Die Fremden und das Gottesmahl

Fronleichnam C: Gen 14, 18-20 + Lk 9, 11b - 17

I.

Es ist gewiss wahr, was uns die sagen, die sich von Berufs wegen mit der Feier der Liturgie befassen: Nicht alle Feste im Kreis des Kirchenjahres sind von gleichem Rang. An der Spitze – allem vorweg – kommt Ostern mit den fünfzig Tagen bis Pfingsten. Von ihm her hat dann jeder Sonntag als kleines Osterfest sein Gepräge. Und der Abfolge dieser Herrentage ist das Gedächtnis der Heilsgeschichte eingeschrieben, die Geheimnisse des Lebens Jesu von der Erwartung seiner Geburt bis zu seinem Sterben und von Ostern bis zur Hoffnung auf seine Wiederkunft am Ende von allem. Die Feste großer Heiliger sind dem noch hinzugefügt – und bisweilen das, was die Fachleute, meist mit etwas abschätzigem Unterton, "Ideenfest" nennen.

II.

Dazu gehört auch der heutige Tag – Fronleichnam, Hochfest des Leibes und Blutes Christi. Ein Tag, der die Gabe der Eucharistie, die ja so etwas wie die das ganze Jahr hindurch bleibende Vergegenwärtigung von Ostern darstellt, nochmals eigens herausstellt und für sie dankt. Natürlich ist richtig, wenn manche sagen: Brot ist zum Essen da, nicht zum Anschauen. Als Argument gegen Fronleichnam überzeugt hat mich das noch nie. Und was soll auch schlecht sein an einem Ideenfest, solange es nicht Zwecken und Interessen eingespannt wird, die seiner eigenen Botschaft widersprechen. Wir Menschenkinder leben ja, das sollte man TheologInnen nicht sagen müssen, nicht allein vom Brot, sondern auch aus Ideen, genauso viel – mindestens. Manchmal kann eine Idee in diesem Sinn zum Leben und Überleben wichtiger sein als ein Stück Brot für einen hungrigen Magen. Das hat Rilke einmal in Paris erlebt. Tag für Tag ging er an einer Bettlerin vorüber, die immer an der gleichen Kirchenstufe saß. Jedes Mal gab er ihr eine kleine Münze. Eines Tages kam er wieder vorbei und hatte kein Geld dabei. Nur eine Rose hatte er in der Hand, weil er zu einer Verabredung ging. Spontan legte er der Bettlerin statt der Münze die Rose in den Schoß. Tags darauf war ihr Platz leer, am nächsten Tag wieder, am dritten auch – eine ganze Woche. Dann saß sie wieder da wie früher. Als Rilke sie sah, konnte er nicht anders, blieb stehen und fragte sie: Wo waren sie all die Tage? Sie brauchen doch Ihrem Unterhalt! – Ich habe von der Rose gelebt, antwortete die Frau. Das meint: Von mehr als nur vom Brot leben.

III.

Typisch für ein solches Ideenfest ist, dass es im Gang der Geschichte von wechselnden Gedanken und Gefühlen umspielt wird. Das war und ist auch bei Fronleichnam so, ganz besonders sogar. Als das Fest im 13. Jahrhundert, gespeist aus älteren Strömen eucharistischer Frömmigkeit, aufkam und sich ungeheuer schnell verbreitete, da stand ganz und gar im Mittelpunkt das Staunen und Danken, dem unbegreiflichen, jenseitigen Gott unerachtet seiner Majestät geradezu mit Sinnen fasslich zu begegnen – dass Gott gleichsam bis in die untersten, beinahe animalischen Tiefen des Menschen hinabreichen will, bis dort, wo es um so Elementares wie das Essen und Trinken, also das Überleben geht, das für uns Menschen zutiefst mit Einverleiben zu tun hat – und das Einverleiben, dass etwas mir anderes, Gegenüberseiendes und Begehrtes ganz in mich eingeht und anverwandelt wird, gehört in den geheimnisvollen Innenraum dessen, wofür wir in der Sprache nur das vernutzte Wort "Liebe" haben. In vielen eucharistischen Dichtungen klingt das auf, nicht zuletzt in den Hymnen des Hl. Thomas von Aquin, die er für diesen Tag geschrieben hat und die noch heute im "Gotteslob" stehen, vor allem das "Pange lingua" (Preise, Zunge, das Geheimnis) und das "Adoro, te, devote" (Gottheit tief verborgen).

