Ein Gott, den man aushält

4. So B: Dtn 18,15-20 (+ Mk 1,21-28)

I
Eine jüdische Überlieferung sagt: Die Tora wurde aus dem Feuer gegeben und ist dem Feuer gleich. Wie ein Feuerweg ist sie, denn wenn ein Mensch ihr zu nahe kommt, so wird er verbrannt. Hält er sich aber fern von ihr, so wird ihm kalt. Es gibt für den Menschen nichts anderes, als sich in ihrem Licht zu wärmen.

II
Diese Worte müssen aus langer, auch schmerzlicher Lebenserfahrung kommen. Wenn ein Mensch der Tora, also dem Gebot Gottes zu nahe kommt, wird er verbrannt; hält er sich fern, erkaltet er. Dem Gebot zu nahe tritt, wer sich gleichsam seiner bemächtigt, z.B. mit der hochmütigen Einbildung, sich nichts vorwerfen lassen zu müssen im Leben und darum so etwas wie einen Anspruch auf Belohnung durch Gott erworben zu haben. Am Ende wird sich, gemessen an dem, wer Gott ist und was er gewollt hat, herausstellen, dass die Anständigkeit, die sich eine oder einer zugute hält, nur leeres Stroh war, das in einem Funkenregen vergeht, wenn es auch nur in das Kraftfeld der Gegenwart Gottes gerät. Doch in der Ferne von Gott kann es erst recht keiner aushalten mit sich. Was also tun?

III
Im Grunde wissen ausnahmslos alle Religionen darum, dass der Mensch die Nähe Gottes nicht aushalten kann – dass er sich vor dem, der „ist“ im strengen Sinn des Wortes, als Nichts erfährt. Das Geheimnis überwältigt alles, was ihm nahe kommt. Das Volk Israel hatte das gerade auch an den großen Wendepunkten seiner Geschichte erfahren, am intensivsten wohl damals, als Gott ihm am Sinai den Bund mit sich geschenkt hat. Israel hat diese Erfahrung in Hör-Bildern wie dem in der heutigen Lesung festgehalten: Ich kann die donnernde Stimme des Herrn, meines Gottes, nicht noch einmal hören und dieses große Feuer nicht noch einmal sehen, ohne dass ich sterbe.

Aber gleichzeitig steht und fällt Israel damit, seinem Gott nahe zu sein und zu bleiben. Und darum schafft Gott selbst so etwas wie ein Bindeglied zwischen sich und seinem Volk, etwas, was diese Nähe verbürgt und zugleich erträglich macht. Dieses etwas ist ein jemand, ein Mensch: Mose. Mose war und ist für die Juden der Prophet schlechthin. Ein Prophet sagt nicht vorher, sondern übersetzt, was von Gott kommt, ins Menschliche. So enthüllt er das Geheimnis Gottes, indem er es verhüllt, beziehungsweise verhüllt es, indem er es enthüllt – je nachdem, wie man es sagen will.

Zu dem, was Mose prophetisch im Namen Gottes auszurichten hatte, gehörte auch das Versprechen, Gott werde, wenn Mose einmal nicht mehr ist, einen Propheten wie ihn erwecken, der Gottes Wort weitersagen wird. Oder anders: Gott verspricht, Israel werde nie ohne Prophet sein, was soviel heißt wie: Er werde seinem Volk niemals seine Nähe entziehen.

IV
An dieses Versprechen haben fromme Juden wohl unwillkürlich denken müssen, als eines Tages in Kafarnaum einer in die Synagoge zum Gottesdienst kam und – wie es jedem erwachsenen jüdischen Mann erlaubt war – zu predigen anfing. Er war doch nur ein Schreiner aus Nazaret. Aber redete in einer Art, wie sie es seit Menschengedenken nicht mehr gehört hatten. Redet von Gott in einfachsten Worten und Sinnbildern, aber so, dass es die Zuhörer berührte, manche traf, einige zutiefst erschütterte. Und das war deswegen so, weil in seinen Worten so etwas wie Gottes unmittelbare Nähe spürbar wurde – genau das, was ihnen in den Worten so vieler so genannter Gottesmänner, zumal der Fachleute für’s Fromme, fehlte, ohne dass sie recht hätten sagen können, was ihnen eigentlich abging.

V
Unter Jesu Zuhörern sitzt auch ein Mann, der von einem unreinen Geist besessen war, wie das Evangelium sagt. Was es meint, verstehen wir ganz leicht, wenn wir das Wort „besessen“ einfach ganz wörtlich nehmen: der Mann war ganz in Be-sitz genommen, mit Beschlag von irgendetwas – von schrecklichen Erinnerungen, von Ängsten, von einem Zwang vielleicht, kurz: von etwas, was ihn einfach nicht mehr ihn selber sein ließ. Solche Besessenheit gibt es bis heute in allen möglichen Formen: Alkohol, Medikamente, Drogen, Arbeit, Sex, Macht, Besitz können Sucht sein; eine Sucht, hinter der sich immer eine Not verbirgt und die sich als der Zwang meldet, oft gerade das zu tun, was eine oder einer nicht tun möchte – so als ob in ihm ein anderer steckte, der aus ihm redet oder sie zu seinem Werkzeug macht. Darum schreit der Mann in der Synagoge auch: Was haben wir mit dir zu tun, Jesus? Bist du gekommen, uns ins Verderben zu stürzen? Der Mann ist nicht Herr im eigenen Haus, er kann nicht einmal mehr „ich“ sagen. Das meint das Evangelium mit „Besessenheit“.

