Zerbrochener Teufelskreis

1. Fa B: Mk 1,12-15

I
Im Jahr 1961 schrieb Helmut Heißenbüttel einen Text mit dem Titel „Politische Grammatik“. Der Essay beginnt so:
Verfolger verfolgen die Verfolgten. Verfolgte aber werden Verfolger. Und weil verfolgte Verfolger werden werden aus Verfolgten verfolgende Verfolgte und aus Verfolgern verfolgte Verfolger. Aus verfolgten Verfolgern aber werden wiederum Verfolger [verfolgende verfolgte Verfolger]. Und aus verfolgenden Verfolgten werden wiederum Verfolgte [verfolgte verfolgende Verfolgte]. Machen Verfolger Verfolgte. Machen verfolgende Verfolgte Verfolgte verfolgte Verfolger. Machen verfolgende verfolgte Verfolger verfolgte verfolgende Verfolgte. Und so ad inifinitum.

II
Und so ad infinitum, immer weiter, im endlosen Teufelskreis. So erleben wir das Mysterium des Bösen. Menschen finden in ihrem Leben das Böse vor, einmal als Opfer, einmal als Täter. Sie tun und erleiden es. Darum entwerfen sie Programme und Strategien, Reformen und Revolutionen, die die Macht des Bösen endlich brechen sollen. Die Lösung freilich bleibt aus: der Kampf wider das Böse gebiert nur noch Schlimmeres, bis nicht einmal mehr klar ist, wo die Täter und wo die Opfer stehen, wenn verfolgende verfolgte Verfolger verfolgte verfolgende Verfolgte machen. Da bleibt eigentlich nur mehr, den Schoß des Bösen – den Menschen – auszuradieren und so die Quelle des Unheils ein für alle Mal zu verstopfen.

III
Genau mit diesem Befund aber hat im Grunde auch die Botschaft des ganzen Neuen Testaments zu tun. Es erklärt das Mysterium des Bösen nicht. Stattdessen weist es uns ein in einen Umgang mit dem Bösen, der dieses ein Ende finden lässt, das nicht mehr den Preis allen Lebens kostet. Das ist menschlich nicht vorstellbar. Doch was, wenn sich Gott selbst dieses Verhängnisses annähme, ja sich geradezu in es verstricken würde, um es sozusagen in sich zu verwinden?

Nichts Geringeres als eben das erzählt uns Markus in der dunklen Geschichte von der Versuchung Jesu. Der Evangelist greift dabei auf ein paar markante Bilder aus der Sprache des Alten Testaments zurück, um verhalten anzudeuten, was Jesus da an ganz Persönlichem widerfahren ist. Bei seiner Taufe im Jordan war Jesus endgültig aufgegangen, was die Mitte seines Lebens ausmacht: eine durch nichts verstellte, innige Nähe zu Gott, den er zärtlich Abba nennt. Und er weiß von da an: Er hat sein ganzes Leben einzig dafür einzusetzen, dass auch andere diese Nähe Gottes erfahren, dass sie sich von ihr ergreifen und heilen lassen, weil sie erst ein Leben zu dem macht, was es ist; Reich Gottes nennt Jesus das, was so zu wachsen beginnt. Geradezu zwangsläufig setzt ihn freilich dieses Klarwerden seiner Berufung sofort einer ersten Bewährung aus. Jetzt, da er regelrecht die Welt und alles in ihr mit den Augen Gottes sieht, springt ihn die Situation der Vielen, ihre Gottferne und Verlassenheit, ja ihre Gottesfeindschaft und seine Stellung mitten darin, – das springt ihn überscharf an. Wen wundert es da, dass Jesus – erschreckt von seiner Einsicht und auch über sich selber – die Einsamkeit sucht. Darum heißt es: der Geist – also Gottes Gegenwart in ihm – treibt ihn in die Wüste.

