Mystagogische Zeichenpredigt Altar

Karfreitag – Nackt und bloß

I
Man merkt es sofort beim Betreten der Kirche heute: Etwas ist anders. Und nicht lange und man weiß auch, was: der Altar – kein weißes Tuch, keine Kerzen, kein Schmuck. Nur der entblößte Tisch. Alles abzuräumen, das war gestern der letzte Akt des Abendmahlsgottesdienstes. In ihm geht es nicht einfach um verringerte Feierlichkeit, sondern um das Nacktsein.

II
Dieses elementare und existentielle Zeichen hat seit je einen wichtigen Platz im christlichen Gottesdienst. In der alten Kirche etwa legt der Taufbewerber vor Empfang des Sakraments alle Kleider ab, steigt nackt ins Taufbecken hinab, nackt wie Christus am Kreuz. Und wenn er dann aus der Taufe heraufsteigt, wird er in reines, festliches Leinen gekleidet, das Festgewand für das erste Abendmahl.

Aber auch die Büßer legten ihre Kleider ab, hüllten sich bis zur Wiederversöhnung mit der Gemeinde in ein härenes Gewand, meist ein Geflick aus Lumpen. So verzichteten sie auf Rang und Würde, und durch die teilweise damit einher gehende Nacktheit vergegenwärtigten sie sich und den anderen ihre Scham über das Getane. Wenn nicht alles täuscht, sind das Taufkleid und das Büßerhemd die frühesten liturgischen Gewänder gewesen, noch vor allen Caseln, geschweige denn Ornaten.

III
Die Entblößung des Altares gestern Abend und der nackte Altar heute stehen mit diesen alten Riten in engster Verbindung. So wie bei der Taufe das Niederlegen der Kleider den Tod des alten Menschen versinnbildet, wird in der Entblößung des Altares die Verwüstung und Zerstörung des Heiligsten, d.h. der Tod Christi dargestellt. Aus mittelalterlichen Liturgiebüchern wissen wir, dass in großen Kathedralkirchen der Ritus geradezu theatralisch inszeniert wurde: Berittene Diakone sprengten mit dem Pferd ins Gotteshaus und rissen mit ihren Lanzen die Tücher und Kerzen von den Altären. Das mag uns Heutigen reichlich überzogen vorkommen. Dennoch drückt sich darin bis zum Grunde aus, worum es auf Gologota wirklich geht: um nichts anderes als die Begegnung zwischen Gott und dem Chaos, zwischen dem Leben und dem Abgrund des Nichts. Und dieser Kampf wurde an Jesus ausgetragen, weil er ihn auf sich nahm. Und Warum?

IV
Weil erst in dieser allerletzten Möglichkeit seines Lebens sein Leben und die Botschaft, die es war, auf nicht mehr zu widerlegende Weise glaubhaft werden konnten und geworden sind. Der Mensch Jesus ist im Gang seines durchaus seltsamen Lebens immer tiefer in die glaubende Gewissheit hineingewachsen: Gott, der Gott unserer Väter, der Gott Israels, der in der Sternstunde seiner Geschichte mit diesem Volk die Zusage gab: Ich bin der Ich-bin-da-für-euch, und immer und jedes Mal wieder – dieser Gott braucht mich, unverzichtbar. Durch mich will er den Menschen etwas sagen, was noch niemand gehört hat, aber im Grunde alle schon immer hören wollten und wollen: dass jenes Ich-bin-da-für-euch Gottes unbedingt gilt und durch nichts widerrufen werden kann: durch Not nicht, durch Leid nicht, durch Schuld nicht, nicht einmal durch den Tod. Seine Predigt in den einfachen Gleichnissen der Landleute und Fischer, seine Zuwendung gerade zu denen, die nichts zu bieten und zu hoffen hatten und am allermeisten zu denen, die ihr Ansehen durch Schuld scheinbar oder tatsächlich verwirkt hatten, sein Gespür für das Bedürfen der Menschen, ihren Hunger, ihren Schmerz, ihr Leid, ihre Angst -, das alles ordnete sich um dieses unsichtbare, innere Zentrum seiner Sendung wie die Eisenspäne um einen Magneten.

Je tiefer Jesus in diesen seinen Auftrag hineinwuchs, desto klarer trat ihm vor Augen: Diese Zusage Gottes will nicht nur ausgesprochen sein, wenn sie Glauben finden soll. Sondern dann muss sie auch gelebt, verkörpert werden im buchstäblichen Sinn. Und genau dieses Weltlichwerden des innersten Geheimnisses, das hat Jesu Gegner so auf die Palme gebracht: Das Leute-gesund-Machen am Sabbat, das Mit-den-Sündern-Essen, die Kritik an den Selbstzweck und Alibi gewordenen religiösen Bräuchen – das alles war ja nichts anderes als durch und durch weltlich, diesseitig gewordener Gott nach Jesus-Art.

