Das Erste und das Wesentliche

Predigt zur Diplom-Feier im SS 2006: Jos 1,1-9 + Lk 12,13-21

I.
Sie haben es hinter sich, denken Sie heute. Und natürlich ist das richtig gedacht: Sprachkurse, Unterseminare, Vordiplom, Hausarbeiten, Klausuren, Diplomarbeit, vielleicht manch anderes dazu. Und dann das ganze Drumherum: Der stückweise Auszug aus dem Hotel Mama, unbekannte Gesichter, neue Freunde, die es vielleicht auch bleiben. Oder gar die/ den kennen gelernt, die/ der es sein könnte für ein ganzes Leben. Stunden des Hochgefühls manchmal, wenn alles wie von selber ging. Niedergeschlagen an anderen Tagen, wenn der Münsteraner Standardhimmel zum Spiegel der eigenen Seelenstimmung wurde. Aber jetzt ist das alles irgendwie ein Ganzes geworden. Sie haben Ihr Studium an unserer Fakultät erfolgreich abgeschlossen, und dazu möchte ich Ihnen herzlich gratulieren.

II.
Dass das, was wir Lehrenden Ihnen in den letzten Jahren vermittelt haben, nicht für die Katz’ war, verraten übrigens schon die beiden Lesungen, die Sie sich für heute ausgesucht haben. Denn den Anfang des Josuabuchs und Lukas 12, die Geschichte vom reichen Dummkopf, für eine Diplomfeier zu wählen, da muss man erst mal drauf kommen. Aber die beiden Passagen treffen für Leute wie Sie an den Nagel auf den Kopf.


III.
Mit der Josua-Lesung nämlich bringen Sie zum Ausdruck, dass Sie es heute mit der Überreichung Ihrer Urkunde eben nicht hinter sich haben, sondern im Gegenteil: Jetzt kommt es erst. Josua war der Diener des Mose, dieses Übervaters des Volkes Israel. Mose hatte es aus dem ägyptischen Sklavenhaus geführt, durch dick und dünn geleitet, trotz aller Krisen vor dem Absturz bewahrt. In Sicht ist das gelobte Land schon, aber noch nicht erreicht. Doch jetzt ist Moses Zeit zu Ende. Gott holt ihn zu sich – und beauftragt den Josua, den Diener, das Werk fortzusetzen, einzig auf die Zusage hin, er werde sich für Josua nun genauso als der Ich-bin-da-für-Dich erweisen wie zuvor für Mose. Sei stark und fest, bleib auf dem Weg der Gebote vom Sinai, dann kannst du getrost das Aufgetragene tun!, wird dem Josua gesagt. Den Kompass hast Du gleichsam in die Seele geschrieben. Jetzt geh!
So ähnlich, denke ich mir, ist es für Sie heute auch mit der Theologie. Sie haben in den vergangenen Jahren den einen oder die andere von uns Lehrenden an der Fakultät als eine Art kleinen Mose oder Aaron oder kleine Mirjam gehabt. Die haben in Ihnen Kräfte geweckt, haben Sie ermutigt, begleitet, vielleicht auch einmal getröstet oder Ihnen den Kopf gewaschen, wenn’s nötig war – auch das wäre übrigens nichts, wofür Sie sich schämen müssten, Mose hat das ziemlich oft tun müssen mit Israel. Aber jetzt ist die Zeit dieser Begleiterinnen und Begleiter für Sie zu Ende. Jetzt geht Ihre Lebensreise sozusagen auf eigenem Ticket weiter. Jetzt, da wo Sie arbeiten werden, müssen Sie in erster Person einstehen für das, was Sie über Gott und den Glauben und das Leben in Ihrer Rolle als Theologinnen und Theologen anderen sagen, müssen auf die eigene Kappe nehmen, was Sie tun oder lassen, wird Ihnen Verantwortung zugemutet, von der Sie spontan das Gefühl haben, dass sie über Ihre Kräfte geht. Weit öfter als bisher werden Sie vor Dinge und in Situationen geraten, da sie eine Entscheidung fällen müssen, die sich nicht mehr revidieren lässt wie eine verpatzte Klausur oder eine misslungene Hausarbeit. Und für alles werden Sie zuständig gehalten und kompetent. Da passt das berühmte Bild von den Fußstapfen, die ein halbes Dutzend Nummern zu groß sind und in die man trotzdem treten muss. Vor so einem Szenario tut es in der Seele gut, eine Verheißung zu hören, wie sie Josua zugesagt wurde: Sei ohne Furcht und Angst, denn ich, dein Gott bin mit Dir, wohin Du auch gehst! Diese Verheißung dürfen Sie auch sich gegeben glauben. Denn Sie kommt von viel weiter her als nur von Josua, sie kommt schon von Abraham her, als ihm in einem nächtlichen Traumbild der gestirnte Himmel zum Inbild der unwiderruflichen Treue Gottes und Verheißung einer unzerstörbaren Zukunft wurde, wie das Buch Genesis erzählt. Und sie, die Zusage, kommt an Josua auch nicht an ihr Ende. Propheten nach ihm, gerade diejenigen großer Krisen Israels, dürfen Sie erneuern, für Christinnen und Christen leuchtet sie auf einzigartige Weise am Geschehnis von Karfreitag und Ostermorgen auf. Und weil die Zusage der Treue Gottes, die da an Jesus gegeben wird, bis zum Tiefsten aufdeckt, was Unwiderruflichkeit meint, nämlich eine, die sogar noch den Tod, das menschliche Nichtsein übergreift und darum sogar unsere ganze, überhaupt mögliche Zukunft umfasst, darum ist diese Zusage gleichsam auch schon über unser Heute hinweg. Und Sie, wir, sind eines der Glieder in dieser Geschichtskette der Verheißung, die von Abraham bis zur Apokalypse reicht, um es biblisch zu sagen. Davon leben und zeugen Juden und Christen, selbst in den Ijobstunden noch, die es manchmal geben mag, da einer auf den Trümmern seines Lebenshaus sitzt. Ist Ihnen eigentlich schon einmal der Gedanke gekommen, dass man – wenn man denn dieser Zusage Glauben schenkt –, dass man dann auf die Verheißung stolz sein, sich auf sie etwas einbilden könnte? Paulus hat so gedacht, wenn er im Philipperbrief schreibt, dass wer sich rühme, sich des Herrn rühmen solle, dessen ganzes Leben ein einziges Siegel auf jenes alles durchgreifende Ich-bin-der-ich-bin-da-für-Dich Gottes war.