Generationen später, in der Zeit der konfessionellen Auseinandersetzungen und in der Gegenreformation, ist das Umgehen mit den eucharistischen Gaben und dem Sakrament des Altares buchstäblich zur Scheidemünze der Glaubensbekenntnisse geworden und zum Zankapfel bis dahin, dass sich die Gabe des Herrenmahles und die Einheit, die sie doch ausdrücken soll, in ein Instrument der Ausgrenzung und des Ausschlusses verkehrte – mit gegenseitigen Provokationen zwischen Katholisch und Evangelisch manchmal bis ins 20. Jahrhundert hinein. Aber das – das Provozieren und Ärgern oder Beleidigen – funktionierte auch deswegen nur, weil die Eucharistie die Glaubenden bis in die Herzmitte berührt; Ideen sind manchmal wirklicher und wirkmächtiger als das, was man mit Händen fassen kann. Gottseidank, dass diese Zeiten vorbei sind, wenn man einmal absieht von den offiziellen Reibereien bis heute, die aber allesamt nichts mit der Eucharistie zu tun haben, sondern mit den Differenzen im kirchlichen Amtsverständnis.

Wäre es anders, dann hätte nicht geschehen können, dass Fronleichnam schon des Längeren einen ganz anderen Charakter gewonnen hat, einen, der mit dem zu tun hat, was Menschen heute bewegt. Es ist ein Fest des Schöpfungssegens geworden, ein Tag, an dem wir gleichsam in alle Himmelsrichtungen gewendet Gott für alles danken, was er uns zum Leben schenkt und uns daran erinnern, dass und wie aus dem Reichtum dieser Gaben wie von selbst die Sorge um die aufkommt, den es am Wichtigsten fehlt – ein Anliegen, das die christlichen Konfessionen so verbindet, dass es keine Seltenheit mehr ist, wenn evangelische Christen und Amtsträger mancherorts bei katholischen Prozessionen mitgehen und mitbeten.

IV.

Hat man einmal wahrgenommen, wie gerade an Fronleichnam auf diese Weise zwischenkirchliche Barrieren fallen können, dann ist es eigentlich nur noch ein Kleines zu entdecken, dass dieses Grenzüberschreitende an Fronleichnam noch weit über den Bereich des Kirchlichen hinausreicht. Wenn viele Gemeinden heute die Eucharistie im Freien feiern und dann betend mit dem Herrn in ihrer Mitte durch die Straßen ziehen, bewegen sie sich ja im Raum der Öffentlichkeit. So etwas ist nicht nur Bekenntnis, sondern zugleich Einladung und – ja, auch das – eine Art Verkündigung, Zusage, dass Gott seine Zuwendung und seinen Segen nicht nur den Glaubenden, sondern allen und ihrer ganzen Welt zugedacht hat. Ich weiß noch, wie viele Leute in meiner Heimatgemeinde an Fronleichnam die Fenster ihrer Wohnungen mit roten Tüchern und Blumen schmückten, Sinnbild des Festes und der neuen, schön gemachten Stadt, die nach der Botschaft der Schrift das letzte Ziel von allem sein wird, wenn alle und alles in Gott selbst seinen Ort gefunden hat. Praktizierte politische Theologie ist das alles, die ohne viele Worte weiß, dass zum Christsein auch dieses Hoffen gehört, das auch ein Hoffen für die anderen ist samt einem Eingedenken für die, die nicht mehr sind und denen, wenn sie in dieser Welt Unrecht erlitten haben, erst dann Gerechtigkeit werden wird – und natürlich das Tun, das im Maß des jetzt Möglichen dazu gehört.

IV.

