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Fronleichnam B

I.
Selbst unter den Schätzen der Vatikanischen Museen gelten sie als Wunderwerk: Le Stanze, wie ihr schlichter Kurzname lautet – die Räume der Segnatura im Apostolischen Palast, die auf Geheiß von Papst Julius II. von Raffael ausgemalt wurden. Ein Bildprogramm, so dicht und beziehungsreich, dass man Stunden, vielleicht Tage davor verbringen kann. Die vier Wände sind vier Formen der Weisheit gewidmet: der Philosophie, der Theologie, der Jurisprudenz und – nicht wie man gemäß dem damaligen Wissenschaftskanon erwarten sollte der Medizin, sondern – der Poesie.
Am bekanntesten ist wohl die Darstellung der Philosophie, die ganze klassische Mannschaft lässt Rafael aufmarschieren, in der Mitte Platon, nach oben deutend in die Welt der Idee, neben ihm Aristoteles, nach unten weisend, auf das konkrete, bewegte Seiende der Welt. Der Philosophie gegenüber: die Theologie. Und nun spannend, wie der Maler sie ins Bild setzt: als ein Gemälde über die Eucharistie, das Sakrament des Altares. In ihm macht sich für Raffael, so scheint es, die Gotteswissenschaft am markantesten geltend. Das Bild ist zweigeteilt. In der unteren Hälfte steht eine Monstranz mit der Hostie auf dem Altar, rechts und links davon eine große Gruppe von Kirchenvätern, Heiligen und Theologen: Neben Dominikus und Franziskus auch Thomas von Aquin und Bonaventura, Duns Scotus, Niccolo de Lira, Dante und Savonarola, der später Verurteilte sogar. Gestik und Mimik verraten, wie heftig sie disputieren. Giorgio Vasari schrieb schon 1550 in seinen bis heute gelesenen „Vite“, den „Lebensbeschreibungen der berühmtesten Maler, Bildhauer und Architekten“, über diese Theologendebatte, von der Bild auch seinen Namen „Disputa“ hat, – er schrieb: „In ihren (der Theologen; K.M.) Gesichtern sieht man eine gewisse Neugier und Besorgnis hinsichtlich des Wunsches, Gewissheit über das zu erlangen, worüber sie im Zweifel sind; und indem sie mit den Händen gestikulieren und bestimmte Körperhaltungen einnehmen, legen sie ebenso Zeugnis von ihrem Streitgespräch ab wie durch aufmerksames Lauschen, das Zusammenziehen der Augenbrauen und durch ihr ebenso mannigfaltiges wie eigentümliches und auf viele verschiedene Weise zum Ausdruck gebrachtes Erstaunen.“

II.
Das aber ist nur ein Teil des Bildes, seine untere Hälfte. Über ihr, abgetrennt von einem schmalen Wolkenband, hat Raffael die Welt des Himmels gemalt: In der Mitte der erhöhte, verklärte Christus, in einem Strahlenkranz wie in einer großen Monstranz. Ihm zur Seite der Täufer Johannes, die Apostel und Evangelisten und eine Gruppe von Märtyrern. Hoch über allen thront Gott, der Vater, und er sendet den Geist aus, der wie ein Bindeglied zwischen Erde und Himmel im Sinnbild der Taube in das Wolkenband zwischen oben und unten taucht.

