Was Gott überwältigt
Taufe Jesu B: Mk 1,7-11
I
Im Herbst 2008 tauchte in der Presse ein Name auf, den man schon lange nicht mehr gehört hatte: Oswald Kolle – der Aufklärer der Nation in den wilden 60er Jahren. Jetzt feierte er seinen 80. Geburtstag, brachte aus diesem Anlass auch eine Autobiographie heraus, Titel: „Ich bin so frei“. Das Buch war noch peinlicher, als wenn gelegentlich eitle Professoren-Pensionisten meinen, der Nachwelt ihre Großartigkeit in Erinnerung bringen zu sollen. Jedenfalls erzählt Kolle da auch von seiner 48jährigen Ehe mit seiner Frau Marlies, wie er aber dessen ungeachtet im Sexuellen alles Mögliche ausprobiert, wie viele Affären und mit wem er sie gehabt habe. Kolle flog nach Paris oder Kitzbühel zu seinen amourösen Abenteuern, seine Frau blieb derweil daheim und hielt die Familie mit den drei Kindern zusammen und ihrem Mann den Rücken frei. Und wenn es wieder mal eng wurde, weil der Herr Gemahl bei seinen Abenteuern alles durchgebracht hatte, sagte sie – wörtlich: Wir kommen schon durch. Ich kann auch putzen gehen.
II
Eine Ehefrau, die sich nicht zu schade ist putzen zu gehen, wenn der Mann meint, seinem Ideal der Libertinage zu frönen. Was muss das für eine starke Frau gewesen sein! Und was für eine Liebe. Was muss ihr ihr Mann bedeutet haben, dass sie so viel dran gibt von sich für ihn, bis an die Grenze der eigenen Würde im Grunde?! So einfach hin verstehen kann man das wohl gar nicht – es sei denn, jener Mensch lebt aus einer Quelle, deren Kraft von anderswoher kommt, wie man so sagt, von jenseits dessen, was er aus Eigenem zu erbringen vermag.
III
Aber ist es nicht genau das, was Christinnen und Christen eigentlich verstehen müssten, weil sie es ziemlich gut kennen – kennen aus dem Leben dessen, nach dem sie sich benennen? In der Tat fängt ja das öffentliche Leben Jesu exakt mit einer solchen Szene an, einer – menschlich gesprochen – Selbstverdemütigung, die es in sich hatte: mit der Taufe Jesu im Jordan. Kein Wunder, dass diese Geschichte bei den ersten Christen ziemlich Wirbel gemacht hat – bis dahin, dass manche Gemeinden der Meinung waren, sie müsse aus dem Evangelium getilgt und dürfe überhaupt nicht mehr weitererzählt werden.
Diese Aufregung ist auch ganz verständlich. Da ist Johannes, dieser beinharte Bußprediger und Prophet des Gerichts. Er, der unbestrittene Mann Gottes, nach einem späteren Wort Jesu der Größte von einer Frau Geborene, also der am meisten Gott Nahestehende. Er kündigt an, nach ihm werde einer kommen, der nicht nur wie er – Johannes – mit Wasser, sondern mit Heiligem Geist tauft, also einer, der spektakulär die Dinge beim Namen nennen und ebenso spektakulär zum Durchbruch bringen werde, was Gottes Wille ist.
Und was passiert wirklich? Jesus, den das ganze Evangelium als den Boten schlechthin bekennt, als den, der wahrheitsgetreu sagt, wer und wie Gott ist und der deshalb zurecht Gottes Sohn genannt wird, – eben dieser Jesus kommt an den Jordan und sieht die Menschen, die sich guten Willens und getrieben von der Wahrhaftigkeit von Johannes untertauchen lassen, also bekennen, dass sie neu anfangen müssen mit sich, wenn es gut ausgehen soll mit ihnen in den Augen Gottes. Als er das sieht, sagt er nicht gönnerhaft: Gut, Leute, so ist’s richtig! Sondern: er selber, er, den absolut nichts von Gott trennt, er, der das absolut nicht nötig hätte, er stellt sich auf den Platz der von Gott Getrennten, der Sünder, und lässt sich darum taufen von Johannes.