Dass die Eucharistie und damit auch Fronleichnam in diesem Sinn etwas Politisches, also das Leben der Vielen Betreffendes, an sich haben, und dass dabei gerade die so genannten "Anderen", die Fremden, eine besondere Rolle spielen, kommt ja auch in den Lesungen von heute zum Ausdruck. Unübersehbar erzählen die Evangelien, wenn sie auf die Speisung der Vielen durch Jesus zu sprechen kommen, auf eine Weise, die wie von selbst an die Feier der Eucharistie gemahnt. Aus dem Wenigen – scheinbar Wenigen! – , das die Jünger haben, wird unter Jesu Händen so viel, dass es für alle reicht und noch so viel darüber hinaus, dass es zwölf Körbe voll Übriggebliebenes einzusammeln gibt. Das ist die Welt, die aus eucharistischem Geist erwächst, eine Welt der Solidarität, der Compassion, wie man heute gern sagt, eine Welt, wo Menschen teilen, was sie zum Leben brauchen und auch das Darüberhinaus, jenen Überschuss über das Nötige, das Überflüssige, ohne das wir nicht wüssten, was Fest und Feier und Liebe sind. Im Tabernakel aus Gold ist das eucharistische Brot als kostbarste Gabe Gottes aufbewahrt. Das Brot wiederum ist gleichsam der Tabernakel für die Fußwaschung, also Vergegenwärtigung der Liebe, des Kostbarsten, was Menschen einander schenken können, weil sie selbst immer schon von Gott Beschenkte sind.

V.

Manchmal will mir scheinen, das alles wird dort am Sichtbarsten, wo Menschen, die von außen gesehen Fremde sind, in den Innenraum der Eucharistie treten und dort jenseits der vertrauten Rituale mit der heiligen Gabe so umgehen, wie es ihnen aus tiefstem Herzen kommt. Vor einiger Zeit habe ich als Gast an einer österreichischen Universität gelehrt. Dort habe ich von einem Begebnis gehört, das ich mittlerweile auch in einem Buch als glaubwürdig verbürgt wiedergefunden habe: Im Bahnhofsviertel der Stadt feierte eine kleine Gemeinde Abendmesse. Mitten während der Messe, es war schon Gabenbereitung, kam eine Frau in die Kapelle, extrem geschminkt, ultrakurzer Rock, kniehohe Lederstiefel, eine Prostituierte; sie war leicht alkoholisiert. Sie schaute zu. Dann geht sie nach vorne zur Kommunion, andächtig wie die anderen. Der Priester reicht ihr die Hostie. Sie nimmt sie, bricht sie in zwei Teile, einen davon isst sie, den anderen schiebt sie in ihre Jackentasche – und geht. Einer der Gottesdiensthelfer will es wissen. Er folgt ihr aus der Nähe, und er sieht, wie sie geradewegs zum nahe gelegenen Bahnhof geht, auf einen Bahnsteig, zum kleinen Dienstraum der Bahnhofsmission, zu einer Schwester, die dort gerade Dienst tut und die die Frau offenbar gut kennt. Und die Frau reicht der Schwester die zweite Hälfte der Hostie und der Helfer aus der Kapelle hört sie sagen: Schau, was ich Dir mitgebracht hab’. Das isst du doch so gerne!

Auch eine Kommunion! Ein Teilen von Herzen. Eine Teilgabe und Teilhabe am Heiligen, ein Für-Dich aus Zuneigung und Dank. Eine Kommunion, so jesuanisch, und vielleicht jesuanischer als mancher festliche Ritus in einer Domkirche. Und fast so etwas wie Nachbild jener Szene im Buch Genesis aus der ersten Lesung, wo der geheimnisvolle König Melchisedek, der Nicht-Jude, also Heide, also Fremde, dem Gottsucher Abram Brot und Wein als Sinnbild der Einladung zu einem Friedensmahl entgegenbringt und als Priester des höchsten Gottes den künftigen Vater aller Gläubigen segnet. Drinnen und Draußen, wer Fremder und wer Vertrauter ist, tritt da auf einmal zurück, weil Gebender und Empfangender gemeinsam von einer Gabe leben, die nicht von Menschen kommt und. Damals vor Salem –

also Jerusalem – in jener Urzeit, damals in dem Bahnhofsviertel vor ein paar Jahren. Und jetzt hier auch. Für diese Gabe danken wir, die uns das menschliche Geben und Empfangen am Altar lebendig macht.