Die Art, wie Jesus sprach, wie er auftrat und war, – die muss den Mann ungeheuer erregt, ja provoziert haben. So sehr, dass er vor allen Anwesenden heraus schreit, was mit ihm los ist. In dem Augenblick aber, da er das tut, beginnt seine Heilung schon. Als er Jesus, diese Herausforderung in Person, dieses Inbild dessen, was er nicht ist und doch auch so sehr sein möchte, – als er Jesus abwehrend beschwört, weil der ihn gleichsam bis ins Mark erschüttert, und schreit: Du bist der Heilige Gottes!, da kann er schon „ich“ sagen: Ich weiß, wer du bist! – Jesus hat keine Zauberformel geflüstert, ja im Grunde überhaupt nichts gemacht. Seine bloße Gegenwart deckte dieses Menschen Seele bis zum Grunde auf. Und so konnte sie anfangen, heil zu werden.

Schöner hätte der Evangelist auch gar nicht zum Ausdruck bringen können, was eigentlich ein Wunder ist. Es verhält sich so ähnlich wie mit einem Bild in den Uffizien in Florenz: Zwischen all diesen Kostbarkeiten hängen da und dort auch ein paar kleinere Werke, die kaum einer der Besucher beachtet. Eines davon – man weiß nicht einmal, wer es geschaffen hat – zeigt eine Szene aus dem Leben des Hl. Benedikt. Der Heilige ist noch ein Kind, neben ihm steht eine Frauengestalt, seine Amme; ihr ist gerade eine kleine, alltägliche Schüssel hinuntergefallen und zerbrochen. Der kleine Benedikt hockt sich auf den Boden, fügt die Scherben zusammen und macht die Schüssel wieder ganz. Dieses kleine Bild wirkt nicht sonderlich wertvoll, eher wie eine Votivtafel, wie man sie von ländlichen Wallfahrtsorten kennt, Telgte oder Altötting etwa.

Und doch sagt dieses unscheinbare Bild mehr als manch unbezahlbares Meisterwerk neben ihm. Denn der unbekannte Maler hat da in der Sprache einer Heiligenlegende ohne aufsehenerregendes Spektakel – aber eben darum so treffend – ins Bild gesetzt, was ein Wunder ist, nämlich: nicht eine Zauberei oder der Erweis von Macht, die alles durchbricht, was sonst gilt. Sondern: Wunder ist, wenn etwas wieder ganz, wieder heil wird – so, wie es eigentlich gemeint ist. In dem Wunder des Hl. Benedikt mit der kleinen Schüssel lässt der Maler im Grunde auf liebevolle Weise sich eben das spiegeln, was uns das heutige Evangelium erzählt.

Dass Jesus ausgerechnet mit diesem Wunder sein öffentliches Wirren beginnt, deutet uns an: Jesus ist gekommen, buchstäblich in Kampf zu treten gegen alles, was einen Menschen nicht mehr ihn selber sein lässt. Das Reich Gottes, das er verkündet und bringt, – dieses Reich wird konkret und wirklich in der Befreiung des Menschen von allem, was ihn knechtet und seiner entfremdet.

VI
Wo einer oder eine sich ansprechen lässt von dem, was Jesus über Gott und über den Menschen zu sagen hat, da merkt er oft schnell, wie viel ihm fehlt, was alles seine Seele unterjocht. Und alles Böse, das es in einem Leben geben kann, hat darin seinen Grund. Solche Not mit mir selber zu erkennen, ist oft mit einer Krise verbunden, die einem sozusagen den Boden unter den Füßen schwanken lässt – darum sagt das Evangelium, der Mann wurde vom unreinen Geist hin- und hergerissen. Aber das Hören auf Jesus findet in ihm Kraft genug, das durchzustehen. Selbständig zu sein im wahrsten Sinn des Wortes ist der Lohn dafür. Freiheit zum Leben: Das ist das Vorzeichen dessen, was Jesus jedem von uns bedeuten will.

V
Einen Propheten wie mich wird dir der Herr, dein Gott, erstehen lassen, hatte Mose verheißen. Gott erfüllt seine Versprechen immer im Übermaß. Darum kam einer, der hat die Nähe Gottes nicht nur ins Menschliche übersetzt und erträglich gemacht. Er war diese Nähe in Person. Das aber ist noch wunderbarer als die Donnerstimme und das große Feuer am Sinai: Gottes Nähe in Menschengestalt auf Du und Du – und so, dass ich sie nicht mehr fürchten muss, sondern dass sie mir gut tut durch und durch. Daher rührt, dass Christen diesem Menschen Jesus mit Erfurcht begegnen und ihn Gottes Sohn nennen, weil er für sie untrennbar für immer ins Geheimnis Gottes selbst hineingehört.

In einem Evangelium, das sich nicht im Neuen Testament findet, aber wahrscheinlich trotzdem echte Jesus-Worte überliefert, sagt Jesus einmal: Wer nahe bei mir ist, ist nahe beim Feuer. Es ist ein Feuer, das nicht verbrennt, aber die Seele erleuchtet und wärmt.