In dem Augenblick, da er mit dem Zeichen des Getauftwerdens zu Gott fleht, diese gnadenlose Zerrissenheit zwischen ihm und seinen Geschöpfen möge zu Ende kommen, da sah er – hören wir – , dass der Himmel sich öffnete und der Geist wie eine Taube auf ihn herabkam. Auf seine Vergebungsbitte hin tut sich auf, was seit Adam verschlossen war. Und er wird sich darüber klar, dass Gott ihn selbst in den Dienst dieser Versöhnung von Himmel und Erde stellt. Darum – so sieht Markus es – steht der Himmel offen, wo Jesus ist. "Wie eine Taube" nennt der Evangelist die Verbindung zwischen oben und unten, die durch Jesus geschieht. Damit spielt er natürlich auf das Hoffnungszeichen aus der Sintflutgeschichte an, die Taube, die Noach aussendet und die ihm mit dem Ölzweig den allerersten Gruß neuen Lebens bringt. Aber genauso bedeutsam: Im Alten Orient galt die Taube weit verbreitet als Hochzeitsvogel, als Sinnbild also von Lebensbund, Neubeginn und Liebe. Sie, die Liebe, die überschwängliche, die manchmal verrückte, durch nichts zu beirrende, mit nichts aufzuwiegende, sie ist es, die das Zerrissene wieder heilen, die Kluft wieder schließen kann, aus der das Böse aufsteigt – und ein leiser Widerschein davon, der ist es auch, was dem Leben der Marlies Kolle jene ernste Würde gibt, die ihm eignet.
Die Himmelsstimme, die Jesus zu dieser seiner Vision dazuhört, bestätigt ihm das: Du bist mein geliebter Sohn. Und das ist seinerseits ein Vers, in dem Kernworte aus allen drei Teilen der jüdischen Bibel, also der Bibel, wie Jesus selbst sie las, anklingen: Einer aus der Tora, nämlich der Spitzengeschichte der Abrahamserzählung, wo Gott selbst den Isaak als den bezeichnet, den Abraham als seinen Einziggeborenen liebhat; dann ein Vers aus den Prophetenbüchern, Jesaja 42,1, den wir auch in der ersten Lesung hörten, wo Gott seinen Knecht den nennt, an dem er Gefallen findet und auf den er seinen Geist legt; und dann spielt aus dem dritten Teil der Bibel auch der Psalm 2 Vers 7 hinein, der die Erwählung des Königs durch Gott proklamiert: Mein Sohn bist du, heute habe ich dich gezeugt. Abrahams Verheißungssohn, der Gottesknecht und der königliche Messias zugleich, die ganze Schrift – nur wer diesem Netzwerk der Anklänge nachspürt, ahnt etwas von dem Gewicht, das auf dem Schlussvers des heutigen Evangeliums ruht. Ein Gebirge von Erwartung, das im Innern vor Hoffnung glüht.
Von daher kommt auch erst wieder die ganze Dramatik der Geschichte von Jesu Taufe in Blick, die uns ansonsten durch die Vertrautheit der Episode verdeckt ist. Ist es doch kein anderer als Gott selbst, der in seinem Liebsten, seinem Herzenskind, in dem, der untrennbar zu ihm gehört und seit je sein Innerstes ausmacht, die – ja, ich sage es so – Arbeit der Versöhnung auf sich nimmt, auf seine Kosten, für die ihm nichts zu viel ist, nicht einmal er sich selbst. Und das ja auch erst macht das wahre Wesen von Liebe aus.
IV
Gerade das ist ja das Aufregende, nein: das schlechthin Revolutionäre am Evangelium, dass es sagt: Mensch, in deiner oft nicht zu besiegenden Eigensucht baust du nicht nur Mist, sondern tust du schlichtweg Böses: Böses, das keiner entschuldigen und keiner gutmachen kann. Und trotzdem bist du nicht eingesperrt in das, was geschehen ist. Weil Gott selbst, dein Gott all das Zerstörerische – und das Zerstörte – in sich hinein nimmt und dadurch dir vergibt, wenn du ihn darum bittest. Erst wer glaubt, dass Gott das wirklich tut, vermag an sich selbst zu ändern, was nicht Bestand haben kann.
Dass wir Menschen aus den Verhängnissen unserer Schuld dadurch freikommen, dass wir Gott unsere Sünden aufladen dürfen, weil er so demütig ist, sie sich aufladen zu lassen, das ist ungeheuerlich. Aber einen anderen Weg, von Schuld wirklich erlöst zu werden, gibt es nicht. Freilich braucht es dazu auch unsererseits die Demut, bis zum Grunde einzugestehen, was wir auf uns geladen haben. Und das können wir, weil wir seit Jesu Taufe wissen: Gott steht uns zur Seite.
