Hauch der Versöhnung

Totengedenken der WWU Münster am 04. 11. 2003: Röm 8,14-23 + Lk 7,11-17

I.

Wenn die Tage kürzer werden, gedenkt man vielerorts der Toten des vergehenden Jahres. Die christlichen Kirchen binden die Erinnerung an zu Ende gekommene, manchmal abgebrochene Lebensgeschichten untrennbar an ihre Gotteshoffnung, die darauf setzt, dass alles menschlich Gelebte und Gelittene und sogar das Verfehlte noch zu einem guten Ganzen sich fügen in einer Wirklichkeit, die die biblischen Überlieferungen "neuen Himmel und neue Erde" nennen.

Wer solche Hoffnung nicht teilen mag, wird von den Toten, die ihm nahe waren, wünschen, sie möchten eine Weile wenigstens dadurch noch dazugehören, dass man sich gern an sie erinnert oder ob des von ihnen Geschaffenem mit Respekt ihren Namen nennt. Den Fragen nach Glück und Not eines gelebten Lebens, und wie beides denn zusammengehen möchte, lässt das eher wenig Raum. So erklärt sich unschwer der Trend, vor das Sterben einen ganzen Paravent von Verbergungstechniken zu stellen – bis dahin, dass in einem Sterbensfall die professionellen Ritendesigner neuestens nicht mehr das Wort "Toter", geschweige denn "Leichnam" in den Mund nehmen, sondern von denen sprechen, die "geliebt" waren.

II.

Es ist noch nicht so lange her, da wagte man in der Regel, Leben und Sterben enger beieinander zu halten. Wie das geschah, kann einem etwa die Verfilmung des Lebens von C.S. Lewis eindringlich nahe bringen. Lewis war ein berühmter Professor für Literatur des Mittelalters und der Renaissance in England. International machte er sich mit spirituellen Büchern einen Namen, der ihn in den Rang eines der wichtigsten christlichen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts hob. Lewis war über Jahrzehnte eingefleischter Junggeselle gewesen. Doch eines Tages lernte er die Amerikanerin Joy Davidman kennen, die gemeinsam mit ihrem Sohn vor ihrem gewalttätigen Mann geflohen war. Sie wollte um keinen Preis zurück. Um sie vor der Abschiebung durch die britischen Behörden zu bewahren, willigte Lewis ein, sie zu heiraten. Ein Scheinehe mithin. Aber, manchmal geschieht das – es wird mehr daraus: Lewis und Joy Davidman entdecken ihre tiefe Liebe zu einander, werden ein "richtiges Ehepaar", wie er schreibt.

So ungewöhnlich die Ehe beginnt, so glücklich ist sie – und so kurz: Noch im Hochzeitsjahr erkrankt Joy an Krebs. Nach anfänglichen medizinischen Heilungserfolgen machen beide Urlaub in Irland, genießen die geschenkte Zeit. Als sie bei einem Spaziergang während eines Gewitters in einem Unterstand eng beisammen stehen, sagt ihm Joy: "Ich werde sterben." Lewis will nichts davon hören, will das Glück der Stunde sich nicht trüben lassen. Doch Joy beharrt: "Ich werde sterben. Du sollst es wissen. Es hat auch seinen Platz hier. Das Glücklichsein jetzt wird Teil des Schmerzes dann sein, wenn ich gestorben bin." (The hapiness now will be part of the pain then). Einige Zeit später ist Joy tot. Das Ende des Films zeigt Lewis mit seinem Stiefsohn auf einem Wiesenweg, in sich gekehrt. Und dann sagt er: "The pain now will be part of the hapiness then" – Der Schmerz jetzt wird Teil des Glückes dann sein. Dann, wenn er mit Joy in Gottes Gegenwart vereint sein wird.

III.

