Christliche Gleichung

6. Ostersonntag B: 1 Joh 4, 7-10 + Joh 15, 9-17

I.
In der Bibel gibt es Stellen, die sind sperrig und spröde bis an den Rand des Erträglichen – nicht nur im Alten Testament. Auch Gerichtsworte Jesu und Passagen aus der Offenbarung des Johannes gehören dazu. Und es gibt andere Stellen, die gehen einem beim Hören oder Lesen wie Butter hinein, so sehr verstehen sie sich von selbst und passen sie zu dem, von dem man so denkt, dass es das Christliche sei.
Das heutige Evangelium, genommen aus den so genannten johanneischen Abschiedsreden Jesu, und die Lesung aus dem 1. Johannesbrief sind Paradefälle dafür. Wer um alles in der Welt – außer einem veritablen Christenhasser – würde denn bestreiten, dass es da buchstäblich um das Mark der Jesusbotschaft geht: Das Gebot der Freundesliebe als Richtschnur wahrer Jüngerschaft, als magna charta der jungen Gemeinde der Jesusleute, die sich vom innersten Lebensgeheimnis Jesu, seinem Gottesverhältnis herleitet. Und in diesem Verhältnis zwischen dem Prediger aus Galiläa zu dem, den er Abba, lieber Vater nennt, blitzt im Gang seines Predigens, seines Tuns und seines Sterbens etwas von der intimsten Mitte dieses Gottes selber auf, etwas, das sich ganz und gar im Einklang mit der langen Glaubensgeschichte Israels seit Abraham befindet, aber nie zuvor jemand auszusprechen gewagt hatte: dass man nur im Lieben Gott erkennt und dabei erkennend auf die Liebe selber stößt, weil Gott diese selbst ist. Amerikanische Theologen haben, um das irgendwie auszudrücken Gott in ein Zeitwort gewandelt und von „to god“ gesprochen, von „gotten“, um diese Identität von Gott und Liebe zum Ausdruck zu bringen. Wer liebt, gottet, erkennt darin Gott und wird mit ihm eins. Jesus hat es vorgemacht im buchstäblichen Sinn. Und darum sind die, die sich ihm anvertrauen – sein Gebot für sich in Geltung setzen – hinein genommen in dieses Gottesgeschehen, weil er ihnen als seinen Freunden Teil gibt an dem, was zwischen ihm und Gott geschieht.

II.
Doch so – teilgeben an dem, was zwischen ihm, Jesus, und Gott geschieht – hätte ich es schon gar nicht mehr sagen dürfen. Denn streng genommen ist da gar kein Zwischen mehr möglich, wenn Gott die Liebe ist, und der, der liebt, im Tun der Liebe – nein, nicht einfach nur mit und bei Gott ist, sondern Gott selber in das Zeitwort seines Lebens übersetzt. Die Theologen und Philosophen aller Zeiten hat diese innere Bewegung des Satzes „Gott ist die Liebe“ wie magisch angezogen, übrigens die modernen, so genannten kritischen Philosophen am allermeisten, einen Fichte, Schelling, Hegel, Hölderlin, Rosmini. Geradezu peinigend übrigens auch den ersten theoretischen Atheisten des abendländischen Denkens, Ludwig Feuerbach. Er wollte das Christentum nicht zerstören, sondern aus seinen unaufgeklärten Mythen herausdrehen und zu vollendeter Klarheit bringen, indem er in diesem Satz aus dem 1. Johannesbrief Subjekt und Prädikat vertauschte: Gott ist die Liebe, wolle in Wahrheit sagen: Die Liebe ist göttlich – das, was allein die Welt wohnlich und ein Leben lebenswert mache.
Das war gar nicht falsch gedacht, aber nur die halbe Miete, um es salopp zu sagen. Denn woher soll ein Mensch gegen seine innerste Vitalität, seinen instinktiven Drang zur Selbsterhaltung und Selbstsicherung das Wagnis zu Gesten der Liebe, also des Hergebens, des Für-andere-da-seins, ja auch des Opfers, eingehen, wenn in ihm – wie unausgesprochen vielleicht immer – nicht ein Funken der Ahnung glühte, dass er sich selber einem Akt der Liebe verdankt. Dass zu ihm – im Bild gesprochen – gesagt worden ist: Sei Du Du! Du sollst sein. Ich will, dass Du bist, unwiderruflich und unverlierbar! Und darum kannst Du selbst selbstlos lieben! In jedem Akt selbstloser Liebe klingt davon etwas an. Darum vergegenwärtigt sich in ihm jene Herkunft des Liebenden, der er sein eigenes Dasein verdankt und zu der er oder sie im Tun der selbstlosen Liebe seinerseits „ja“ sagt. Das meint das Zeitwort „to god“, dieses rätselhafte „gotten“. Merken Sie, wie sich in dem scheinbar so unzweideutigen Leitwort der johanneischen Botschaft, im Evangelium von der Liebe, ein Kern verbirgt, so spröde, dass darüber hinaus Spröderes nicht mehr gedacht werden kann? Und wenn das an der Liebe selber läge?