Genau von diesem auf den Leib gerückten Gott wollten die Widersacher Jesu nun endgültig wissen, was es mit ihm auf sich hat und sie waren sich ihrer Sache gänzlich sicher. Dieser Gott war ja greifbar für sie in Jesus, greifbar im buchstäblichen Sinn. In ihm setzte sich Gott ja, wenn es denn wirklich Gott war, – er setzte sich ihnen aus. In Jesus hatte seine Zusage des Ich-bin-da-für, sein Innerstes, Fleisch und Blut – und sie war verletzlich. Als es ihnen endlich zu viel war, legten sie darum Hand an Jesus.

Und was geschah? Nichts. Nichts. Verstehen Sie, was das bedeutet? Gott, sein nach außen gekehrtes Innerstes, was er durch und durch ist, wird getötet. Und es geschieht – nichts. Gott ist so Gott, dass er auch das noch aushält. Er hält das Umgebrachtwerden aus, erhält darum noch in seinem Totsein seine Zusage aufrecht. Ich-bin-der-ich-bin-da-für-euch. Glaubt ihr es jetzt wenigstens? Dass ich es vermag und dass ich es tue?

V
Man kann das nur noch schwer denken, es geht ja auch um buchstäblich alles. Vielleicht ist es darum gut, wenn wir uns für einen Augenblick auf ein Gedankenexperiment einlassen: Was wäre gewesen, wenn am Karfreitag anderes geschehen wäre, als geschah, nämlich nichts? Angenommen, Gott hätte das nicht mehr aushalten wollen, auch noch getötet zu werden, von denen, die von ihm leben. Oder angenommen – ich sage es einmal einfach so –, Gott hätte das nicht mehr aushalten können, weil im allerletzten doch der Chaosrachen des Todes stärker gewesen wäre: Was wäre dann geworden? Dann wäre im Augenblick des Sterbens Jesu am Karfreitag die Welt zerborsten. Sie hätte ja ihren alles tragenden Grund verloren. Sie wäre einfach nicht mehr.

VI
Vielleicht müssen wir in unserem Gedankenexperiment noch einen Schritt tun: Wenn die Welt nicht mehr sein könnte, wenn Gott nicht das Sterben ausgehalten hätte – dann gibt es ja so etwas wie einen Beweis dafür, dass er es ausgehalten hat. Dieser Beweis sind – wir. Wir mitsamt unserer Welt. Es könnte uns nicht geben, wenn der Tod dem Innersten Gottes etwas hätte anhaben können. Aber es gibt uns ja.

Nochmals steiler gewendet: Der schiere Gedanke, dass überhaupt nichts ist, wird von dem Gedanken, dass überhaupt nichts ist, gleichsam durchgestrichen: Indem der Gedanke gedacht wird, dass überhaupt nichts ist, ist ja etwas – nämlich eben dieser Gedanke, dass überhaupt nichts ist. Zwar ist es nicht unmöglich, dass es nichts gibt, aber es ist unmöglich zu denken, dass es nichts gibt – weil es dann ja diesen (und viele anschließende) Gedanken gibt – und uns, die wir diese Gedanken denken. Gibt es aber überhaupt etwas, muss es auch Gott geben – ihn, den alles tragenden und aus sich freisetzenden Urgrund des Universums.

Ob das nicht vieles ändern müsste an der Weise, wie wir von uns selber und voneinander, wie wir von Gott denken – und vor allem, wie wir vom Kreuz denken? Das Kreuz ist der Beweis der unbedingten Verlässlichkeit Gottes – und unser Dasein ist seine Besiegelung. Ob wir uns aber dann noch vor etwas oder vor jemandem fürchten müssen? Nicht einmal vor der Nacht, in die alle, die uns nahe sind und einmal wir selber weggehen werden.

VII
Deshalb tun wir Recht, wenn wir in der anhebenden Osternacht morgen den Altar festlich decken mit weißem Linnen, ihn schmücken mit Kerzen und Blumen. Genau so wie der nackte Neugetaufte sein weißes Taufkleid erhielt, geschmückt zum Fest seines neu geschenkten Anfangs. Im Grunde wird der Altar durch dieses festliche Bereiten neu errichtet – der Weltenberg mit dem Kreuz als dem Weltenbaum über ihm, der Weltachse, um die sich alles ordnet. Ort der Begegnung mit dem Gott, der auch dem Nichts noch standhält. Und wer, wenn nicht er, wäre der rechte Adressat, wenn wir jetzt bei der Kreuzverehrung gleich singen:
Hagios ho Theos
Hagios ischyros
Hagios athanatos, eleison hymas –

Heiliger Gott,
Heiliger starker Gott,
Heiliger unsterblicher Gott, erbarme dich unser.