III.
Klar, dass es Raffael um die Parallele der beiden Bildhälften zu tun war. Was in der Monstranz unten zu sehen ist, wird in seiner Wahrheit oben sichtbar. Und umgekehrt: Was oben geschieht, wird unten enthüllt, aber so, dass das Geheimnis, das alles durchwaltet, zugleich mit zum Ausdruck kommt. Schon Vasari bemerkt, wie sich die Gesichtszüge der himmlischen Akteure oben von denen der theologischen Disputanten unten unterscheiden. Nicht mehr Neugier, Besorgnis und Stirnrunzeln entdeckt er dort, sondern im Antlitz Christi Züge, „die solche Milde und Barmherzigkeit zeigen, dass sie dem Sterblichen eine gemalte Göttlichkeit vor Augen stellen“, wie er schreibt. Und ähnlich bei der Madonna, die – so nochmals Vasari – „mit zur Brust geführten Händen ihren Sohn betrachtet und sinnend beschaut, so dass es scheint, als wäre ihr unmöglich, Gnade zu verweigern.“
Was Raffael malt und Vasari ins Wort bringt, möchte sagen: Erst im Himmel, dort wo die Innenseite von allem offenbar wird, erst dort lichtet sich auch das Geheimnis der Eucharistie. Auf Erden wird es immer von Staunen und Stirnrunzeln zugleich begleitet sein. Aber beide, der Maler und der Schriftsteller geben uns einen Wink, wo das irdische Zeichen seine tiefste Wurzel hat: Das Antlitz Christi verrät es und es spiegelt sich von ihm her wider auf den Gesichtern der Heiligen, die auf ihn schauen: die Milde und Barmherzigkeit. Fast unwillkürlich lässt einen Vasaris Beschreibung an das Jesuswort aus dem Matthäusevangelium denken, wo er seinem Jubelruf über den Vater die Einladung anfügt: Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken. Das ist es ja, was man Jesu Herzenssache nennen kann: Gottes Reich ankündigen als etwas, das unmittelbar nahe gekommen ist, gleichsam vor der Tür steht, und glaubhaft machen, dass es diesem Gott um das Leben seiner Geschöpfe geht. Dass wahr ist, was schon Mose am Dornbusch als Gottes Name hören durfte: Ich bin der ich bin da für euch, war es immer gewesen, werde es immer sein. Nicht zu fassen in Namen und Begriffen, aber so treu da, dass du Mensch davon leben kannst im Auf und Ab deiner Tage. Und dass das denen, denen das Nötigste fehlt oder denen es vorenthalten wird, zu allererst gesagt ist.
Dafür steht die Eucharistie, dieses Andenken Jesu an die Fußwaschungsstunde, dass vor dem Gott, für den er einsteht mit Leib und Leben, der so ist, wie Jesus war, keiner vergessen ist, nicht der Geringste, weil sich dieser Gott nicht zu gut ist, sich selbst gleichsam niederzubeugen zu seinem Geschöpf und ihm zu dienen. Und dass darum niemand mehr fürchten muss, irgendwo und irgendwann von diesem Gott verlassen zu sein, wenn der sich denn geradezu definiert hat als der, der seine Wirklichkeit im Dasein-für erweist. Das mag manchmal so unbegreiflich, ja anstößig sein wie, dass ein Stück einfaches Brot sich, in der Sprache des Glaubens gesagt, wandelt in den Leib des österlichen Herrn. Und trotzdem muss an diesem Ich-bin-der-ich-bin-da-für-dich etwas daran sein. Sonst wüssten wir nichts vom Glauben und der Gottesgeschichte Israels, gäbe es kein Evangelium, keine Kirche. Und wenn das wahr wäre, das mit dem Dasein Gottes für den Menschen, so sehr, dass ihm nicht zu viel ist, sich klein zu machen bis herab auf unsere Augenhöhe, wenn das wahr wäre, dann ist der Rest, all das mit der Gnade, der Auferstehung und Ewigkeit, und auch das mit der Wandlung, etwas schnoddrig gesagt, geschenkt. Kann’s denn wirklich überraschen, wenn auch Gottes Tun und Sein zu den Wahrheiten gehörten, die sich nur erschließen, wenn man ihnen auf halbem Weg entgegenkommt, wie William James einmal formulierte? Schon für jede Liebe zwischen Menschen gilt das: Nur die Zuneigung, das Vertrauen, die der eine vorschießt, öffnet dem anderen den Raum für das Erfinderische und Schöpferische, von dem alle Liebe lebt. Das, scheint mir, macht auch die Atmosphäre aus, in der so etwas wie das Geheimnis der Eucharistie überhaupt erst zur Entfaltung kommen kann. In etwa so, wie Raffael es andeutet in dem Blick, den er uns in den Himmel tun lässt.