Keine Frage. Ein solches ineinander von Glück und Not – eines so ins andere eingeborgen, dass daraus ein Hauch von Versöhnung sich über das Rätsel von Leben und Sterben breitet - , das lässt sich nicht herbeireden und nicht andemonstrieren. Wo immer einer darauf zu sprechen kam und kommt, geschieht das behutsam im Bewusstsein der Zerbrechlichkeit eines solchen Gedankens: Ein Hölderlin, ein Camus, St.-Exupery, Tom Wolfe und wer immer sonst, wissen das und entsprechend behutsam gehen sie deshalb dabei mit der Sprache um. Der größte Poet jiddischer Sprache unserer Tage, Abraham Sutzkever hat dafür die Regel geprägt:

"Geh über Wörter wie über ein Minenfeld: ein falscher Schritt, eine falsche Bewegung, und alle Wörter, die du ein Leben lang auf deine Adern gefädelt hast, werden mit dir zusammen in Stücke gerissen…"

IV.

Fast möchte ich glauben, Sutzkevers Mahnung ließe sich wie eine Kurzkommentar zu der Episode aus dem Lukas-Evangelium lesen, die wir vorhin gehört haben, zumindest dann, wenn ich mich erinnere, wie Renaissancekünstler bisweilen die Szene ins Bild gesetzt haben: Sie zeigen, wie der Leichenzug mit dem toten Jüngling gerade aus der Stadt herauskommt. Die Häuser und Stadtmauern scheinen wie bei einem fürchterlichen Erdbeben durcheinander zu tanzen: Der Mutter, die ihr Liebstes und als Witwe ihre einzige Stütze für Zukunft und Alter verloren hat, zerbirst die Welt. Der Tod ist eine Chaosmacht, die alles aus den Fugen wirft. Und dann zeigen die Fresken, wie Jesus, der auf das Stadttor zugeht, sich dem Leichenzug entgegenstellt und ihn gleichsam wieder in die Stadt hineinschiebt. Dem entspricht genau die Sinnspitze von Lukas Erzählung, die ihre Auffälligkeit darin hat, dass Jesu Aufmerksamkeit ganz der Mutter und nicht dem toten Sohn gilt. Das Mitleid mit ihr hat ihn handeln lassen. Die Begegnung mit Jesus hilft der Frau, der alles aus dem Lot geraten war, die Erfahrung des Todes in das Geviert ihres Lebens hineinzunehmen.

Nicht zufällig lässt Lukas darauf hin die Umstehenden Jesus nicht als Wundertäter anstaunen, sondern als großen Propheten titulieren, als einen, der hervorsagt, wie Gott selbst zum Menschen steht: Dass dieser Gott einer ist, von dem das zerbrechliche Menschlein gewiss sein darf, dass er es gut meint mit ihm. Dass darum auch seine Endlichkeit nicht im Widerspruch zur Güte dieses Gottes steht und auch das noch, was in irdischen Augen unvollendet und zerbrochen aussehen mag, in die Hand dieses Gottes geschrieben bleibt und darum für immer unverloren sein wird in ihm.

V.

Der christliche Glaube übt darum im Gedenken an die Toten auch keine Jenseitshoffnung, einen Platonismus fürs Volk, wie Nietzsche frozzelte, so als ob wir im Sterben nur die Pferde wechselten, um unter erleichterten Bedingungen mehr oder weniger weiter zu machen. Wohl aber trauen Christinnen und Christen ihrem gelebten Leben eine Innenseite zu, die an Gottes Ewigkeit rührt. Dass es sich dabei nicht einfach um eine fromme Redeweise handelt, die Trost spenden möchte, lässt sich daran ermessen, dass einer unserer Zeitgenossen, wohlgemerkt kein Theologe, diese Glaubenshoffnung in der Form eines philosophischen Gedankens hat nachzeichnen können. Unbeeindruckt vom mainstream der sich selbst Denkverbote auferlegenden akademischen Gegenwartsphilosophie spricht er mit der ihm eigenen Lust an der Provokation von seiner Überlegung als einem Gottesbeweis nach Nietzsche. Man muss letztere Chuzpe nicht teilen, um gleichwohl dem Gedanken luzide Überzeugungskraft zu attestieren.

