Kreuz und Schatten

Karfreitag B: Joh 18,1 - 19,42 pass.

I.
Manchmal denke ich mir: Wir, die wir uns Glaubende nennen und regelmäßig Gottesdienst feiern, – wir sind einfach zu nah dran. Zu vertraut sind wir damit, dass wir uns noch wunderten über unseren Glauben, seine Mitte zumal, die wir in diesen Heiligen Drei Tagen begehen. Mehr als für alles andere gilt das für heute, den Karfreitag, da Jesus am Kreuz verblutet. Wie klar ist uns eigentlich, dass das Inbild und Sinnbild unseres Glaubens ein Galgen, ein Hinrichtungsinstrument ist, an dem ein Toter hängt?

II.
Seit einigen Jahren geschieht manchmal, dass Eltern von Schulkindern fordern, das Kreuz im Klassenzimmer von der Wand zu nehmen, weil sie ihren Kindern diesen scheußlichen Anblick nicht zumuten möchten. Das ist überhaupt nichts Neues. Vielmehr kehrt da etwas aus der Frühzeit der Kirche wieder. In der Legende der Hl. Margareta etwa blitzt es auf: Eines Tages sieht sie der heidnische Präfekt Olybrius. Er entbrennt in Liebe zu dem schönen Mädchen, lässt sie zu sich führen und befragt sie nach Herkunft, Name und Glaube: Margareta heiße sie, gibt sie zur Antwort, aus der Familie des Stadtpatriarchen stamme sie und zu Christus bekenne sie sich. Sagt darauf Olybrius: Die beiden ersten Dinge stehen dir wohl an: dass du edel bist und dem Steine Margarita (zu deutsch: der Perle) gleichest an Schönheit; das dritte aber ist nicht ziemlich, dass eine so schöne Jungfrau einen gekreuzigten Gott habe. Doch Margareta beharrt darauf, dass das Geschenk der Erlösung gerade an Jesu Leiden und Kreuzestod hänge. Darauf lässt sie der Präfekt ins Gefängnis werfen und dann ermorden.

III.
Nicht dass ein Gott zu den Menschen herabstieg, war anstößig, nicht dass man von diesem Gottessohn Jesus Wunder und Herrliches erzählte, sondern sein Ende am Kreuz. Das war schlichtweg unanständig. So dachte nicht nur Olybrius, sondern viele andere, Gebildete zumal. Ihnen war die christliche Botschaft wegen des Karfreitags ein ästhetischer Verstoß, gleichsam eine Todsünde wider den guten Geschmack.

IV.
Wir heute nach gut 1800 Jahren christlicher Bildergeschichte empfinden dieses Anstößige kaum mehr, höchstens noch bei einem genauen Blick auf Grünewalds brutales Isenheimer Altarbild oder einen gotischen Schmerzensmann. Darum braucht es manchmal so etwas wie einen Gegenstoß, um sozusagen der Gewohnheit die Augen auszustechen, damit wir aufs Neue für das Wesentliche sehend werden. Vor ein paar Jahren hat das der amerikanische Künstler Andres Serrano mit seinem Werk „Piss Christ“ getan: Er versenkte ein billiges Holzkreuz mit Corpus in einem Glaszylinder, der mit Urin gefüllt war, und stellte ihn öffentlich aus. Ein Aufschrei ging durch die Staaten, Ausstellungssperren, der Ruf nach Entzug staatlicher Förderung für die moderne Kunst, wüste Beschimpfungen des Künstlers auf den Kanälen der TV-Churches mit ihren fundamentalistischen Predigern. Dabei hatte Serrano nur eine mediale Sprache für sein Werk gewählt, die nicht vernutzt war, und genau jenes Anstößige, ja Abstoßende unverbraucht zur Geltung brachte, das anfänglich von jedem Kreuzbild ausging.

V.
Wenn wir uns für einen Augenblick diese Verfremdung des Vertrauten und bisweilen einfach Verhübschten zumuten, müssen wir uns da nicht eingestehen, dass der Künstler die Botschaft des Karfreitags treu und treffend übersetzt hat? Bedenken Sie: Was anderes erzählen denn die Jesusportraits der Evangelien bereits mit der Geschichte von seiner Taufe!: dass Jesus hinabsteigt in den Jordan, in dem Menschen symbolisch ihre Sünden abladen. Und er taucht ein in die Schmutzflut, begibt sich in die Abgründe und Keller und Dunkelheiten menschlichen Daseins, die hinter aller Schuld verborgen sind. Jesus ist sich nicht zu gut, dort hinunter zu gehen, wo das verborgen ist, was uns ekelt und Angst macht an anderen und an uns selbst. Gerade seine eigene Gottesnähe, seine Gewissheit um die unverbrüchliche Treue Gottes zu seinen Geschöpfen, führt ihn dort hinab, gleichsam in die Kloake der Welt, um zu bezeugen und mit Leib und Leben zu besiegeln, dass nicht einmal der bei Gott abgeschrieben ist, der sich in einem solchen Verließ des Bösen verstrickt und verfangen hat.
Das Böse ist nicht schön. Was es anrichtet, mögen wir gar nicht mehr anschauen, so entsetzt es uns – es sei denn, jemandes Seele wäre schon derart zerstört, dass ihm die Bilder des Bösen zum Kitzel der Unterhaltung würden. Gewiss: Damit wird heute bisweilen gespielt in manchen Medien. Aber vermutlich geht das nur, weil damit der Eindruck des weit Entfernten, uns nicht Betreffenden einhergeht. Anders dort, wo Menschen der Anblick des Bösen und seiner Folgen auf den Leib rückt und eine, einer spürt: Ich könnte selber die, der Nächste sein, den es trifft. Da schließen wir schnell die Augen, damit die Angst nicht übermächtig wird.