IV.
Vielleicht aber müssen wir den Künstler noch ganz anders, viel ausgreifender bei dem nehmen, was er uns vor Augen gestellt hat. Es ist ja nicht nur nicht alltäglich, sondern einzigartig, dass er zum einen die Gotteswissenschaft sozusagen in der Eucharistie kondensiert und sie zum anderen ins Gegenüber und damit ins Verhältnis zur Philosophie, zur Rechtswissenschaft und zur Dichtkunst setzt. Raffael wäre nicht Raffael, wenn nicht auch darin eine Botschaft beschlossen läge. Sie scheint mir auch gar nicht so schwer zu entziffern. Denn sie lautet: In der Orthodoxie, im rechten Glaube, geht es nicht um Rechthaben, sondern um Wahrheit. Daran erinnert das Gegenüber zum Bild der Philosophenschule und in seiner Mitte das Ineinander von geistiger und irdischer Welt. Diese Wahrheit des rechten Glaubens kann aber nicht gehabt werden ohne das rechte Tun, die Orthopraxie, die ihre Mitte in der Gerechtigkeit hat – daher das andere Bild mit den Szenen aus der Welt des Rechts. Und ihren rechten Ausdruck findet diese so kontemplative wie praktische Wahrheit des rechten Glaubens nur in der Sprache der Poesie, daher das vierte Bild mit dem Parnass, dem Sitz der Dichter. Philosophie, Politik und Poesie zusammen sind die Quellen, aus denen sich das Verstehen des Glaubens speist.

V.
Was da aus Raffaels Komposition spricht, ist im Kern nichts anderes als das, was eine Theologie von heute mit dem Fest Fronleichnam verbindet: Wir verlassen an diesem Tag zeichenhaft die Mauern unserer Kirchen und zeigen der ganzen Welt die Mitte unseres Glaubens, Gottes Urtat der Liebe, und sagen seine Einladung weiter. Wir wissen dabei, dass dieser Glaube nur wahr sein kann, wenn ihm das rechte Handeln nicht fehlt. Darum erbitten wir für Stadt und Land und Welt Gerechtigkeit und Frieden und verpflichten uns damit vor Gottes Angesicht, mit seiner Hilfe auf das hinzuwirken, was an dem Erbetenen noch fehlt. Und wir sprechen über das Zeichen der Gottesliebe in poetischen Bildern und Liedern, weil nur deren Überschwang dem entsprechen kann, was Gottes Güte im heiligen Zeichen zu schenken hat. Wie wohl kein anderer hat der Hl. Thomas von Aquin in den Hymnen, die er für das Fronleichnamsfest geschrieben hat, Orthodoxie und Orthopraxie, Wahrheit und Dichtung ineins gewoben, das Pange lingua, das Lauda Sion und das Adoro te devote zeugen bis heute davon.
Wer Thomas’ Hymnen nachlauscht oder Raffaels Bilder betrachtend mit den Augen erwandert, mag den Gedanken wagen, es sei Gottes Güte, die alles trägt und birgt, was wirklich ist, und niemals trügen wird. Fronleichnam ist der Dank dafür, dass die Welt im Sakrament schon begonnen hat, auf ihre Mitte hin durchsichtig zu werden, transparent wie ein Vorhang aus Licht. Silja Walter, die Poetin aus dem Kloster, hat das in einer ihrer biblischen Nachdichtungen so gesagt:
Du hast in Brot und Wein
Ein neues Bundeszeichen
in die Welt gestellt.
Gott bleibt uns ewig gut.
Wir tragen, Herr,
das Leuchten deines Regenbogens
über der Sintflut mit uns heim
in unserm Geist und Blut.
Das Geschenk ist da. Auf das Mitheimnehmen kommt es jetzt an.