Geburtsengel
2. Adv C: Ri 13,2-7.24-25a + Lk 1,5-25 (Lesung zugewählt vom 19.12., Evangelium vorgezogen vom Fest 8.12.)
I.
Es gibt ein christliches Thema, das hat derzeit Konjunktur wie kein anderes – aber nicht in der Theologie, sondern außerhalb: die Engel. Im Buchhandel sind derzeit etwa 90 einschlägige Titel lieferbar, die meisten aus Verlagen, die sonst einen großen Bogen um Kirchliches machen. Keine Museumsladen, der nicht Karten mit den wunderbaren Engeln Paul Klees führte. Filme wie Jean-Luc Godards "Maria" oder Wim Wenders "Engel über Berlin" mit Engeln als den heimlichen Protagonisten galten binnen weniger Jahre als Klassiker. Angesehenste Maler unserer Tage, ein Arnulf Rainer, ein Herbert Falken, widmen den Engeln ganze Werk-Serien.
II.
Vielleicht macht sich in ein paar Jahren einmal jemand Gedanken darüber, woher denn diese Konjunktur der Engel in diesen Jahren kam. Und vielleicht stellt sich dabei heraus – ich bin mir ziemlich sicher sogar: Es hat mit der Weise zu tun, wie wir heute unser Dasein, unsere Welt erleben: Gnadenlos. Unzählige vermögen einfach nicht mehr zu erkennen, wofür es sich eigentlich zu leben lohnt; die meisten rennen mit, der eine oder andere legt Hand an sich. Für Viele ist kein Ziel mehr da; und sich selber sind sie fremd geworden. Woher auch käme sonst der unbändige Drang, sich zu betäuben mit Lärm und Action, mit dem Fusel aus dem Aldi-Regal oder gleich dem harten Stoff. Sensible wie Künstler zumal spüren das, spüren dem nach weit unter die Oberfläche hinab: Sie bohren, ringen, gestalten, verdichten, schleudern heraus, was ihnen momenthaft aufblitzt – und schaffen Bilder mit Engeln.
III.
Was solchermaßen buchstäblich herauskommt, könnte biblischer gar nicht sein. Denn auch in der Bibel treten Engel oft dann auf, wenn Krisen und Katastrophen eintreten, wenn Menschen den Boden unter den Füßen zu verlieren drohen, weil sie nicht mehr hoffen können oder weil etwas geschieht, was sich ihrem eigenen Vermögen und Verfügen kategorisch entzieht. Engel sind immer Grenzgänger, Mittelsleute: Wesen zwischen Traum und Tag, zwischen der Oberfläche und der Innenseite dessen, was geschieht. Eines der schönsten Engelbilder, die ich je gesehen habe, war ein moderner Gobelin, von einer Ordensfrau geschaffen: Fast der ganze Bildraum eingenommen von einer gleißenden Sonne, in der Mitte ganz zart, kaum wahrzunehmen, angedeutet das Tetragramm JHWH, nach außen in ein immer satteres Gelb übergehend. Und den Rand der Sonne bildete die rundum laufende Kette aller biblischer Szenen, in denen Engel auftreten, angefangen von den drei Männern, die zu Abram und Sarai kommen über den Engel, der Bileams Eselin in den Weg tritt, bis zu den neutestamentlichen Auftritten dieser Gottesboten, in der Geschichte von der Versuchung Jesu etwa oder in der Offenbarung des Johannes. Und natürlich auch dabei die Szenen aus den heutigen Schriftlesungen.
Aber vielleicht ist auch dieses gelungene Bild noch viel zu ungenau, weil zu dinghaft. Darum anders gewendet: Tritt in der Bibel ein Engel auf und sagt etwas oder spricht mit jemand, dann ist er so etwas wie ein bildhaft gewordener Gedanke Gottes über etwas oder von jemandem. Der Engel und seine Botschaft bringen zum Ausdruck, wie etwas oder jemand von Gott dem Wesen nach gemeint ist. Darum begegnet das Sinnbild des Engels überall dort, wo mit letztem Ernst um das Wesensmaß eines Geschehens oder eines Lebens gerungen wird, oder um einen Grund, der zu tragen vermag.
IV.