Robert Spaemann, um ihn handelt es sich, geht von dem lapidaren Befund aus, dass jeder Satz, der anfängt mit "Jetzt ist…" morgen aufhört, wahr zu sein. Aber man kann von dem, was jetzt ist, wenn es ist, zweifelsfrei sagen "Es wird gewesen sein". Und dieses "Es wird gewesen sein" bleibt wahr für immer. "Indem alles Präsentische zugleich ein solches ist, das gewesen sein wird, - und zwar für immer und ewig - , gehört es schon immer der Dimension des Zeitlosen an. Als Künftiges wird es gegenwärtig, als Gegenwärtiges wird es zum Vergangenen, aber als Vergangenes wird es für alle Zukunft bleiben." (R. Spaemann: Personen. Stuttgart 1996. 130) Von irgend etwas, das jetzt geschieht, sagen, es werde einmal nicht gewesen sein, sei es das Glück einer wunderbaren Stunde, sei es die Qual eines misshandelten Kindes, zieht eine Entwirklichung aller Gegenwart nach sich. Wenn aber von allem, was jetzt ist, mit unhintergehbarer Wahrheit gesagt werden kann, es werde einmal gewesen sein und weil dieses Gewesen sein werden völlig unabhängig ist davon, dass das, was jetzt ist, einem Bewusstsein jetzt gegenwärtig ist, kann dieses Gewesen sein werden nur das definitive Aufgehobensein aller Ereignisse dieser Welt in einem ewigen Innen bedeuten, dem Menschen in den biblischen Traditionen so behutsam den Namen Gott geben, dass sie ihn am liebsten schweigend ehren.

VI.

Natürlich lässt sich auch der gegenteilige Gedanke fassen, nur muss, wer das tut, auch mit der Konsequenz daraus einverstanden sein: Wenn ich von dem, was jetzt ist, soll denken können, dass es einmal nicht mehr gewesen sein wird, kann es auch jetzt in einem letzten Sinn nicht wirklich sein. Die Verneinung des Lebens, wie etwa der Buddhismus sie zu denken sucht, ist die notwendige Folge dieses Gedankens. Umgekehrt folgt daraus aber auch, dass, wer den Gedanken jenes unverlierbaren Gewesen sein werdens all dessen, was jetzt ist, denkt, sein Leben und Sterben jetzt schon in einen neuen und engen Zusammenhang stellt. Der Gedanke an mein und meiner Lieben Ende und dessen Annahme stellt, weil der anderen und mein Leben einmal für immer gewesen sein wird, diese Leben jetzt als ganzes in die Dimension der Ewigkeit. Das Bewusstsein unserer Endlichkeit macht das Leben jetzt gerade nicht absurd, sondern ist Voraussetzung dafür, dass wir es als kostbar erfahren, als kostbar in jedem seiner Augenblicke und unabhängig von deren Zahl und Dauer, weshalb auch ein jung zu Ende gekommenes Leben keineswegs ärmer sein muss als das eines anderen, der lebenssatt die Schwelle der 80 überbietet. Zeitliches Immer weiter leben zerstörte die Erfahrung dieser Kostbarkeit, weil, was getan werden kann, immer noch getan werden könnte. Der Tod macht das Leben ganz und das für immer gewesen Sein werden schenkt ihm seine unvertretbare Einmaligkeit und Würde. Das christliche "Memento mori" vergällt nicht die Freude am Dasein, sondern macht dieses in einem tiefen Sinn wirklich, weil es einen Menschen einverstanden sein können lässt damit, dass es endlich ist und dass es ihm entrissen wird, ohne die Angst haben zu müssen, dadurch werde alles verloren sein.

In dieser befreienden Wahrheit gedenken wir heute der Toten aus der Lebens- und Arbeitswelt unserer Hochschule. Wir nehmen besonders den in unsere Gedanken hinein, der als erster aus unserer Mitte in ihren Kreis gehen wird. Und wir erhoffen oder erbitten für uns selber jenen Hauch der Versöhnung, der uns befähigt, bei allem, was uns abgehen mag, mit uns selbst auch einverstanden zu sein.