Transformationen
1. Advent B: Mk 13, 24-37
I.
Der erste Advent, Beginn des Kirchenjahres, geht immer auch mit einem Neuanfang bei der Lesung der Heiligen Schriften im Gottesdienst einher. Unser hauptsächlicher Begleiter in diesem Kirchenjahr wird der Evangelist Markus sein. Er ist der Erfinder der literarischen Gattung "Evangelium". Was ist ein Evangelium eigentlich? Auch wer nicht Griechisch kann, übersetzt routiniert mit "Gute Nachricht" oder "Frohe Botschaft" – aber damit ist über das, was ein Evangelium will, noch nicht viel gesagt. Man muss darauf achten, warum und wie diese Schriften, die ja so etwas wie Gründungsurkunden unseres Glaubens sind, zustande kommen.
II.
Um das leichter zu verstehen, kann ein Seitenblick auf das Judentum eben jener Zeit helfen, in der auch das erste, also das Markus-Evangelium entstand. Der Talmud erzählt von dem großen gelehrten Jochanan ben Sakkai, der in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung im belagerten Jerusalem lebte, kurz vor dessen Zerstörung im Jahr 70 durch die Römer. Er erkannte, dass Jerusalem und der Tempel dem Untergang geweiht waren. Darum bat er die Römer, außerhalb Jerusalems lernen und lehren zu dürfen. Seine Schüler schmuggelten ihn in einem Sarg – als angeblich Verstorbenen – aus dem belagerten Jerusalem hinaus. Sie taten das nicht, um die Römer zu täuschen – denen waren die Religionssachen dieses Provinzvolkes ziemlich egal. Der Sargtrick diente vielmehr dazu, den Zeloten, den jüdischen Revolutionären zu entgehen, diesen Heißspornen, die die Stadt bewachten und jeden töteten, der nicht bereit war, zusammen mit der Stadt zu sterben. Draußen angelangt, ließ sich Jochanan in Jawne nieder, gründete eine blühende Schule des Studiums der Schrift und half so mit, über das in Feuer und Blut getauchte Ende des Tempels hinweg den Glauben der Väter zu bewahren. In dem, was wie ein Sterben aussah, vollzog sich eine Verwandlung zu neuem Leben.
III.
Genau so einem Prozess entspringen auch die Evangelien, vor allem dasjenige des Markus. Es war ein solcher Transformationsprozess sozusagen im Innern der jüdischen Glaubensgemeinschaft selbst, der aber engstens mit deren eben erzählter Bedrängnis durch die Römer zusammenhängt. Und der Auslöser dieses Prozesses war Jesus selbst gewesen – mit etwas, das auch uns heute noch auf existentielle Weise angeht. Jesus war Jude und er blieb es. Er ist nie aus dem Judentum ausgetreten, hat nie eine Kirche gegründet. Er hatte ja eine – die Gemeinde der von Gott Erwählten, als die sich das Volk verstand, in das er hineingeboren war, also die Synagoge. Er hat auch keine Religion gestiftet, denn für ihn war Gottes Bund mit Israel, geschlossen auf dem Sinai, gültig, und er blieb es, weil Gottes Ja unwiderruflich ist. Das verrät jede Zeile dessen, was von und über ihn überliefert ist. Und selbst der Konflikt, der ihn schließlich ans Kreuz brachte, wurde nicht dadurch ausgelöst, dass er in Konfrontation zu den Überzeugungen seiner Glaubensgemeinschaft ging, indem er dieser etwa einen Gesetzesrigorismus und ein Leistungsdenken in Sachen Frömmigkeit vorwarf oder Ähnliches, wie christlich oft gedacht wurde und wird. Im Gegenteil begegnen uns in den Evangelium mehr als genug Jesus-Worte, die das konsequente Einhalten der Tora und ihre Erfüllung bis zum kleinsten Jota einfordern.
