Chrisam statt Sirup

28. Sonntag B: Mk 10,17-30

I.

Aus der Zeit, in der der große russische Dichter Andrej Sinjawskij noch unter dem Pseudonym Abram Terz schreiben musste, stammen auch etliche seiner Aphorismen, die er mit "Gedanken, dann und wann" betitelte. Etliche davon kreisen um Gott und Glaube. An eine dieser Passagen musste ich spontan denken, als ich das Evangelium des heutigen Sonntags aufschlug:

Das heutige Christentum, schreibt Sinjawskij da, versündigt sich durch Wohlerzogenheit. Es hat kaum etwas anderes im Kopf als die Angst, sich die Finger schmutzig zu machen oder aufdringlich zu erscheinen. Es scheut sich vor Dreck, Derbheit, Direktheit und zieht den peinlich genauen Durchschnitt vor. Der heilige Chrisam hat sich in Sirup verwandelt… Es macht ein Schmollmündchen und wartet, dass Gott der Herr ihm eine Eins in Betragen gibt; … Die Kirche Christi wird mit einem Mädchenpensionat für höhere Töchter verwechselt. Am Ende ist alles Lebendige und Farbige dem Laster in die Hände gefallen… Die Kirche hat die feurigen Kraftausdrücke der Bibel vergessen… Das Christentum aber soll mutig sein und die Dinge beim Namen nennen… Auf diesem Wege kann man leicht der Versuchung der Häresie erliegen. Heute aber ist die Häresie weniger gefährlich als das Verdorren im Halm.

II.

Was ich jetzt nicht tue, ist, dass ich mit Sinjawskij im Rücken wohlfeile Kritik an der Kirche von heute übe – allein schon deshalb nicht, weil ich mich vor falschem Beifall seitens mancher Parteigänger der notorischen kardinalen Schwarzmaler in Köln und Rom hüten möchte. Gleichwohl machen deren Klischees nicht falsch, was Sinjawskij schrieb, und das kann man vielleicht ziemlich direkt in der Begegnung mit dem Evangelium von heute spüren.

III.

Diese Szene der Begegnung zwischen Jesus und dem jungen Mann, der ihm die Frage nach Weg zum Heil stellt, hat die, die sie lasen oder auslegten, seit je umgetrieben, obwohl es an ihr eigentlich gar nichts zu enträtseln gibt: Die Frage des Mannes ist genauso verständlich, wie Jesu Antwort, die schlicht in einem Verweis auf die Gebote, die Tora als das Grundgesetz Israels besteht und dabei die mitmenschliche Dimension in den Vordergrund rückt, weil diejenige des Gottesverhältnisses durch die Frage des Mannes ohnehin schon präsent war. Und selbst, dass Jesus die Bezeichnung "gut" für sich selbst aus dem Munde des Fragers zurückweist, weil doch Gott allein der Gute sei, muss nicht irritieren, sondern rührt daher, dass der Wille Gottes als Dreh- und Angelpunkt seiner Antwort unüberhörbar zur Geltung kommen soll.

Die Antwort des Mannes, dass er all diese Gebote von Jugend an befolgt habe, vergewissert Jesus einer Nähe zwischen ihm und sich, aus der folgt, was nun kommt: Er schaut ihn an, und weil er ihn liebte - , man muss genauer übersetzen: Er schaute ihn an, umarmte oder küsste ihn und sagte zu ihm: Eins fehlt dir noch: Geh, verkauf alles, was du hast, gib es den Armen, und du wirst einen Schatz im Himmel haben. Und dann folge mir nach! Die liebevolle Geste Jesu und was er dazusagt, sind nicht Anerkennung des schon gelebten Gebotsgehorsams oder dessen Ergänzung, sondern Einladung zu einem ganz Anderem, einem Mehr, zu einem Über-Maß, wie es nur die Liebe kennt. Vielleicht muss man – von außen gesehen einfach von Verrücktheit sprechen.