III.
Den großen Denkern sind im Gang ihres Nachsinnens über Johannes’ Liebe-Gott meist die Begriffe zerbrochen. Zufall? Kaum. Auch Johannes nähert sich ihr am Anfang des Kapitels, aus dem unser Evangelium stammt, mit dem Rätselwort vom Weinstock und den Reben, das nicht dazu da steht, um aufgelöst und ausgeschöpft zu werden, sondern dazu, die Lesenden und Hörenden aus dem gewohnten Tritt zu bringen und in ein Nachsinnen, ja Wiederkäuen hineinzuziehen, bis ihnen das Bild sozusagen in Fleisch und Blut übergegangen ist.
Manchmal stößt man auf Dinge, die – setzt man sich ihnen aus – einem solchen Meditieren aufhelfen, es stützen können. Am 29. August 1952 geschah etwas, wofür das zutreffen könnte: An diesem Tag spielte der Pianist David Tudor in New York die Uraufführung einer neuen Komposition. Tudor nahm am Flügel Platz, schloss den Klavierdeckel, blieb exakt 4 Minuten und 33 Sekunden am Instrument sitzen, öffnete den Deckel wieder und spielte – nichts. Das Auditorium war völlig irritiert. Tuscheln, Laute der Empörung, Türenschlagen. Die meisten begriffen nicht, dass sie die Uraufführung einer Komposition gehört hatten. Es war das Stück mit dem Titel >4’33’’< von John Cage.
Die Partitur des Stücks besteht aus einem Blatt Papier, auf dem dreimal – für die drei Sätze – das Wort „tacet“ (es schweigt) steht. Und die Besetzungsvorschrift lautet: Für jedes Instrument oder jede Komposition von Instrumenten. Cage wollte mit dem Stück komponierter Stille in keiner Weise provozieren. Ihm ging es darum, zu Wahrnehmung zu befreien: Überall, wo gehört wird, sind bereits Klänge: Geräusche aus dem eigenen Innern, Alltagslärm, Zufallstöne harmonisch oder dissonant. Durch das Schweigen wird all das zum Komponierten. Zwei Jahre vor 4’33’’ hatte Cage in einem mit „Lecture on Nothing“ betitelten Vortrag gesagt: Struktur ohne Leben ist tot. Aber Leben ohne Struktur ist nicht wahrzunehmen. Und ungefähr so, scheint mir, ist es auch mit Gott und der Liebe. Die Liebe ist nicht einfach Gott. Aber ohne ihre Gesten und Taten, gerade die kleinen, unscheinbaren, absichtslosen, wüssten wir nichts von Ihm. Nur im Medium weltinnerster menschlicher Liebe vernehmen wir das Echo des die Welt übersteigenden, sie aus sich entlassenden und sie darum auch in sich einbergenden Urgrunds von allem, der deshalb, weil er selbst nichts als Hergeben, als Liebe ist, neben sich – menschlich gesprochen – etwas sein lassen kann. Und darum ist Johannes Satz „Gott ist die Liebe“ wahr und das Kühnste, was sich über Gott überhaupt sagen lässt.