Der Konflikt entzündete sich vielmehr daran, dass Jesus einen Grundzug des Glaubens seiner Väter besonders konsequent und radikal ernst nahm: Für Israel gehört nämlich von Anfang an zu Gedanken seiner Erwählung durch Gott die Überzeugung, diese Erwählung nicht einfach für sich erhalten zu haben, sondern für die Heiden und letztlich für die ganze Schöpfung: Es gibt nur einen Gott. "Mein ist die ganze Erde", sagt dieser Gott von sich. Und gerade in Zeiten größter Bedrängnis, etwa dem babylonischen Exil und der Zeit danach, in der auch der Prophet unserer ersten Lesung gesprochen und gebetet hat, da reifte Israels Erwählungs- und Sendungsglauben gleichsam zu seiner Vollgestalt in Gedanken wie etwa: Wenn an diesem Gott und seiner Geschichte etwas daran sein soll, dann ist er auch jetzt nicht fern. Dann kann er nicht nur der Gott unseres kleinen Volkes sein, sondern ist er auch der Gott derer, die uns jetzt unterdrücken und schließlich der Gott, also Souverän, der ganzen Welt. Israel weiß sich also, gerade weil es sich Gott so in die Hand geschrieben glaubt, auf die anderen, die Heiden, auf die, die "draußen" sind, hingeordnet – zu deren Segen. Den sollen und dürfen sie alle sich abholen bei Israel. So ist es schon vom Urvater Abraham gesagt: Durch deine Nachkommen sollen alle Völker der Erde gesegnet sein, weil Du auf meine Stimme gehört hast, heisst der Schlusssatz der berühmten Szene von der Opferung Isaaks, dieser aufwühlenden Bundesgeschichte.
Und genau mit dieser urjüdischen Glaubensüberzeugung hat Jesus ernstgemacht in seiner Hinwendung zu denen, die als "draußen" galten und die "draußen" waren. So ernst gemacht, dass seine Liebe zu den Fremden in den Augen der theologisch Führenden das labile Gleichgewicht zwischen Innen und Außen, zwischen Erwähltsein und Sendung nicht mehr respektierte. Sie haben ihre realpolitische Erfahrung mit der römischen Besatzung und seine Glaubensradikalisierung, die ihn gar von vorbildlichen Heiden und bekehrunsgbedürftigen Juden sprechen ließ, nicht mehr ausgehalten. Darum ließen sie ihn beseitigen. Und er ließ das zu, weil ihm jene Überzeugung, als Jude zum Segen für alle berufen zu sein, auf so einmalige Weise Herzensgewissheit geworden war, dass er dafür sich selbst darangab. Wieder eine Transformation. Er, der einst von sich sagte, er sei nicht zu den Heiden, sondern nur zu den verlorenen Schafen des Hauses gesandt, stirbt wegen seiner Zuwendung zu den Fremden, den Heiden und Feinden und löst damit eine Sendungsbewegung seiner Freunde aus, die immer weniger Halt macht an der völkischen Grenze des Judeseins, immer mehr gottesfürchtige Heiden einbezieht – bis schließlich dahin, dass die jüdischen Jesusanhänger mit den aus den Heidentum Kommenden unter Hintanstellung alles Trennenden wie der Beschneidung und den Speisevorschriften Gemeinschaft halten – Transformation. Was wie ein Ende aussieht, ist Aufbruch zu und Anbruch von Neuem.