Es geht dabei nicht einfach um asketischen Besitzverzicht, den kennen Teile des damaligen Judentums und manche Strömungen der griechischen philosophischen Ethik auch. Die Drangabe des Vermögens, zu der Jesus sein Gegenüber einlädt, ist eine durch und geistlich-existentielle: Sie zielt darauf, dass Platz werde dafür, dass Gott das Ein und Alles für diesen Menschen werde, wie er es für Jesus selbst ist. Irgendwie atmet unsere Geschichte ja die Atmosphäre der von Matthäus überlieferten Gleichnisse vom Mann, der in einem Acker einen Schatz findet, heimläuft, all sein Hab und Gut verkauft, um jenen Acker zu erwerben, der den kostbaren Schatz birgt. Und dem Gleichnis vom Kaufmann, der schöne Perlen sucht und eine so herrliche findet, dass er hingeht, alles, was sein eigen ist, drangibt, um die eine Perle zu gewinnen. Genau so wie jemand, der einen unendlich beglückenden Fund gemacht hat, spricht Jesus vom Gottesreich. Und in seiner Einladung an den jungen Mann möchte er diesem an seinem Fund, seinem Gottesglück teilgeben. Der Mann freilich kann und will die Einladung nicht annehmen, die sich in einem Mitgehen mit Jesus auf dessen Weg ausgedrückt hätte. Die Hürde dieses Darüberhinaus war ihm zu hoch, weil sein Vermögen groß war. Er konnte, was im Vergleich zu Gott klein ist, nicht klein sein lassen.

IV.

Aus dem Weggang des Mannes in Betrübnis und Trauer zieht Jesus vor den Jüngern ein Fazit, das sie bestürzt, weil er, was sie soeben erlebten, auf alle Besitzenden ausdehnt – und ob dabei wirklich vom sprichwörtlich gewordenen Kamel die Rede war, das eher durch ein Nadelöhr geht, oder sich das gute Tier dem Hörfehler von Abschreibern verdankt, die Kamelon statt Kamilos – zu deutsch Schiffstau – verstanden, tut dem Sinn des Jesuswortes keinen Abbruch. Die Aporie – also Weglosigkeit – bleibt so und so, solange einen Menschen das, was er sein Eigen nennt, so bestimmt, dass es Teil seines Selbstseins ist. Nicht obwohl, sondern weil Menschen Wesen aus Fleisch und Blut sind, rückt ihnen das Geistliche buchstäblich auf den Leib. Und wen es trifft, kann sich dem nicht mehr entziehen. Jüngerexistenz ist etwas Prekäres und kann nur von der unverfüglichen Gnade getragen gelingen, für die alles möglich ist.

Es ist kein Zufall, dass die Auslegung unseres Evangeliums von Anfang an zumeist eine Geschichte der Entschärfung war in dem Sinn, dass es auf den rechten Gebrauch des Besitzes ankomme und dass es genauso Besitzende geben könne, die lieben, wie Nicht-Besitzende, die nicht lieben. Und so weiter. Aber ebenso wenig ist Zufall, dass es sozusagen immer zu knistern begann in der Kirche, wenn mit dem Besitzverzicht ernst gemacht wurde im Sinn der jesuanischen Einladung an den jungen Mann - exemplarisch natürlich zu studieren an Francesco und kurz darauf an Clara von Assisi, deren 750. Todestag im vergangenen August zu begehen war. Der Sohn einer reichen Kaufmannsfamilie und die Tochter aus adligem Hause wählen die Armut nicht aus Protest gegen den einsetzenden Frühkapitalismus und nicht aus Gründen größerer Verfügbarkeit für Anderes, sondern Armut ist ihre liebende Antwort auf die Liebe Gottes, die sich in seinem Herabsteigen in Jesus und in dessen menschlicher Armut und Liebe mitteilt. Man kann das unmittelbar an der Weise nachempfinden, wie Franceso und Clara über ihr geistliches Suchen sprechen: Da begegnet die Armut als Frau, als Geliebte des Gottessohnes, die er – Francesco – aus Treue zu seinem Herrn auch verehrt im buchstäblich amourösen Sinn des Wortes und der er gefallen will in seinen Liedern und Taten. Die Spiritualität der Armut ist für ihn Minnedienst als Antwort auf erfahrene Liebe.