V
Im Gunde aber ist das alles immer noch viel zu schwach gesagt. Denn was da geschieht zwischen Gott und Mensch, wenn sich einer bekehrt und ihm vergeben wird, das ist alles viel abgründiger. Vielleicht kann man es nur erzählend andeuten. Dostojewskij hat das einmal getan, in der Szene von der Bäuerin mit dem Säugling in seinem Meisterwerk „Der Idiot“:
Eine noch junge Frau, das Kind etwa sechs Wochen alt. Das Kind lächelte sie an, wie sie meinte zum ersten Mal, seit es auf der Welt war. Ich sehe, wie sie sich plötzlich bekreuzigt, in tiefer, tiefer Andacht. Warum tust Du das, junge Frau? […] Ganz genau, sagt die, ganz genau wie die Freude einer Mutter, wenn sie ihr Kindlein zum ersten Mal lächeln sieht, ist die Freude des Herrn, wenn ER im Himmel sieht, wie ein Sünder aus vollem Herzen vor ihm zum Gebet niederkniet.
Das hat mir diese Frau gesagt, beinahe wörtlich, diesen tiefen, diesen innigen […] Gedanken, einen Gedanken, in dem das ganze Wesen des Christentums zum Ausdruck kommt – der Hauptgedanke Christi. Damit hat der Dichter ins Wesentliche geschaut und gesehen: Gottes Glück über die Umkehr ist der Kern des christlichen Umgangs mit der Sünde. Welch eine Revolution der Denkart unendlich jenseits all dessen, was Moral, selbst die Beste zu erreichen vermag! Um wie viel aber auch hinkt das Meiste der kirchlichen Praxis im Umgang mit Schuld hinter diesem Maßstab einher. Und dennoch bleibt wahr: Gott ist überwältigt von jedem Akt der Reue wie eine junge Mutter vom ersten Lächeln des Säuglings. Mag sein, dass dieses Bild, wenn wir es nur lange genug mit dem inneren Auge anschauen, die Kraft entfaltet, uns bestürzt sein zu lassen über das, was wir Gott und einander schuldig geblieben sind.
Im Herbst 2008 tauchte in der Presse ein Name auf, den man schon lange nicht mehr gehört hatte: Oswald Kolle – der Aufklärer der Nation in den wilden 60er Jahren. Jetzt feierte er seinen 80. Geburtstag, brachte aus diesem Anlass auch eine Autobiographie heraus, Titel: „Ich bin so frei“. Das Buch war noch peinlicher, als wenn gelegentlich eitle Professoren-Pensionisten meinen, der Nachwelt ihre Großartigkeit in Erinnerung bringen zu sollen. Jedenfalls erzählt Kolle da auch von seiner 48jährigen Ehe mit seiner Frau Marlies, wie er aber dessen ungeachtet im Sexuellen alles Mögliche ausprobiert, wie viele Affären und mit wem er sie gehabt habe. Kolle flog nach Paris oder Kitzbühel zu seinen amourösen Abenteuern, seine Frau blieb derweil daheim und hielt die Familie mit den drei Kindern zusammen und ihrem Mann den Rücken frei. Und wenn es wieder mal eng wurde, weil der Herr Gemahl bei seinen Abenteuern alles durchgebracht hatte, sagte sie – wörtlich: Wir kommen schon durch. Ich kann auch putzen gehen.
II
Eine Ehefrau, die sich nicht zu schade ist putzen zu gehen, wenn der Mann meint, seinem Ideal der Libertinage zu frönen. Was muss das für eine starke Frau gewesen sein! Und was für eine Liebe. Was muss ihr ihr Mann bedeutet haben, dass sie so viel dran gibt von sich für ihn, bis an die Grenze der eigenen Würde im Grunde?! So einfach hin verstehen kann man das wohl gar nicht – es sei denn, jener Mensch lebt aus einer Quelle, deren Kraft von anderswoher kommt, wie man so sagt, von jenseits dessen, was er aus Eigenem zu erbringen vermag.