Die frühen Christen mit ihrer Kenntnis des Alten Testaments, wussten, was das heißt. Denn die Wüste, das ist für sie der Raum der Erinnerungen, wo die Dinge sich enthüllen, wie sie wirklich sind – ihre Innenseite. Wüste ist der Raum, wo alles Beiwerk wegfällt und das Wesentliche hervorzutreten beginnt: Raum der Läuterungen, Prüfungen und der Scheidung der Geister. So ist Wüste auch der Ort der tiefen Erfahrung Gottes und seines Geheimnisses; 40 Tage bleibt Jesus dort – wie einst Mose 40 Tage bei Gott auf dem Sinai weilte und Elija 40 Tage durch die Wüste zum Horeb wanderte. In der Wüste mit ihrer nüchternen Strenge – wo es kein Auskommen gibt – da fallen alle Masken.

Jesus, allein auf sich gestellt und nur noch seinem Gott gegenüber, erfährt dort, was Menschsein alles heißt – nicht nur die Sonnenseite. Er wurde in Versuchung geführt – er lernt kennen, was alles im Herz der Menschen wohnt – nicht nur die Liebe und die Güte, der Glauben und die Freude. In Jesus liegt – gerade weil er wirklich und ganz Mensch ist – auch das Gegenteil von all dem bereit. Zu seiner Freiheit gehört – wie zu jedes Menschen Freiheit –, Gott sein Gottsein bestreiten und selber seine Stelle einnehmen zu können. Wie aus dem Nichts – unerklärlich – steigen diese dunklen Mächte im Herzen des Menschen herauf, jederzeit bereit, von unserem Leben bestimmend Besitz zu ergreifen. Wo das aber geschieht, da ist der Mensch nicht mehr Mensch. Er übernimmt sich restlos – denn er will ja viel mehr als Mensch, nämlich Gott sein. Aber genau so bringt er sich um sein Eigenstes. Ihm geht es wie dem gierigen Wolf in der Fabel, der mit einem Stück Fleisch im Maul einen Fluss durchquert. Dabei sah er im Wasser sein Spiegelbild. Er hielt es für einen zweiten Wolf, der ebenfalls ein Stück Fleisch besaß. Sofort schnappt er auch noch nach dessen Stück. Sein eigenes entgleitet ihm dabei und der Fluss reißt es unwiederbringlich mit sich.

Nicht zufällig greifen die Dichter und die Religionen – auch die Bibel tut das – zum Sinnbild der wilden Tiere, wenn sie von der dunkeln Macht des Bösen zu reden versuchen. Wo Menschen andere hassen und beneiden, wo sie – von Eigensucht getrieben – nach Besitz, Macht und Geltung gieren, dort sind die animalischen Mächte in uns am Werken. Und wo sie die Oberhand gewinnen, kommt jedes Mal dasselbe heraus: Gemeinschaft unter Menschen zerbricht und jeder Einzelne fällt in zermürbenden Unfrieden mit sich selber, gerät zwischen die Mühlsteine seiner sich widerstreitenden Triebe. Tiefgründig beschreibt deshalb das Alte Testament – allen voran Jesaja – die von Gott erhoffte Erlösung als neues Paradies, wo die wilden Tiere mit den Menschen wieder in Friede und Freundschaft leben.

Und Markus behauptet, dass genau das bei Jesus schon Wirklichkeit wird: Er lebt bei den wilden Tieren, in friedlicher Gemeinschaft mit ihnen, heißt es von ihm. Er ist eines geworden mit seinen innersten Regungen und Impulsen – mit allem, was uns Menschen unumgehbar bestimmt und uns zu schaffen macht. Nichts wird verdrängt und verleugnet. Und so kann nichts mehr Unheil stiften in seinem Lebenshaus. Die Engel dienten ihm, sagt Markus dazu – das meint: Er ist ganz und gar das geworden, was Gott sich von ihm seit Ewigkeit erhofft hat – er hat die Versuchungen bestanden.