Von daher wird auch spontan verständlich, warum die biblischen Engel in der Vielzahl ihrer Auftritte eine Aufgabe in auffälliger Häufung wahrnehmen. Viermal kündigen sie Geburten an: Diejenige Isaaks, die Simsons, die des Täufers Johannes und die Geburt Jesu. Und jedes Mal deutet der betreffende Geburtsengel, was es um den sein wird, dessen Geburt er ansagt. Indem der Engel kundtut, was dieser Mensch für Gott bedeuten wird, sagt er etwas über Gott selbst. Isaak ist die menschgewordene Treue Gottes, auf die wider alles menschliche Scheinen und Vermeinen Verlass ist: Weil Gott ist, wie er ist, wird dem greisen Abraham und seiner alten Sarai der verheißene Sohn geschenkt, über den der verheißene Segen sich über die Welt zu breiten beginnt. Der Simson aus dem Richterbuch steht für das, was Gott den Seinen von Wesen zugedacht hat: die Freiheit. Darum wird er eines persönlichen Geburtsengels gewürdigt. Er trägt Gottes großes Versprechen auch in der Zeit der Bedrängnis weiter. Und selbst Simsons späteres Versagen, dass er der heidnischen Deliah das Geheimnis seiner gottgeschenkten Kraft verrät, und sein daraus folgender Untergang dementieren das nicht. Beides deckt nur auf, dass Freiheit im Geheimnis Gottes verankert sein muss, soll sie nicht an sich selbst zu Grunde gehen. Der Täufer Johannes schließlich, unser besonderer Begleiter in diesen Tagen des Advent, verkörpert kraft seines Kommens, was Gott ins Werk setzt und um sein Volk ringt, um die Verheißung des Anfangs durchzutragen und das riskante Geschenk der Freiheit nicht widerrufen zu müssen: Johannes ist so etwas wie die menschgewordene Versöhnungsbereitschaft Gottes.
V.
Und Jesus? Man braucht nur zu hören, was sein Geburtsengel sagt: Jesus, Jeshua soll er heißen, denn er wird sein Volk von seinen Sünden erlösen. Von Sünden erlösen kann nur Gott. Das ist sein Innerstes: Denn Sünden erlösen heißt soviel wie: Gott nimmt sich dessen an, was gegen ihn steht und "nein" zu ihm sagt. Sich dieses Neins anzunehmen, also es nicht einfach nochmals verneinen, sondern ohne ein "nein" gleichsam zu verwinden, ohne ihm zu unterliegen – das ist Erlösung. Jesus, sagt sein Geburtsengel, ist das menschgewordene Ja Gottes, das sich auch vom menschlichen "nein" nicht abbringen lässt. Jesus ist das Innerste Gottes in Menschengestalt.
Was das bedeutet, versteht am ehesten, wer eine solche traumnahe Engelsbotschaft nicht begrifflich seziert, sondern sozusagen etwas nachträumt, gerade so, wie das der Hl. Ignatius von Loyola in seinem Exerzitienbuch vorschlägt und uns dazu einlädt, uns mit Herz und Gefühl in die biblischen Szenen hineinzuversetzen. Versuchen Sie es einfach einmal - jetzt: Sie sind Maria! Und dann sagt der Engel, dieses Ihr vollkommenes Bild in Gottes Gedanken, zu Ihnen: Der Herr ist mit dir! Da ist wirklich Grund zu erschrecken, wenn Gott selbst mir so nah steht. Mein Engel sagt mir, Ihr Engel sagt Ihnen: Fürchte dich nicht, denn du hast bei Gott Gnade gefunden. Gott schaut mit den Augen der Güte und Liebe auf dich. Das tut einem Menschen in der Seele gut. Und dann sagt der Engel: Du wirst ein Kind empfangen, einen Sohn wirst du gebären, dem sollst du den Namen Jesus – d. h. Gott rettet – geben.
Über dieses Stück Evangelium haben schon Viele viel Dummes gesagt, und Leute, die sich für sehr gescheit halten, haben noch einmal Dummes gesagt über die Dummheiten, die sie über die Jungfrauengeburt gehört haben. Dabei ist es ganz einfach. Denken Sie nur an unsere alte Regel. Sie sind Maria. Sie und Sie. Und ich. Du wirst ein Kind gebären, d. h. in jeder und jedem von uns will etwas Neues heranwachsen. In dir und dir fängt, wenn du dich deinem Engel, der Traumstimme Gottes in dir, öffnest, ein neues Leben an – ohne Zutun von uns selbst; darum ist bei diesem neuen Leben, das das Evangelium meint, kein Mann im Spiel – Sinnbild für das Unverhoffte, das Geschenkhafte, Über-Natürliche, das er ankündigt.
Was aber heißt das überhaupt: In dir will neues Leben keimen? Es heißt genau das, was diese Worte sagen: Du Mensch, egal, wie alt, egal wie arm, egal wie angeschlagen du vielleicht bist, du kannst noch einmal neu anfangen mit dem Leben. Völlig egal, was bisher gewesen ist, du bist nicht eingesperrt in deine Vergangenheit. Und wie geht das – neu anfangen, wo wir doch mitten im Alten stehen? Schauen wir, was Maria tut! Sie sprach: Ich bin die Magd des Herrn, mir geschehe, wie du es gesagt hast. Neu anfangen beginnt mit einem Vertrauen, das sich Gott anheim gibt. Das Neue in uns kann beginnen, wenn wir ganz Ohr sind für das, was Gott uns zu sagen hat. Von Ganz-Ohr-Sein kommt das Wort "gehorsam" jene Grundhaltung, die Maria im Evangelium mit dem "Magd sein" meint, etwas, von dem wir unter Menschen aus guten Grund nur noch mit Vorsicht Gebrauch machen, ohne das wir freilich nichts von dem vernehmen könnten, was Gott uns zu sagen hat.
