Gottes Bild

7. Ostersonntag C: Joh 17,20-26 + Eph 2, 4-10 (zugewählt)

I.

In den Bergwäldern des nördlichen Indien gibt es bis heute buddhistische Nonnen, die als Einsiedlerinnen leben. Jede bleibt streng für sich, das ganze Leben der Meditation geweiht. Sie besuchen einander nicht. Nur eine kleine Trommel hat jede. Wenn es einer von ihnen nicht gut geht, dann trommelt sie einen bestimmten Rhythmus, der soviel bedeutet wie: Hört ihr mich? Seid ihr noch da? Eine nach der anderen antwortet darauf reihum mit ihrer Trommel, so dass sich die, die das erste Zeichen gegeben hatte, im Kreis ihrer Mitschwestern gehalten, ja gleichsam in einer Wolke von Klang geborgen fühlen kann. Wenn es ihr wieder besser geht, trommelt sie einen anderen Rhythmus. Und alle tauchen wieder ein in das Schweigen ihres Einsiedler-Lebens.

II.

Jede für sich - in frei gewählter Einsamkeit sogar. Und doch bilden die Frauen eine Gemeinschaft, ein Miteinander, das sie vielleicht enger verknüpft, als wenn sie alle in ein und demselben Haus verweilten. Im Gegenteil: Gerade wenn Menschen äußerlich gesehen einander nah sind, kann ihnen besonders schwer fallen, untereinander eins zu sein.

III.

Diese Erfahrung haben auch die Christen von allem Anfang an machen müssen. Eine um so bedrängendere Erfahrung, als die Einheit der Gläubigen mit der Wahrheit und Wahrhaftigkeit des christlichen Glaubens unmittelbar zu tun hat. Kein Wunder darum, dass uns Johannes im heu-tigen Evangelium Jesus zeigt, wie er betet - betet um die Einheit derer, die an ihn glauben. Das lässt uns gleichzeitig aber auch ahnen, dass zu Johannes' Zeit die Einheit der Kirche ein Problem war. Auch kein Wunder - weil sie es auch vorher schon gewesen ist.

Ungeschminkt erzählen uns die Schriften des Neuen Testaments, dass es in der jungen Kirche manchmal heftige Konflikte gab: Zwischen Paulus und Petrus wegen des Verhaltens den Christen gegenüber, die vorher nicht Juden, sondern Heiden gewesen waren; zwischen den aramäisch sprechenden Christen in Israel und den griechisch sprechenden, die im Ausland vom Judentum zu Christus gefunden hatten; zwischen Paulus und Markus; und in der Gemeinde von Korinth prallten die Meinungen manchmal so hart aufeinander, dass die Gemeinde zu zerbrechen drohte. Solche Auseinandersetzungen waren auch später keine Einzelfälle. Aus der Zeit kurz nach der Abfassung des Johannesevangeliums sind uns Briefe des Bischofs Ignatius von Antiochien erhalten, der vor dem gleichen Problem stand, die Einheit der Gläubigen zu wahren. Und er findet das einzige Mittel dafür in der Hervorhebung des bischöflichen Amtes. Wenn es ernst wird, schafft einer an, und die anderen haben sich zu fügen. Dieses Modell hat - Sie wissen es - Schule gemacht, wurde in der Folgezeit noch mehr zugespitzt und eingeschärft, im Grunde bis heute.