III
Aber ist es nicht genau das, was Christinnen und Christen eigentlich verstehen müssten, weil sie es ziemlich gut kennen – kennen aus dem Leben dessen, nach dem sie sich benennen? In der Tat fängt ja das öffentliche Leben Jesu exakt mit einer solchen Szene an, einer – menschlich gesprochen – Selbstverdemütigung, die es in sich hatte: mit der Taufe Jesu im Jordan. Kein Wunder, dass diese Geschichte bei den ersten Christen ziemlich Wirbel gemacht hat – bis dahin, dass manche Gemeinden der Meinung waren, sie müsse aus dem Evangelium getilgt und dürfe überhaupt nicht mehr weitererzählt werden.
Diese Aufregung ist auch ganz verständlich. Da ist Johannes, dieser beinharte Bußprediger und Prophet des Gerichts. Er, der unbestrittene Mann Gottes, nach einem späteren Wort Jesu der Größte von einer Frau Geborene, also der am meisten Gott Nahestehende. Er kündigt an, nach ihm werde einer kommen, der nicht nur wie er – Johannes – mit Wasser, sondern mit Heiligem Geist tauft, also einer, der spektakulär die Dinge beim Namen nennen und ebenso spektakulär zum Durchbruch bringen werde, was Gottes Wille ist.
Und was passiert wirklich? Jesus, den das ganze Evangelium als den Boten schlechthin bekennt, als den, der wahrheitsgetreu sagt, wer und wie Gott ist und der deshalb zurecht Gottes Sohn genannt wird, – eben dieser Jesus kommt an den Jordan und sieht die Menschen, die sich guten Willens und getrieben von der Wahrhaftigkeit von Johannes untertauchen lassen, also bekennen, dass sie neu anfangen müssen mit sich, wenn es gut ausgehen soll mit ihnen in den Augen Gottes. Als er das sieht, sagt er nicht gönnerhaft: Gut, Leute, so ist’s richtig! Sondern: er selber, er, den absolut nichts von Gott trennt, er, der das absolut nicht nötig hätte, er stellt sich auf den Platz der von Gott Getrennten, der Sünder, und lässt sich darum taufen von Johannes.
In dem Augenblick, da er mit dem Zeichen des Getauftwerdens zu Gott fleht, diese gnadenlose Zerrissenheit zwischen ihm und seinen Geschöpfen möge zu Ende kommen, da sah er – hören wir – , dass der Himmel sich öffnete und der Geist wie eine Taube auf ihn herabkam. Auf seine Vergebungsbitte hin tut sich auf, was seit Adam verschlossen war. Und er wird sich darüber klar, dass Gott ihn selbst in den Dienst dieser Versöhnung von Himmel und Erde stellt. Darum – so sieht Markus es – steht der Himmel offen, wo Jesus ist. "Wie eine Taube" nennt der Evangelist die Verbindung zwischen oben und unten, die durch Jesus geschieht. Damit spielt er natürlich auf das Hoffnungszeichen aus der Sintflutgeschichte an, die Taube, die Noach aussendet und die ihm mit dem Ölzweig den allerersten Gruß neuen Lebens bringt. Aber genauso bedeutsam: Im Alten Orient galt die Taube weit verbreitet als Hochzeitsvogel, als Sinnbild also von Lebensbund, Neubeginn und Liebe. Sie, die Liebe, die überschwängliche, die manchmal verrückte, durch nichts zu beirrende, mit nichts aufzuwiegende, sie ist es, die das Zerrissene wieder heilen, die Kluft wieder schließen kann, aus der das Böse aufsteigt – und ein leiser Widerschein davon, der ist es auch, was dem Leben der Marlies Kolle jene ernste Würde gibt, die ihm eignet.
Die Himmelsstimme, die Jesus zu dieser seiner Vision dazuhört, bestätigt ihm das: Du bist mein geliebter Sohn. Und das ist seinerseits ein Vers, in dem Kernworte aus allen drei Teilen der jüdischen Bibel, also der Bibel, wie Jesus selbst sie las, anklingen: Einer aus der Tora, nämlich der Spitzengeschichte der Abrahamserzählung, wo Gott selbst den Isaak als den bezeichnet, den Abraham als seinen Einziggeborenen liebhat; dann ein Vers aus den Prophetenbüchern, Jesaja 42,1, den wir auch in der ersten Lesung hörten, wo Gott seinen Knecht den nennt, an dem er Gefallen findet und auf den er seinen Geist legt; und dann spielt aus dem dritten Teil der Bibel auch der Psalm 2 Vers 7 hinein, der die Erwählung des Königs durch Gott proklamiert: Mein Sohn bist du, heute habe ich dich gezeugt. Abrahams Verheißungssohn, der Gottesknecht und der königliche Messias zugleich, die ganze Schrift – nur wer diesem Netzwerk der Anklänge nachspürt, ahnt etwas von dem Gewicht, das auf dem Schlussvers des heutigen Evangeliums ruht. Ein Gebirge von Erwartung, das im Innern vor Hoffnung glüht.
