Dienst an der Freiheit

15. Sonntag B: Mk 6,7-13

I.
Schon mehr als 43 Jahre sind es her, dass Papst Johannes XXIII. starb. Aber noch immer ist er unvergessen. An seinem Todestag am 3. Juni kommen Jahr für Jahr in seinem Geburtsort Zehntausende zusammen. Einfach so, von selbst. Keiner, der sie rufen würde. Keiner organisiert etwas. Was macht diesen Menschen so unvergesslich?

II.
Es gibt in seinen Tagebüchern, Reden und Predigten immer wieder Passagen, die erhellen momenthaft etwas von diesem Geheimnis. Als er 1953 Patriarch von Venedig wurde, stellte er sich den Venezianern in einer kurzen Ansprache vor. Dabei fiel der Satz: „Schwestern und Brüder, ich habe mich der Kirche zur Verfügung gestellt ohne Furcht und ohne Ehrgeiz.“

III.
Ohne Furcht und ohne Ehrgeiz. – Das ist wie ein Widerhall dessen, was das heutige Evangelium über die Jünger als Mitarbeiter Jesu sagt. Diese Übereinstimmung mit dem Ursprung der frohen Botschaft war es wohl auch und gewiss nicht zuletzt, was Papst Johannes so glaubwürdig gemacht hat.
Diesen Ursprung des Dienstes der Apostel und in gewissem Sinn damit auch der Kirche beschreibt das Evangelium sehr bemerkenswert. Unmittelbar vor dem Abschnitt von heute wird berichtet, wie Jesus bei einer Predigt in seiner Heimatstadt heftige Ablehnung erfährt. Aber diese Enttäuschung – „er staunte über ihren Unglauben“, heißt es –; diese Enttäuschung hat ihn nicht die Flinte ins Korn werfen lassen. Im Gegenteil: Er verstärkt seine Bemühungen, indem er unmittelbar darauf seine Jünger aussendet, dass sie in seinem Namen ausrichten, was er zu sagen hat – dass er also einfach mehr Leute erreicht.
Das allererste, womit er sie dazu ausstattet, ist die Vollmacht, die unreinen Geister auszutreiben. Also: Das Wichtigste, was sie tun sollen, ist nicht, eine Lehre zu verkünden, sondern Menschen den Kräften zu entreißen, die sie nicht mehr Mensch und sie selber sein lassen, dem, das andere vor ihnen und am meisten sie selber vor sich ekeln lässt. Das ist gemeint, wenn die Bibel von unreinen Geistern spricht. Mit einem Wort: Der Auftrag Jesu an seine Jünger heißt: Befreit den geknebelten Menschen, dass er er selber und dass er so sein kann, wie er eigentlich gemeint ist. Das Evangelium hat, bevor überhaupt noch das erste Wort ausgesprochen wird, mit Befreiung und Freiheit zu tun.
Seltsamerweise fügt Jesus diesem Auftrag an die Jünger ein paar Anweisungen für die Durchführung an, die mit dem Dienst an der Freiheit überhaupt nichts zu tun haben scheinen: Er gebot ihnen, außer einem Wanderstab – vor allem gegen wilde Tiere – nichts auf den Weg mitzunehmen, kein Brot, keine Vorratstasche – die dazu diente, Almosen zu sammeln –, kein Geld im Gürtel, kein zweites Hemd und an den Füßen nur Sandalen, also nicht geschlossene Schuhe, die doch eigentlich viel bequemer gewesen wären.
Zwischen diesen Anweisungen und dem Auftrag zur Befreiung besteht aber nur scheinbar kein Zusammenhang. In Wirklichkeit ist es ein ganz enger, nämlich: Wirklich Freiheit zu schaffen vermag nur, wer selber wirklich frei ist. Frei darum auch vom Ballast einer Ausrüstung; – denn ehe sich’s einer versieht, erwartet er von den äußeren Mitteln den Erfolg bei der Erfüllung seines Auftrags; frei auch von der Sorge um sich und sein Fortkommen; – denn die hat allemal die Macht, sich so in den Vordergrund zu schieben, dass sie auf einmal darauf Einfluss nimmt, wie einer seinem Auftrag nachkommt. Solche Beschränkung auf das Allernötigste macht zugleich sichtbar, dass sich der Beauftragte Jesu zuerst und zuletzt auf’s Gottvertrauten stützt. Und sie macht ihn glaubwürdig, weil er nichts hat, um seinem Gegenüber etwas vorzumachen.
Genau auf der gleichen Linie liegt Jesu Anweisung für den Fall, dass ein Bote des Evangeliums eine Abfuhr erlebt: Er soll nicht locken und nicht überreden und nicht nachsetzen. Wenn man ihn nicht hören will, soll er gehen. Zur Freiheit gehört auch, dass einer oder einer die Botschaft, die ihr oder ihm gesagt wird, frei annimmt. Sonst würde der Bote der Freiheit sich selbst und seine Botschaft Lügen strafen.