VI.
Dennoch lenken die Evangelisten unseren Blick auf den sterbenden Jesus am Kreuz. Es markiert den Tiefpunkt seines Abstiegs, der bei der Jordantaufe begann. Dort greift das Böse nach Gott selbst, wenn Hass und Gewalt sein Liebstes treffen, seinen Jesus, von dem schon zu Lebzeiten Schritt für Schritt deutlich wurde, dass er als das lebendige Gleichnis des gütigen Gottes untrennbar zu diesem Gott selbst gehört, ja geradezu dessen Herzmitte ist, die er – dieser Gott – für uns auftut bis zur schieren Verletzlichkeit. Wäre das Böse so mächtig, so unentrinnbar, wie es sich meist gibt, dann hätte darum im Augenblick des Todes Jesu die Welt wie ein vermoderter Pilz in sich zusammenfallen müssen, weil ihr mit dem vom Bösen überwundenen Gott ihr eigener Grund entzogen gewesen wäre.
Doch die Welt besteht auch nach der Golgotastunde – und das kann nur bedeuten: Das Böse hat Gott nicht überwältigt. Vielmehr hat er es durch Jesu Tod in sich hineingelassen und dort verwunden, auf dass dem Unheil und der Angst nie das letzte Wort bleiben werde. So ist das Kreuz zum Sinnbild der Verheißung geworden, so sehr, dass wir mit ihm seither die Welt und einer den andern segnen.

VII.
Der chinesische Dichter und Philosoph Tschuang Tse erzählt von einem Mann, den der Anblick seines eigenen Schattens so sehr verstimmte, dass er ihn unbedingt loswerden wollte. Er wälzte sich auf dem Boden, hüpfte ins Wasser, versuchte über den Schatten hinweg zu springen. Aber alles vergebens. Da beschloss er: Ich werde meinem Schatten davonlaufen. Und er lief und lief – aber der Schatten folgte mühelos. Er sagte sich: Ich muss schneller laufen. Also lief er schneller und schneller, lief so lang, bis er tot zu Boden fiel.
So ähnlich fühlen sich manchmal auch unsere Lebtage an: die Angst, nur ja gut weg zu kommen, den anderen voraus zu sein, die eigenen Schwächen zu vertuschen, das im eigenen Leben schuldig Gebliebene, Verfehlte und – ja, dies auch – das schlichtweg Böse an uns unsichtbar zu machen: all die Schatten eben, die die unseren sind. Tschuang Tse hat seinem Märchen vom Mann, der seinen Schatten loswerden wollte, von sich aus noch einen Satz hinzugefügt. Er schrieb: Wie leicht hätte sich sein Wunsch erfüllt, wäre er nur in den Schatten eines Baumes getreten.
Was dieser Weise rät, können wir seit Jesu Tod tatsächlich tun. Denn wer glaubt, kann mit seinem Schatten hineintreten in den Schatten, den der Baum des Kreuzes wirft. Er braucht nicht mehr davonzulaufen vor seiner dunklen Seite. Alles, was uns quält und umtreibt und bisweilen so unmenschlich macht – all das umfassen die ausgebreiteten Arme des sterbenden Jesus mit. So finden wir Ruhe. Wahre Ruhe kommt aus Frieden mit Gott. „Kommt alle zu mir, die ihr schwer beladen seid.“ Auf nie geahnte Weise lädt Jesus uns noch einmal zu sich – als Toter vom Kreuz herab. So verlöre unser Böses seine bezwingende Macht, indem es eintaucht in das heilende Dunkel der Unbegreiflichkeit des liebenden Gottes.
In der Verehrung des Kreuzes gleich jetzt treten wir in den Schatten dieses Baumes hinein – jeder und jede mit der Last, die die eine schleppt und die den anderen ängstigt. Die Kniebeuge, die wir vor dem Kreuz machen werden, ist unser Bekenntnis, dass das Kreuz für uns Evangelium, gute Nachricht ist.