Nur: Hat das Modell des Ignatius - die Betonung von Amt und Autorität - gehalten, was es versprach? Wenn ich an der Spaltung der Kirche in Ost und West, den Zerfall der Westkirche in Konfessionen und schließlich auch noch an den Abfall der Lefebvrianer vor etlichen Jahren denke, kommen mir Zweifel. Vor allem aber scheint es mir der Aufmerksamkeit wert, dass Johannes, wenige Jahre vor Ignatius, die Einheit der Gläubigen ganz anders zu begründen und zu sichern unternimmt: Nicht durch Betonung der Autorität, sondern durch Verweis auf die Einheit Jesu mit dem, den er "lieber Vater" nennt - mit Gott. Wie er im Vater ist und der Vater in ihm, sollen die Gläubigen untereinander eins sein. Das ist die Einheit der Liebe. Und in sie findet hinein, wenn einer in Jesus ist und durch ihn im Vater. Wie auch anders: Wer gleichsam Jesu Wesensart teilt, wird selber aus Liebe um das Verbundensein in Liebe mit den anderen Sorge tragen! Bewahrung der Einheit also nicht durch Druck von außen, sondern durch Verbindung von innen her. Dadurch, wie Christen untereinander sind, kann etwas sichtbar werden von dem, wie Gott ist. Die Gemeinde der Gläubigen als ein Bildnis des Gottes, der sich in Jesus aufgetan hat. Das meint das Evangelium, wenn es von der Herrlichkeit spricht, die Gott Jesus gegeben und die Jesus wiederum an die Seinen weitergegeben habe.

IV.

Von dem her, was Johannes damit über die Einheit der Christen sagt, wird zu fragen sein, ob denn nicht alle Spaltung unter Christen und die zwischen den Kirchen zumal nichts anderes anzeigt als einen Mangel an Verbundensein mit dem, auf dessen Namen die Christen sich berufen. Und wenn der Herr selbst für uns betet, dass wir eins werden, was könnten wir Besseres tun als mit ihm zu beten? Darum ist auch der ganze Epheserbrief, in dem es so sehr um die Einheit der Kirche geht, im Grunde eine einzige, beschwörende Bitte um Einheit - eine Bitte gerichtet an eine Gemeinde, in der es zu Spannungen und heftigen Auseinandersetzungen gekommen war.

Doch eigenartig: Bevor der Apostel auf das für ihn so brennende Anliegen zu sprechen kommt, redet er von dem, was durch Christus geschehen ist. Gott - so fasst der Apostel den Christusglauben zusammen -, Gott hat uns alle herausgeholt aus einem geradezu schicksalsträchtigem Danebengehenmüssen des Lebens. Er hat uns erlöst aus den Zwängen in sich verkrümmter Ichbesessenheit, befreit zu einem neuen Lebensstil. Um dieses Neue, das irgendwie alle Vergleiche sprengt, einigermaßen zur Sprache zu bringen, greift der Apostel zu einem kühnen Wort, und er ruft - allen vordergründigen Anschein überspringend - aus: voll Erbarmen, wie Gott ist, hat er uns zusammen mit Christus wieder lebendig gemacht. - Das ist stark. - Aber auch das genügt ihm nicht und er fügt - alles auf eine Karte setzend - an: Gott hat uns ja mit Christus auferweckt. Nicht: er wird uns mit ihm auferwecken. Nein: er hat uns auferweckt. Nichtchristen werden da nur verständnislos den Kopf schütteln können. Und die Christen selber beeilen sich, der Wucht dieser Worte auszukommen, indem sie sie der überschwänglichen Begeisterung eines Neubekehrten zuschreiben. In Wirklichkeit hat der Apostel damit nur das Wesen des Christseins auf den Punkt gebracht.

Christus ist auferstanden! Mit diesem Bekenntnis steht und fällt unser Glaube. Und wir meinen damit: Gott hat erfahrbar bestätigt, dass die Liebe nicht vergebens und dass das Gelingen des Lebens nicht unmöglich ist, wo einer sein Leben ganz von Gott her und auf Gott hin anlegt - eben so wie Jesus es getan hat. Ja mehr noch: Auferstehung meint, dass durch seine Verbundenheit mit Gott menschliches Leben nicht einmal im Tod zerfällt, sondern sich sogar auch noch in der Preisgabe seiner selbst gerettet und vollendet wissen darf in der Hand des lebendigen Gottes. Gott selbst bestätigt: Jesus hat recht gehabt mit seinem Vertrauen zu mir. Das ist Auferstehung.