IV.
Aber wenn man das tut, wenn man jener Zusage traut und auch stolz ist auf sie, dann wird man sich vor einem auch hüten müssen. Und davon redet unser Evangelium von vorhin: dass man aus dem, was man geschenkt, gratis geschenkt bekommt, einen eifersüchtig gehüteten Besitz macht, den man geizig sich allein vorbehalten und in den eigenen Nutzen stellen möchte. Gewiss spricht Lukas mit dem Herren-Gleichnis vom dummen Reichen zunächst den Umgang mit der materiellen Habe an. Die ist ja tatsächlich in sich schon eine geistliche Herausforderung, weil das Verhältnis zum Besitz irrtumsimmun verrät, worauf ein Mensch sein Leben baut: das was man haben und zählen kann, oder den, von dem das alles herkommt und der auch dann noch bleibt, wenn mein Leben an sein Ende kommt. Aber nicht nur um Sozialkritik geht es da. Nicht zufällig finden sich schon im Neuen Testament selbst, in der Offenbarung des Johannes im Sendscheiben an die Gemeinde von Laodizea, Anklänge an unser Gleichnis, mit denen der Seher den dortigen, offenkundig sehr selbstbewussten, Glaubensgeschwistern vorhält, sich auf ihren geistlichen Reichtum, heute würden wir sagen: auf ihre Spiritualität, etwas einzubilden, in Wirklichkeit aber weder kalt noch heiß, sondern bloß lau zu sein. Dass man auch das Gut des Glaubens und seine Verheißung festhalten kann wie einen Raub und gerade dadurch verspielt, das wussten und wissen geistliche Menschen seit je. Und wer – zumal wenn sie oder er professionell mit den Dingen Gottes umzugehen hat – wüsste sich dagegen gefeit! Das sich in Sicherheit Wiegen mit dem eigenen Urteil, die heimliche Selbstzufriedenheit, wenn man meint, etwas wieder besonders gut hingekriegt zu haben oder weil andere einen loben – ohne dass man es recht merkt, kann daraus jener Besitz geworden sein, auf dem ich mich ausruhe in der heimlichen Befriedigung, das mir keiner mehr was kann. Keiner? Du Narr – und wenn man diese Nacht noch dein Leben von Dir forderte: Was hättest Du dann, was von Bestand bliebe vor Deinem Gott?
Der jüdische Philosoph Emmanuel Levinas hat durchaus etwas Richtiges gesehen, als er in einem frühen Werk über die Zeit meinte: Bleiben wird und kann von einem Menschen nur, was er von sich, von seiner Zeit, was er an Geduld, an Güte, an Sorge und Verstehen anderen geschenkt hat. Denn indem er es weggab und nicht behielt für sich, hat er es gleichsam in Sicherheit gebracht vor dem Zugriff des Todes, der alles ausradiert, was einer gewollt, getan und gelassen hat. Das gilt auch für alles Geistliche. Was uns selbst an Verheißung, an Trost und Zusage, an Vergebung im Glauben geschenkt ist, bleibt dadurch von Bestand, dass wir es weiterschenken, gratis, wie wir es gratis – zu deutsch: aus Gnade – geschenkt bekamen. Gottesgaben, die einer für sich behielte, gehen durch Nichtverwendung ein.
Seien Sie darum freigebig mit dem, was Ihnen selbst geschenkt ist. So werden von selbst für die, die ihnen begegnen, im Maß des Menschlichen ein Sinnbild dessen, von dem sie reden und auf dessen Verheißung sie Ihr eigenes Lebenshaus bauen. Schöneres kann man von einem Menschen kaum sagen. Ich wünsche es Ihnen!