IV.
Es wird nicht weit hergeholt sein, wenn man von diesen Anweisungen Jesu her vermutet, dass überall dort, wo Christen und Kirchen zu wenig oder gar nichts von dieser jesuanischen Freiheit herüberbringen, – dass das damit zu tun hat, dass sie diesen Anweisungen zu wenig oder gar nicht trauen. Es gibt ein Ereignis in der Geschichte der Kirche, an dem das exemplarisch deutlich wird. Im 13. Jahrhundert, einer Blütezeit des Christlichen, kam es gerade dort, wo die Kirche besonders selbstbewusst auftrat, zu so genannten Ketzer- Bewegungen, also Abspaltungen von Gruppen, die die Treue zum Ursprung und zum Evangelium durch die kirchlichen Amtsträger verraten sahen. Besonders scharf erhoben die Katharer und Albigenser diesen Vorwurf. Und die erste Reaktion der obersten kirchlichen Autorität: Sie schickte Boten los, die die Abgefallenen wieder bekehren sollten. Und diese zogen über Land und predigten den Kritikern vom Rücken ihrer Pferde herab, ein Schwert in der Hand. Unmissverständlich war, was das bedeuten sollte. Und entsprechend war auch die Wirkung auf die Adressaten: Verhärtung bis zu Mord und Totschlag. Sensible Zeitgenossen waren entsetzt darüber und brachten ein regelrechtes Gegenprogramm in Gang, allen voran der Domingo Guzman, der spätere Hl. Dominikus, und Francesco di Asissi, bald Il Poverello, der kleine Arme genannt. Beide gründeten eine radikale Reformbewegung, die so genannten Bettelorden, die – ganz entgegengesetzt zu jenen päpstlichen Gesandten – zu Fuß zu den Leuten gingen, und bewaffnet (in Anführungszeichen) einzig mit dem Wort Gottes, den besseren Argumenten und einer von Herzen kommenden Sprache. Nicht zufällig ist der Predigtleitfaden, den Francesco seinen Brüdern an die Hand gab, ein Gedicht und zugleich die erste Poesie in Volgare, also der frühen italienischen Volkssprache: der berühmte Sonnengesang.
Pedester praedicare nannte man diesen Stil der Bettelmönche: zu Fuß predigen. Oder in der Sprache von heute gesagt: Nicht blenden und eine Show abziehen, sondern das Wort Gottes mit den immer armseligen Mitteln eines behutsamen, poetischen Sprechens zum Leuchten bringen. Einfach ist das nicht, heute genauso wenig wie zur Jesu Zeit oder des Poverello und des Dominikus.

V.
Wer es trotzdem wagt, wird gut beraten sein, sich ähnlich auf Enttäuschungen einzustellen, wie Jesus seine Boten auf solche vorbereitet hat. Manche Hörer wollen einfach geblendet sein, und manches Ohr wird der Barfußpredigt verschlossen bleiben. Unumgänglich ist sie trotzdem. Darum ist es tröstlich, dass es nicht selten und bis heute die sind, die nichts hermachen um sich und nichts in die Waagschale werfen können außer sich selbst, auf deren Zeugnis hin Menschen umkehren, zu einem neuen Anfang und durch ihn zu Gott und in ihm zu sich selber finden. Im 19. Jahrhundert war es z.B. ein Pfarrer von Ars, der nur mit Ach und Krach und den zugedrückten Augen seiner Lehrer das Studium hinter sich brachte, der sich für jede Predigt elend plagen musste – und trotzdem (oder gerade deshalb) zu einem Seelsorger wurde, den zu hören Leute mehrere Stunden Fußmarsch auf sich nahmen und vor dessen Beichtstuhl sie Schlange standen. Oder der Hl. Bruder Konrad von Parzham, ein Bauersknecht, der in Altötting Bruder an der Pforte des Kapuzinerklosters war und dort zahllose Menschen mit einem guten Wort getröstet und gestärkt hat, bis dahin, dass sich Verbrecher auf die Begegnung mit ihm hin dem weltlichen Richter stellten.
Vor gut vierzig Jahren war es Johannes XXIII., der die Herzen berührte, weil er sich vor niemandem fürchtete und nichts für sich selber wollte. Übrigens funktioniert dieser Zusammenhang auch umgekehrt wie ein Seismograph für das, was in einer Seele wirklich vorgeht: Wo immer jemand – auch wenn er anderes sagt – etwas für sich selber will und also ehrgeizig ist, gerade in geistlichen Dingen, in Fragen amtlicher Autorität etwa –, verrät er sich an der Furcht, die ihn behext: Furcht um vermeintliche Privilegien, Furcht vor anderen Meinungen und Kritik, manchmal bis hin zu Zügen von Verfolgungsphantasie; dann redet einer in jedem fünften Satz, den er sagt, von sich selber und von der Vollmacht, kraft deren er handelt oder zu handeln meint.
Doch auch heute gibt es Frauen und Männer, Laien, Ordenschristen, Priester, Bischöfe genug, die Jesu Dienstanweisungen ernstnehmen. Wenn Ihnen einer von Gott, dem Glück und dem Leben redet, dann achten Sie darauf, wie einfach er oder sie es tut. Je weniger er dafür an Mitteln braucht und von sich selber redet, ohne unpersönlich zu sprechen, desto mehr dürfen Sie ihm trauen.