Wohl schon in der franziskanischen Urregel von 1209 findet sich jenes Herrenwort aus unserem Evangelium, das denen, die alles verlassen, hundertfachen Empfang verheißt – aber eben nicht in einem wie immer funktionalen Sinn oder gar in der Absicht eines "do ut des", sondern in der Gewissheit, dass vor Gott aus einer Armut an Dingen ein Reichtum an Leben hervorgeht, der in der Freiheit gründet. Wunderschön kommt das in einem Mysterienspiel mit dem Titel "Sacrum Commercium" (Heiliger Tausch) aus der Mitte des 13. Jahhrhunderts zum Ausdruck, das von Francesco und der edlen Frau Armut handelt und in einer Mahlszene gipfelt:

Die Brüder führen die Herrin Armut zu ihrem Kloster. Sie möchte alles besichtigen, Oratorium, Kapitelsaal, Kreuzgang – was eben ein Kloster zu haben pflegt. Doch die Brüder erwidern ihr, sie seien jetzt müde vom langen Wege und auch sie, die Herrin Armut habe sich angestrengt. Sie würden jetzt gern zuerst essen und ihr dann alles zeigen. Nach einem kargen Mahl singen sie gemeinsam das Gotteslob und Frau Armut hält Siesta: Sie führten sie zu einem Ruheplatz… Da streckte sie sich nackt auf der nackten Erde aus. Sie erbat sich ein Kopfkissen, und da die Brüder keines hatten, brachten sie ihr einen geeigneten Stein unter den Kopf. Als sie sich erhob, bat sie wieder, dass ihr das Kloster gezeigt werde. Die Brüder führten sie auf einen kleinen Berg. Von da zeigten sie ihr die ganze Welt, soweit ihr Blick reichte, und sagten: Das ist unser Kloster, edle Frau!" (Sacrum Commercium 29-30).

V.

Nur aus dem intimen Innenraum eines Wortes, das heute selbst Theologen kaum mehr in den Mund nehmen mögen, lässt sich unser Evangelium und seine Wirkungsgeschichte in einem Francesco, einer Clara und später anderen wie einem Charles de Foucault, einer Madeleine Delbrel, einer Simone Weil. Das Wort heißt: Gottesliebe. Und vielleicht ist es ganz gut, dass wir uns schwer tun, es in den Mund zu nehmen. Wo auch nur das, wofür es steht, ins Spiel kommt, ergreift nach dem Zeugnis des Evangeliums selbst die Jünger ein Erschrecken, das wir getrost ein heiliges nennen dürfen. Ohne es wird es die Nachfolge in Gestalt der Armut nicht geben können. Heute erst recht und nicht weniger als damals. Wohl nicht einmal die Sache einer Wahl ist sie, weil sich Liebe mit diesser Kategorie gar nicht fassen lässt. Auch das hat schon Sinjawskij messerscharf beobachtet:

Ich weiß noch immer nicht, schrieb er in seinen eingangs erwähnten "Gedanken, dann und wann" -, ich weiß noch immer nicht, was eigentlich "Freiheit der Wahl" bedeutet… Haben wir etwa die Wahl, wenn wir jemand lieben? Wenn wir glauben?... Die Liebe (wie jedes starke Gefühl) ist eine Monarchie, eine Despotie, die im Innern regiert und ohne Rücksicht und ohne Pardon Gefangene macht. Von welcher Freiheit kann noch die Rede sein, wenn wir ausgeliefert sind, wenn wir an nichts mehr denken, nichts vor uns sehen außer dem GEGENSTAND, der uns erkor, um uns anschließend zu peinigen und zu beglücken?... Die Freiheit ist stets eine negative Größe und setzt eine Abwesenheit voraus, eine Leere, die nach Auffüllung dürstet. Freiheit – das ist ein Hunger, eine Sehnsucht nach Macht, und wenn man heute so viel von Freiheit schwatzt, bedeutet das nichts andres, als dass wir uns in einer Art Interregnum befinden.

Vielleicht bestünde ein wichtiger Weltdienst gläubiger Christinnen und Christen darin, sich selber auf ein Abenteuer mit der Herrin Armut einzulassen und so zu bezeugen, dass es gegenüber den zahllosen Mächten der Welt, die um unsere Seelen kämpfen auch eine ganz andere Macht gibt, in der Liebe und Freiheit nicht gegeneinander stehen, sondern eins sind.