die katholische Kirche als der älteste global player der Welt wäre der prädestinierte Werkraum für die Einübung einer solchen Kultur der Verständigung, an der nichts Geringeres als die Zukunft der einen Menschheit hängt. Und dieser Dialog im Großen lebt von den zahllosen kleinen – scheinbar unbedeutenden – Rinnsalen des Miteinanderredens vor Ort. Auch Ihr Dekanat ist darum einer seiner Quellen. Dass Sie mit Mut und Geduld von dieser Ihrer Taufkompetenz Gebrauch machen, dafür wünsche ich Ihnen jenen langen Atem, der nur vom Geist Gottes kommen kann.