Christliche Grundbestimmung

Neujahr B: Gal 4,4-7 (St. Anton, Regensburg)

I.
Einer der Märtyrer aus der Hitlerzeit heißt Pater Alfred Delp. Unerschrocken widersprach er den Nationalsozialisten. Dafür sperrte man ihn ein. Bald darauf wurde er hingerichtet. In seinen letzten Lebenstagen hat er eine ganze Anzahl von Briefen geschrieben, darunter auch einen an seinen Neffen. In dem Brief vom 23. Januar 1945 heißt es unter anderem: „Du hast Dir für den Anfang Deines Lebens eine harte Zeit ausgesucht. Aber das macht nichts ... Du hast gute Eltern, die werden Dich schon lehren, wie man die Dinge anpackt und meistert. Und ich möchte, dass Du das verstehst, was ich gewollt habe: die Rühmung und Anbetung Gottes vermehren; helfen, dass die Menschen nach Gottes Ordnung und in Gottes Freiheit leben und Menschen sein können. Nur der Anbetende, der Liebende, der nach Gottes Ordnung Lebende ist Mensch und ist frei und lebensfähig.“

II.
Das hat sich Delp nicht am Schreibtisch ausgedacht. Im Gefängnis geschrieben hat er diese Worte. Dort hat er sie gefunden und also auch und gerade dort für gültig gehalten, für so unbedingt gültig, dass ihre Wahrheit ihm sein eigenes Leben wert war. Worte, die so entstehen und mit einem Leben besiegelt werden, sind glaubhaft. Darum möchte ich sie Ihnen heute weitersagen, gerade heute, am ersten Tag des neuen Jahres.

III.
Vor ein paar Stunden begann dieses Jahr 2006. Jeder Mensch, der nicht ganz den Verstand verloren hat, denkt an der Schwelle eines neuen Jahres ein wenig nach. Was ist alles gewesen, was passiert? Was hat mich hierher gebracht? Aber genauso wird mancher gefragt haben: Was wird kommen? Wie wird dies und jenes ausgehen? Was werde ich alles meistern müssen? Und eine Frage ist dabei, die stellt sich bohrender als alle anderen. Sie heißt: Worauf wird es ankommen, damit der Neuanfang gelingt, der so und so kommen wird, egal wo und wie?
Was Delp seinem heranwachsenden Neffen für den Anfang seines selbständigen Lebens mit gab, gilt ohne Abstrich für jeden und jede: Nur der Anbetende, der Liebende, der nach Gottes Ordnung Lebende ist Mensch und ist frei und lebensfähig. Anbetung, Liebe, Gottes Ordnung – warum steht und fällt alles mit diesen drei? Eigentlich sehr einfach:
Nur wer anbetet, ist nicht allein auf sich zurückgeworfen. Wer anbetet, sagt damit ja: Ich verdanke mich nicht mir selbst und auch nicht anderen und nicht einem blinden Kreislauf der Natur. Sondern ich komme von einem, der alles aus dem Nichts gerufen hat und über ihm steht. Und mein Denken und Fühlen lassen mich ahnen, dass sich dieser Urgrund von allem und meiner selbst gleichsam dem Rätsel meines Daseins eingeschrieben hat. Den, der mich als Staubkorn, das zerbrechliche Wesen, trägt, ehren, ohne ihn ergreifen und begreifen zu können, das ist Anbetung. Wenn ich anbete, weiß ich dadurch auch um meine unverlierbare Würde, die mir jener unbegreifliche Urgrund dadurch verleiht, dass er mich will und sein lässt.
Das Zweite: die Liebe. Wem Liebe ein Fremdwort bleibt, der sperrte sich in sich selber ein. Und das ist das Schlimmste aller Gefängnisse, die es gibt. Was immer so jemand sagte – er hörte nur das Echo seiner eigenen Worte. Was immer er suchte – er fände nur sich. Entsetzliche Einsamkeit. Das Gegenteil: Fühlsam sein dafür, dass es neben mir andere gibt, die so sind wie ich. Der Menschen Bedürfen, zu spüren und ihr Leid zu tragen, das ist Liebe. Wer von sich absieht und sich dem anderen zuwendet, hat die Einsamkeit aufgesprengt. Er ist frei.
Und das Dritte: Nach Gottes Ordnung leben. Ich bete an, weil da einer ist, dem ich mich verdanke. Und ich übe die Liebe, weil ich spüre, dass ich ohne sie nicht der wäre, als der ich von dem gemeint bin, der mich gewollt hat. Das allein schon verrät: Es ist nicht alles gleichgültig, wie ich denke, was ich rede und tue. Alles, was wichtig ist, folgt einer Ordnung. Diese Ordnung, gemäß der ein Mensch lebt, der die Anbetung und die Liebe ernst nimmt, macht sich im konkreten Tun und Lassen geltend. Die zehn Gebote und die Bergpredigt sind so etwas wie Merkverse für diese Ordnung eines rechten Lebens.

IV.
Nur der Anbetende, der Liebende, der nach Gottes Ordnung Lebende ist Mensch und ist frei und lebensfähig. Wer mit wachen Sinnen durch die Welt geht, weiß aus Erfahrung, dass Delp Recht hat. Anders gewendet: Woher kommt die Flut der Unmenschlichkeit, die Zahllose stranden lässt und ganze Völker im Gemetzel von Kriegen zum Verschwinden bringt? Woher die Diktatur der Zwänge, die Menschen nicht mehr sie selber sein lässt? Woher die Unfähigkeit so vieler, auch nur mit dem Wichtigsten im eigenen Leben zurechtzukommen?

V.
Freilich: Bevor wir anderen erklären, warum dies oder jenes mit ihnen geschehen ist, tun wir gut daran, auf uns selber zu blicken. Anbetung, Liebe, Ordnung Gottes – was davon habe ich verraten, vergessen oder verweigert, so dass ich mich verloren habe, dass ich unfrei und mit dem Leben nicht mehr fertig geworden bin? So zu fragen aber heißt zugleich wissen, wie es anders werden kann. Es ist gut, gleich am ersten Tag eines neuen Jahres daran erinnert zu werden.