Ostergeschenk
2. Ostersonntag B: Joh 20,19-31
I.
Der
Rabbi Schnëur Salman war gefangen gesetzt worden wegen einer
Verleumdung. Ein paar Tage vor dem Verhör kam der Oberste der
Wachmannschaft zu ihm auf die Zelle. Er merkte gleich: Der Rabbi ist
jemand, der einem bis in die Seele schaut. Nach einer kleinen Weile
kamen beide ins Gespräch. Der Oberste brachte bald Fragen vor, die ihm
beim Lesen der Heiligen Schrift gekommen waren. Zuletzt fragte er:
Rabbi, Gott ist doch allwissend. Wie ist es dann zu verstehen, dass er
Adam im Paradies fragt: Adam, wo bist du? – Glaubst du daran,
entgegnete der Rabbi, dass die Schrift ewig ist und jede Zeit, jedes
Geschlecht und jeder Mensch von ihr umfasst sind? – Ich glaube daran,
sagte der Oberst. – Nun wohl, sagte der Rabbi, in jeder Zeit ruft Gott
jeden Menschen an und fragt ihn: Wo bist du in deiner Welt? So viele
Jahre und Tage der dir zugemessenen Zeit sind vergangen, wie weit bist
du derweil in deiner Welt gekommen? So etwa spricht Gott:
Sechsundvierzig Jahre hast du gelebt, wo hältst du – wo bist du jetzt?
– Der Oberst war 46; als er den Rabbi sein Alter nennen hörte, raffte
er sich zusammen, legt dem Frommen die Hand auf die Schulter und rief:
Bravo! Aber sein Herz flatterte.
II.
Und was sagt
Gott uns, mir, Dir und Dir und Dir? 77 Jahre hast Du gelebt, 51, 32
oder 19 – und wo hältst du? Wo befindest du dich jetzt? Was ist aus dir
geworden? Was hast du aus dem Leben gemacht? Wenn Sie sich jetzt auch
so gefragt fühlten, jetzt oder hernach, und wenn Ihnen auch das Herz zu
flattern anfinge, jetzt oder hernach, dann wären Sie in guter
Gesellschaft – nicht nur in der des Oberst aus der Geschichte, sondern
laut Evangelium auch in der Gesellschaft der Jünger Jesu nach dem
Karfreitag. Sie sagen sich vielleicht: Das habe ich versäumt und das
war nur halbherzig und das total falsch im Leben. Was habe ich alles
verspielt und verloren an Leben, das ich hätte leben können!
Kein
Deut anders die Jünger damals: Warum nur haben wir uns auf das
Abenteuer mit diesem Jesus eingelassen? Nicht nur, dass wir unser
bisheriges Leben als Handwerker, Fischer und Familienväter drangegeben
haben – für nichts. Ihnen flattert das Herz dermaßen, dass sie die Tür
verrammeln und sich selber einsperren aus Angst vor der Welt und dem
Leben.
III.
Aber mitten in diese Aussichtslosigkeit
hinein kommt der Auferstandene zu ihnen, erzählt das Evangelium – durch
verschlossene Türen. Es spricht dabei natürlich in Bildern und will
sagen: Du kannst so entmutigt, so eingesperrt, so schuldig, so
ohnmächtig sein, wie du willst (und die Jünger waren das alles zusammen
auch) – wenn Gott Gott ist, ist das für ihn kein Hindernis. Das hat
Jesus durch sein Leben und Sterben sichtbar gemacht. Darum ist er es,
der auch das noch von Gott weitersagen darf: Das ist der Kern aller
Ostergeschichten. Jesus hatte an sich selbst erfahren: Man kann von der
Welt und den Menschen, den besten Freunden sogar, verlassen sein und
sich selbst von Gott verlassen fühlen. Verloren bist du trotzdem nicht.
Im Gegenteil: Wenn du menschlich am Boden bist, wirst du – solange du
dich an Gott klammerst – merken: auch noch dieser Boden da unten trägt
mich. Und das ist so, weil dort, gerade dort Gott mit mir ist – auch
dann, wenn ich ihn oben vergeblich suche und mir der Himmel wie leer
erscheint.
Darum heißt das erste Wort des Auferstandenen an seine
Jünger: Der Friede sei mit euch. In Worte von heute übersetzt: Habt
keine Angst! Dann sagt er das noch einmal und trägt ihnen auf, genau
das weiterzusagen, was er ihnen vorgelebt und soeben gesagt hat. Und
dann folgt noch etwas ganz Eigenartiges: Jesus trägt den Jüngern auf,
Sünden zu vergeben. Was ist Sünde? Fluchen, Morden, Stehlen, Lügen,
Ehebrechen ist nur die Außenseite. Von innen gesehen besteht Sünde
darin, dass jemand sagt: Gott ist mir egal. Dann aber ist so jemand
allein auf sich geworfen. Und weil das Angst macht, wird er aus lauter
Angst genau all jenes tun: Fluchen, Stehlen, Lügen, Ehebrechen und
Töten vielleicht sogar. Nicht mehr sündigen kann nur, wer zu glauben
wagt, dass er nie und nimmer von Gott verlassen ist. Aber welcher
Mensch hätte noch nie gesündigt? Darum ist das Erste, was der
Auferstandene den Jüngern aufträgt, die Vergebung, als die Zusage: Gott
rechnet nicht auf und rechnet nicht ab. Darum ist es nie zu spät, zu
Gott zurückzukehren, sich mit Gott zu versöhnen. Das ist Jesu
Ostergeschenk. Und alle, die von Jesus reden und in seinem Namen
handeln, also die Kirchen, genauer die Seelsorgerinnen und Seelsorger,
haben allem anderen voran ebendies zu tun – Menschen einzuladen,
besser: wie der Apostel Paulus es getan hat, sie zu bitten an Christi
statt: Lasst euch mit Gott versöhnen!