Und wieder – natürlich – geht das mit Konflikten einher. Konflikten, die nicht selten so enden wie Jesu eigener Konflikt am Karfreitag. Wir brauchen nur an den Stephanus aus der Apostelgeschichte zu denken. Und daran, dass die Jesusgefolgschaft selbst Familien zerreißen kann bis hin zum Haß und zur Exkommunikation. Und in der Zeit der Zerstörung des Tempels, die Zeit Rabbi Jochanans, da dieser Konflikt zwischen Drinnen und Draußen sich bis zum letzten zuspitzt, da nehmen ein paar griechisch sprechende Juden, deren Herz an diesem Jesus hängt, ihren Mut zusammen, und schreiben in Form einer theologisch-geistlichen Biographie Jesu dessen Herzensanliegen für die Heiden und Fremden nieder, also die, denen es von Wesen galt. Damit es nicht verloren geht, weil es "drinnen" keinen Platz mehr hat und nicht mehr wirken kann. Der Erste von ihnen, der das tut: Unser Markus. Wieder also: Transformation in einer Preisgabe des Eigenen zum Segen für die anderen. Zum Segen auch für uns. Ohne die so entstandene Heidenkirche gäbe es uns hier nicht als Christinnen und Christen.
IV.
Warum erzähle ich Ihnen von diesen Transformationsprozessen aus der Frühzeit unseres Glaubens, heute am ersten Advent? Nicht einfach nur deshalb, weil wir ihnen die Evangelien verdanken, durch die wir von Jesus wissen. Sondern weil die Kette dieser Transformationen nach vorne offen ist, bis heute und über unser Heute hinweg noch in die Zukunft hinein. Die Evangelien sind darum Krisenschriften. Am meisten das Markus-Evangelium als das älteste von ihnen. Und dort wiederum am allermeisten das Kapitel 13, aus dem unser Evangelium von heute genommen ist. Apokalyptisches Flugblatt nannten die Exegeten früher diese Passage, weil sie von Drangsal und Verfolgung redet. Auch deren Grund gibt sie an: Verfolgung durch die Gerichte und Hass seitens der eigenen Familie erfahren die Jesusfreunde, weil das Evangelium an alle Heidenvölker verkündet werden muss. So steht es in Jesu Testament, das Markus ihn am dritten Tag der Karwoche sprechen lässt, auf dem Ölberg stehend, den Blick auf den Tempel gerichtet, von dem Markus und seine Adressaten, 40 Jahre nach Jesus schon wissen, dass er zerstört ist.
Aber zu diesem Testament gehören auch die Worte des Trostes und der Ermutigung. Sonne und Mond hören zu scheinen auf, die Sternen fallen herab, der Himmel fällt einem auf den Kopf und der Boden wankt unter den Füssen. Doch was sich wie völliger Zusammenbruch ausnimmt, bekommt durch die Erinnerung an den Feigenbaum eine überraschende Wendung zu aufbrechendem Neubeginn: Sobald seine Zweige saftig werden und Blätter treiben, wisst ihr, dass der Sommer nahe ist. Untergehendes ist Zeichen des Neuen, Segensvollen, das kommt. Wie Jochanan im Sarg. Wie die schmerzhaften Wege der jungen Kirche. Und all das unterfassend für uns: Jesus selbst, der Gekreuzigte Auferstandene. Sein Geschick hat etwas zutiefst Adventliches, weil es bestätigt und beglaubigt: Wo menschlich das Ende kommt, ist Gott noch nicht fertig. Noch lange nicht.
V.
Wenn uns die Liturgie diese Botschaft vom Verwandelt werden zu Segen für alle durch das Zerbrechen des Bestehenden hindurch gerade heute am ersten Advent zu Ohren bringt, dann natürlich deshalb, weil dieses Testament des Herrn an dem Tag, da wir in unserer Glaubensgeschichte einen kleinen Neuanfang machen dürfen, der Kirche, der Gemeinde von heute gesagt sein will. Wie sehr täte der Kirche der Mut zum Sich verwandeln lassen Not, zur adventlichen Transformation, heute, da sie manchmal unter der Last ihrer Herkömmlichkeiten zusammenzubrechen droht. Und sie muss doch auch keine Angst davor haben. Kennt sie doch sehr genau das Kriterium für die Richtung aller Verwandlung: Es muss Segen daraus kommen, Segen für die anderen, die "draußen", die Fremden. Für alle. Weniger wäre zu wenig. Und tun wir gut daran, wenn wir diese Sendung einüben, indem wir suchen, einander Segen zu werden.