IV.
Mag mein Beispiel mit Cage ein bisschen ungewohnt sein! Das worauf es zielt, ist theologisch gar nichts Neues. Die gleiche Spur blitzt schon bei Nikolaus Cusanus im 15. Jahrhundert auf. Ihm, auch so ein Gottesabenteurer, sind damals schon die festen Abgrenzungen zwischen Diesseits und Jenseits porös geworden. Sein heißes Gottsuchen hat sie gleichsam aufgeschmolzen, ineinander schwingen lassen – und trotzdem beides nicht verwechselt. Und auch er hantiert mit Gleichnissen, die uns aufs Erste aus dem Tritt bringen. Bereits beim einfachen Sinnesdatum der Quantität, sagt er, tritt nicht ein Maximum, sondern treten zwei Maxima auf: Das Größte von etwas ist das „am größten“ Große, das Kleinste das „am größten“ Kleine. Vom Sinnlichen aufs Begriffliche übertragen heißt das: Selbst das absolut Größte kennzeichnet kein anderes Großsein als das größte Kleine, nämlich der Superlativ, das Größtsein. Das kleinste Große ist das am größten Kleine. Also fallen im Unendlichen die Entgegengesetzten, klein und groß, ineinander. Und wie auch anders als mit solchen Gedanken – dialektisch sagen die Philosophen dafür –, wie denn anders als mit solchen Gedanken kann man einem Gott nachdenken, der seine größte Größe im Sich-klein-Machen bis zum Dienersein für seine Geschöpfe erweist. Und genau das ist doch der Gott, den Jesus uns in der Fußwaschung versinnbildlicht, der Liebe-Gott der Abschiedsreden und unserer Johannesbrief-Lesung.
Übrigens auch – und gewiss nicht zufällig – bei der Straßenmystikerin Simone Weil steht Jahrhunderte nach dem Cusaner Ähnliches zu lesen, nur viel sinnlicher, ja vielleicht auch weiblicher als bei jenem klerikalen Mathematik-Genie: Gott erschöpft sich, schreibt sie an einer Stelle, damit er, durch die unendliche Dichte von Zeit und Raum hin, die Seele erreiche und zu sich verführe. Lässt sie sich, und sei es nur auf eines Blitzes Dauer, eine reine und völlige Einwilligung entreißen, dann hat sie Gott erobert. Und ist sie dann völlig ein Ding geworden, das nur ihm angehört, so verlässt er sie. Er lässt sie ganz allein. Und muss die Seele ihrerseits, doch in einem blinden Tasten die unendliche Dichte von Zeit und Raum durchmessen, auf der Suche nach dem, den sie liebt. So legt die Seele nun, in umgekehrter Richtung, den Reiseweg zurück, auf dem Gott zu ihr gekommen war. Und das ist das Kreuz.

V.
So klingt Cage in der Tonart der Mystik. Und was für ein Unterschied zu Feuerbach und dem heute in den Kirchen so oft zu hörenden „Liebesgedusel“, wie übrigens schon Friedrich Engels damals gegen Feuerbach höhnte: Im Augenblick innigsten Einsseins, im höchsten Aufschwung der Liebe, findet sich die Seele gänzlich auf sich allein geworfen, muss über Wege, Wenden und Irrgänge durch das Weltlich-Sinnliche der Liebe, das gewiss verführerisch sein kann, nach dem tasten, den sie liebt, nach der Liebe selber, die nie mit der selbst getanen Liebe zusammenfällt, immer schon weiter ist als jeder noch so große Akt der Hingabe. Bis die Seele nichts mehr für sich will und für sich sucht. Nicht sich selbst und nicht einmal ihren Gott. Denn erst, wenn sie sogar noch Gottes ledig geworden ist, wie Meister Eckhart einmal sagt, dann ist Platz in ihr genug, dass der göttliche Gott sich ihr schenken kann.
Das ist die Liebe, von der Johannes redet. Mit Wohlfühlen und Wellness hat sie nicht einmal von Ferne zu tun. Weit mehr mit einer Nüchternheit, die manchmal an die Nieren geht. Wie eben Liebe sich anfühlt, wenn sie echt ist. Sie hat etwas von einem fremden Glück. Christsein hält sich in Tuchfühlung zu ihr.