Von daher kommt auch erst wieder die ganze Dramatik der Geschichte von Jesu Taufe in Blick, die uns ansonsten durch die Vertrautheit der Episode verdeckt ist. Ist es doch kein anderer als Gott selbst, der in seinem Liebsten, seinem Herzenskind, in dem, der untrennbar zu ihm gehört und seit je sein Innerstes ausmacht, die – ja, ich sage es so – Arbeit der Versöhnung auf sich nimmt, auf seine Kosten, für die ihm nichts zu viel ist, nicht einmal er sich selbst. Und das ja auch erst macht das wahre Wesen von Liebe aus.
IV
Gerade das ist ja das Aufregende, nein: das schlechthin Revolutionäre am Evangelium, dass es sagt: Mensch, in deiner oft nicht zu besiegenden Eigensucht baust du nicht nur Mist, sondern tust du schlichtweg Böses: Böses, das keiner entschuldigen und keiner gutmachen kann. Und trotzdem bist du nicht eingesperrt in das, was geschehen ist. Weil Gott selbst, dein Gott all das Zerstörerische – und das Zerstörte – in sich hinein nimmt und dadurch dir vergibt, wenn du ihn darum bittest. Erst wer glaubt, dass Gott das wirklich tut, vermag an sich selbst zu ändern, was nicht Bestand haben kann.
Dass wir Menschen aus den Verhängnissen unserer Schuld dadurch freikommen, dass wir Gott unsere Sünden aufladen dürfen, weil er so demütig ist, sie sich aufladen zu lassen, das ist ungeheuerlich. Aber einen anderen Weg, von Schuld wirklich erlöst zu werden, gibt es nicht. Freilich braucht es dazu auch unsererseits die Demut, bis zum Grunde einzugestehen, was wir auf uns geladen haben. Und das können wir, weil wir seit Jesu Taufe wissen: Gott steht uns zur Seite.
V
Im Gunde aber ist das alles immer noch viel zu schwach gesagt. Denn was da geschieht zwischen Gott und Mensch, wenn sich einer bekehrt und ihm vergeben wird, das ist alles viel abgründiger. Vielleicht kann man es nur erzählend andeuten. Dostojewskij hat das einmal getan, in der Szene von der Bäuerin mit dem Säugling in seinem Meisterwerk „Der Idiot“:
Eine noch junge Frau, das Kind etwa sechs Wochen alt. Das Kind lächelte sie an, wie sie meinte zum ersten Mal, seit es auf der Welt war. Ich sehe, wie sie sich plötzlich bekreuzigt, in tiefer, tiefer Andacht. Warum tust Du das, junge Frau? […] Ganz genau, sagt die, ganz genau wie die Freude einer Mutter, wenn sie ihr Kindlein zum ersten Mal lächeln sieht, ist die Freude des Herrn, wenn ER im Himmel sieht, wie ein Sünder aus vollem Herzen vor ihm zum Gebet niederkniet.
Das hat mir diese Frau gesagt, beinahe wörtlich, diesen tiefen, diesen innigen […] Gedanken, einen Gedanken, in dem das ganze Wesen des Christentums zum Ausdruck kommt – der Hauptgedanke Christi. Damit hat der Dichter ins Wesentliche geschaut und gesehen: Gottes Glück über die Umkehr ist der Kern des christlichen Umgangs mit der Sünde. Welch eine Revolution der Denkart unendlich jenseits all dessen, was Moral, selbst die Beste zu erreichen vermag! Um wie viel aber auch hinkt das Meiste der kirchlichen Praxis im Umgang mit Schuld hinter diesem Maßstab einher. Und dennoch bleibt wahr: Gott ist überwältigt von jedem Akt der Reue wie eine junge Mutter vom ersten Lächeln des Säuglings. Mag sein, dass dieses Bild, wenn wir es nur lange genug mit dem inneren Auge anschauen, die Kraft entfaltet, uns bestürzt sein zu lassen über das, was wir Gott und einander schuldig geblieben sind.