Die, die in der Seelsorge
arbeiten, wissen fast nie, ob das, was sie sagen und tun, an sein Ziel
kommt. Das Meiste scheint zwecklos. Wenn ich trotzdem glaube, dass es
nicht sinnlos ist, dann deswegen, weil ich darauf vertraue: Christus
geht sogar durch die dicksten Türen in das verschlossenste Gefängnis,
das es geben kann: Die Menschenseele.
IV.
Kein
Zufall scheint mir, dass unser Evangelium die Bildrede vom Jesus, der
durch verschlossene Türen geht, engstens mit der berühmten
Thomas-Episode verbindet, der großen Zweiflergeschichte. Thomas erlebt
das erste Kommen des Auferstandenen zu seinen Jüngern nicht mit. Deren
Nachricht davon bezweifelt er. Und er stellt Maßstäbe für Ostern auf:
Wenn ich nicht die Wundmale an seinen Händen sehe; wenn ich nicht die
Wunden betasten und meine Hand in seine Seite legen kann, glaube ich
nicht.
Als der Auferstandene sich wieder zu erkennen gibt, ist
Thomas dabei. Er wird aufgefordert, seine Beweisforderung nun
einzulösen. Aber Thomas tut nicht, was er selbst verlangt hatte.
Stattdessen bekennt er: Mein Herr und mein Gott! Und dann spricht Jesus
einen der kritischen Sätze des ganzen Evangeliums: Weil du mich gesehen
hast, glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.
Was
Jesus damit sagt, heißt klipp und klar: Thomas, du hättest an meine
Auferweckung auch ohne meine Erscheinung glauben können. Und das wäre
auch der angemessenere Weg gewesen, der, der diejenigen, die ihn gehen,
selig werden lässt. Dieses Wort des Herrn an den Thomas bringt uns vor
eine aufregende Frage, die Frage nämlich: Wenn die Erscheinung des
Auferstandenen dafür gar nicht nötig, im Grunde gar nicht angemessen
ist, was hätte denn dann für Thomas bereits gereicht, um an Ostern zu
glauben? Diese Frage ist deswegen so aufregend, weil sie unserer
eigenen Situation genau entspricht. Denn auch unser Osterglaube kann
sich auf keine Erscheinungen stützen. Was also hätte nach dem Zeugnis
des Evangeliums den Osterglauben des Thomas begründen können?
Eigentlich
sehr einfach: Das, was Thomas von Jesus wusste und mit ihm erlebt
hatte. Im Klartext: Wer lebt, wie Jesus lebte; wer tut und sagt, was er
tat und sagte; wer schließlich stirbt, wie er starb – von dem darf man
überzeugt sein, dass er mit allem, was zu seinem Leben gehörte, nicht
verloren geht, sondern auf immer in Gottes Hand gerettet sein und
bleiben wird. Sein Leben und Sterben ist das eigentlich glaubwürdige
Zeichen der Auferstehung.
V.
Trotzdem ist Ostern
nicht einfach ein inneres, geistiges Geschehen. Es hat vielmehr eine
gleichsam greifbare Außenseite mit den Jüngern deutlich, von der unser
Evangelium erzählt – und genau da schließt sich der Kreis mit dem Wort
von der Sündenvergebung, der Versöhnung. Was er durch sein Tun und
Leiden, durch Leben und Sterben gewirkt hat – die Versöhnung mit Gott,
wird den Jüngern übertragen. Indem sie Menschen mit Gott wieder
versöhnen, tun sie, was er tat. So erleben sie, dass nicht unmöglich
und nicht vergeblich ist, wofür er mit Leib und Leben stand. Ist etwas
nicht vergeblich, bleibt es gültig und bestehen. Wenn Menschen auf die
Jesusgeschichten der Jünger, der Christen hin sich Gott wieder
zuwenden, wirkt der Gekreuzigte weiter das, was er als Lebender tat.
Und das heißt: Er lebt. Das Sündenvergeben macht Ostern wahr. Wo
Menschen einander Böses nicht aufrechnen, sondern einen neuen Anfang
gewähren, da fängt Ostern an, da geben sie Zeugnis für den gekreuzigten
Auferstandenen, ob sie es wissen oder nicht. Ostern ist eben keine
Idee, sondern eine Wirklichkeit, die man erfährt. Die ist den Jüngern
anvertraut – also heute uns. Die Erfahrung machen und weitergeben
werden wir, wenn wir uns an das halten, was der Auferstandene dem
kritischen Thomas rät.