IV
Aber wie hat er das getan? Davon hören wir kein Wort, und nichts von dem, was in Jesus damals vorging. Gerade dieses Schweigen des Evangeliums aber weist uns ins Entscheidende ein. Jesus steht mit nichts als sich selber – mit seiner menschlichen Größe und seinen menschlichen Abgründen – einsam vor Gott. Er hat sich diesem Gott schweigend und betend ausgesetzt. Und so sieht er überklar die zwei Alternativen, die vor ihm liegen: entweder sich selbst vergessend Gott zu wählen oder Gott vergessend sich selber. Und aus seinem einsamen Schweigen heraus entschließt sich Jesus für Gott. Für den so nahen, doch unbegreiflichen Gott. Das ist alles. Aber es ist das Ganze. Denn in diesem Augenblick, da er sich für Gott entschließt, hat Jesus über sein ganzes Leben und Schicksal, über jedes seiner künftigen Worte und jede seiner Taten mitentschieden. Alles, was noch auf ihn zukommt bis hin zum Kreuz und zur Auferstehung, entspringt diesem stillen Augenblick vor Gott. Und erst die dramatischen Geschehnisse seines Lebens werden enthüllen, was wirklich in diesem unspektakulären Entschluss sich ereignete, nämlich: dass mit ihm Jesus den Kampf gegen das Böse aufnahm, wider alles, was sich gegen Gott auflehnt und deshalb nur Unheil und Tod hervorbringen kann. Jesu Kampf fängt nicht als Reform und Revolution an. Und auch nicht mit einem moralischen Gutseinwollen. Denn all das endet jedes Mal wieder wie der absolute Friedenswille in Kästners Versen: mit dem endgültigen Sieg des Bösen, das einer meint, aus eigener Kraft besiegen zu können. Seinen ersten und entscheidenden Kampfplatz hat der Widerstand gegen das Böse schon lang vor jeder Reform und aller Moral – nämlich dort, wo eine Menschenseele vor Gott gerät und zu wählen hat: sich oder ihn.

Wer es wagt, die Dinge zu sehen, wie sie sind, sieht sich eines Tages in eben diese Wahl gestellt. In ihr steht unser ganzes Leben auf dem Spiel. Doch muss uns diese Lebensstunde, wenn sie kommt, nicht ängstigen. Denn wir haben einen an unserer Seite, der den Entschluss für Gott zur Gänze riskierte und darum an sich erfahren durfte, dass er sich damit tatsächlich dem Bösen, dem Urverhängnis des Menschseins und seinen Folgen – nämlich dem Nicht-mehr-leben-können – entwunden hat. Eben davon erzählt die Osterbotschaft. Im rückhaltlosen Entschluss für Gott gewinnt er ein Leben, das nicht einmal das irdische Sterben zu dementieren vermag. Christsein, Christwerden meint nichts anderes, als sich eben diesem Votum Jesu anzuvertrauen.

V
Das erste dabei wird natürlich dies sein: dass wir überhaupt erst einmal fähig werden, unser Leben und unser Herz so zu sehen, wie sie wirklich sind: ihre Größe und Abgründigkeit. Um so klar zu sehen, müssen wir mit Jesus in die Wüste gehen. Es gilt, alles beiseite zu legen, womit wir uns vom wahren Gesicht der Dinge abzulenken pflegen: die Arbeitswut, die so viel Brüchiges in unserem Dasein übertüncht; die vielen kleinen Leckereien – die zum Essen und die für die anderen Sinne –, mit denen wir uns unseren Alltag versüßen. Und auch die heimlichen oder auch nicht so heimlichen Krücken, die uns in Scheinwelten tragen und selber in Scheinexistenzen verwandeln. Wer darauf zu verzichten wagt, dessen inneres Auge klärt sich; er wird die Risse und hohlen Stellen in seinem Lebenshaus entdecken.

Die 40 Tage der Fastenzeit, in die wir eingetreten sind, wären die rechte Zeit für so eine Wahrheitstherapie, eine Zeit der Wahl, wie Ignatius von Loyola das nannte. Man kann sie verstreichen lassen. Tut man das nicht, wäre der Teufelkreis des „ad infinitum“ zerbrochen.