Und was hat er zu sagen? Wieder einfach: Alles, was Jesus gepredigt und getan hat. Denn dazu hat Maria ihn geboren, weil Gott selbst auf ganz und gar unmissverständliche und darum menschliche Weise zu uns hat reden wollen. Das ist einzigartig, ein Wunder, das sich kein Mensch vorher hätte ausdenken können. Gott spricht zu uns auf Du und Du. Und damit wir gleichsam von den ersten Zeilen an schon erahnen, was es mit Jesus auf sich hat, darum erzählt das Evangelium von seiner Geburt so, dass dieses Ereignis selber als Sinnbild für das wunderbare neue Leben steht, das Jesus mit seinen Worten und Taten in jedem Menschen wecken will. In Jesu Kommen fallen Bote und Botschaft, medium und message, wie man heute sagt, radikal ineins.
VI.
Bedenken Sie, wie wir jetzt an diese innerste Mitte des Evangeliums gelangt sind: dadurch, dass wir uns ein wenig einzufühlen suchten in der Gestalt Marias, wie sie uns Lukas gezeichnet hat! Von diesem Zusammenhang her wird auch wie von selbstverständlich, was das Fest eigentlich eint, das wir morgen feiern: Die Glaubensrede von der ohne Erbsünde empfangenen Jungfrau Maria ist sozusagen das sprachgewordene Licht, das von dem Ziel, das wir erreicht haben, auf den Weg zurückstrahlt, der zu diesem Ziel geführt hat. Wir hatten Marias Gottesbegegnung meditiert und waren dadurch zu Jesus gekommen als demjenigen, durch den jede und jeder, der glaubt, an sich selbst erfahren darf, was mit Maria geschah. Was wir so mit ihr gemeinsam haben, verdankt sich dabei dem Einmaligen, das durch Jesus geschah. Klar, dass denjenigen Punkt der Welt und Geschichte bei aller Gemeinsamkeit etwas Besonderes prägt, durch den das Wunder des durch Gott geschenkten neuen Lebens in den Zusammenhang von Welt und Geschichte eintritt. An ihm – also an Maria – leuchtet im Widerschein etwas von dem auf, was die einmalige Initiative Gottes – als Jesus – bedeutet: Er lebt und schenkt im Glauben ein Leben, das mit Gott versöhnt, d. h. vom Zwang befreit ist, aus Angst um sich und Angst vor Gott sich schuldig machen zu müssen und das ganze Netzwerk der Beziehungen zu zerstören, in die eingebunden allein Leben möglich ist, das den Namen "menschlich" verdient. Jesus bricht dieses Verhängnis auf, indem er vom bedingungslos treuen Gott kündet und sich für seine Predigt bis zum letzten verbürgt, um uns von der Vertrauenswürdigkeit Gottes zu überzeugen. In der Sprache des Glaubens sagen wir dafür: Er hat die Macht der Sünde gebrochen und uns erlöst. Der Punkt der Welt, an dem dies menschliche Wirklichkeit wird, gehört selbst ganz in dieses Befreiungsgeschehen hinein und ist darum von der Sünde bewahrt geblieben. So spiegelt sich an ihr auf einmalige Weise, was Jesus für alle gebracht hat. Und dass sie diese Freiheit – oder anders gesagt: Gnade – also nicht für sich, sondern durch Jesus empfängt, ist das Verbindende zwischen ihr und uns.
VII.
Wann immer sich so etwas von Gott menschlich, also auf Du und Du gleichsam mitteilt, ist das ein Wunder, etwas zwischen Traum und Tag. Darum mussten der Isaak der Treue Gottes, der Simson der Freiheit, der Johannes der Versöhnung zur Welt kommen auf eine Weise, die etwas ahnen lässt von diesem Wunderbaren ihres eigenen Wesens. Deshalb gehen diese drei aus einem erstorbenen oder verschlossenen Mutterschoß hervor, damit offenbar werde: Solches kann von Gott allein nur kommen. Wenn Gott selbst sein Innerstes preisgibt freilich wie in Jesus, dann reicht nicht mehr, was zu natürlichem Werden und Vergehen gehört, um von diesem Wunder zu künden. Weil wunderbarer als wunderbar ist, was Gott da tut, das muss wunderbarer als wunderbar sein, wie Menschen mit ihren armseligen Worten davon erzählen.
In gut vierzehn Tagen werden wir Jesu Geburtstag feiern. Heute haben wir von der Geburt Simsons gehört, und an die Isaaks und die des Täufers Johannes gedachtt. Das ist eine Übung für das rechte Hören von Engelsstimmen. Nur wer sie wahrzunehmen vermag, wird auch verstehen, was die Engel von Nazaret und Bethlehem zu künden haben.