Mit Christus auferstanden ist jeder, der diesem Selbstzeugnis Gottes für seine Treue traut - nicht bloß mit dem Mund, sondern in der Sprache des gelebten Werktags: aus Gottvertrauen den Teufelskreis von Leistenmüssen und Geltenwollen durchbrechen und mich annehmen, wie ich bin: für einen zu kurz Gekommenen eintreten, auch wenn's mir zum Nachteil gereicht; mit denen, die nichts haben, teilen, ohne sich dabei selbst noch einmal großartig zu fühlen; einen eigenen Fehler eingestehen, um Vergebung bitten und anderen vergeben können; gewaltfrei aufständisch sein gegen jede Form von Unterdrückung - auch in der Kirche noch -, in all dem ereignet sich wirklich und anschaulich das Mitauferstandensein, auch wenn die Auferstehung in ihrer vollen Gestalt all diese ersten Zeichen weit hinter sich lassen wird. Zu solchem aufgerichteten, befreiten Leben befähigt zu sein, das ist unser ureigenes Erbe als Kirche Jesu Christi. Wie aber dürfte es dann ausgerechnet unter uns - den Erben - etwas geben, was sich diesem Vorgang der Auferweckung entgegenstellt? Die Trennung der einen Kirche in Konfessionen aber tut genau das. Sie dementiert den Angelpunkt des Glaubens, die siegreiche Macht der Liebe, und macht das mit Ostern eröffnete neue Leben zum unglaubwürdigen Gerücht.

Nicht von ungefähr sind Jesu letzte Worte vor seiner Passion im Johannesevangelium ein inbrünstiges, flehentliches Gebet um die Einheit der Seinen, wie wir vorhin gehört haben: Alle sollen eins sein: Wie du Vater in mir bist und ich in dir, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast. Jesus hat uns gekannt und um die große Versuchung seiner Kirche gewusst, die Ver-suchung, am Ende doch wieder der Ausübung von Macht und den Hierarchien, den angeblich heiligen Herrschaften mehr zu trauen als der verletzlichen, nicht mehr kontrollierbaren Liebe.

V.

Eben das hat die Kirche ja in die unseligen Spaltungen getrieben. Und eben das hindert die Konfessionen bis heute daran, die längst gegebenen Wege einer Wiedervereinigung überhaupt ernstzunehmen. Es ist ja bezeichnend, dass ausnahmslos alle immer noch bestehenden Uneinigkeiten ihren Ausgang bei der jeweiligen Auffassung des kirchlichen Amtes einschließlich des Papsttums nehmen. Würde die Ausübung des gewiss konstitutiven Amtes in der Kirche auf allen Ebenen endlich vom Eindruck - und nicht nur vom Eindruck! - arroganten Machtgebarens befreit, selbst die sensibelsten Probleme erwiesen sich als lösbar! Die Sympathie, das gemeinsame Leiden an dem, was Christus, dem Herrn, geschuldet wird - oder ganz einfach: die Liebe, sie hat noch allemal das sogar scheinbar Unüberbrückbare zusammengebracht mit der Kraft ihrer unerschöpflichen Phantasie:

Im Jahre 1888 starb im holländischen Roermond ein Ehepaar, die Frau wenige Monate nach dem Mann. Die beiden waren konfessionsverschieden gewesen, er katholisch, sie evangelisch. Die feindschaftliche Trennung zwischen den Konfessionen untersagte strikt, dass beide in einem gemeinsamen Grab bestattet wurden. Aber weil die Verwandten beider Seiten wussten, wie sehr die zwei sich geliebt hatten, ersannen sie einen Ausweg: Der evangelische und der katholische Friedhof lagen direkt nebeneinander und waren nur durch eine Mauer getrennt. So legte man die beiden Gräber mit dem Kopfende unmittelbar an die Trennmauer und zog die Grabsteine so hoch, dass sie die Mauer überragten. Und an der Spitze wurden beide verbunden durch einen Marmorstein in der Gestalt zweier Hände, die einander festhielten. Der Maler-Priester Herbert Falken aus Aachen hat dem Grabstein eine ganze Bilderserie gewidmet und darin die Macht der Liebe für die Augen meditiert. Liebe ist erfinderisch. Keine Trennung wird ihr widerstehen. Je mehr sich die Kirchen auf ihren Herrn und seine Botschaft von Gott besinnen, desto eher werden sie sein können, wozu es sie überhaupt gibt. Darum beten wir in diesen Tagen.