Die Frömmigkeit der ruminatio

Fest des Hl. Benedikt – Collegium Borromaeum im Sommersemester 2003: Spr 2, 1-9

I.

Sie wissen, woher ich komme, darum verstehen Sie es auch richtig: Wer in Bayern von "Benediktinern" reden hört, denkt an Bier. Das ist überhaupt nichts Ehrenrühriges. Denn Gastlichkeit und die Kunst, dem Wanderer eine anständige Brotzeit und etwas gegen den Durst auf den Tisch zu stellen, ist auch ein Stück Kultur – und nicht das Schlechteste. Natürlich: Auch anderswo ist bis heute der Orden präsent, den Benedikt, der Vater des abendländischen Mönchtums ins Leben gerufen hat. Aber die südlichen Breiten sind ohne ihn nicht zu denken – nicht nur wegen der wunderbaren Barockkirchen, sondern genauso wegen der kostbaren Bibliotheken und der bis heute geleisteten Bildungsarbeit in den Schulen und Klosterakademien.

II.

Aber das ist natürlich nur die Hälfe des Ganzen, was sich mit Benedikts Namen bis heute verbindet. Auf ihn geht – verdichtet in der Ordensregel – ein zentraler Strom der westkirchlichen Spiritualität zurück. Und zu dieser gehören Züge, die gut geeignet sind, über den monastischen Kontext hinaus dem geistlichen Leben von Laien wie Priestern eine Gestalt zu geben, die man – sie werden's gleich merken – liebenswürdig und weise nennen könnte (und nicht von jeder Form von Spiritualität gilt das bekanntlich).

III.

Es geht näherhin um die ganz eigene Form der benediktinischer Meditation. Nicht erst christlich, sondern bereits jüdisch wissen sich Meditierende an das biblische festgehaltene Wort Gottes verwiesen, wie umgekehrt dessen adäquate Wahrnehmung als Meditation begriffen wird. So sieht das schon der programmatische Psalm 1, 1-2:

Selig der Mann,
der nicht geht im Rat der Gottlosen
und auf dem Weg der Sünder nicht steht
und am Sitz des Spötters nicht sitzt,
vielmehr an der Weisung JHWSs seine Lust hat
und in seiner Weisung murmelt bei Tag und bei Nacht.

Dieses "murmeln" steht hier in Ps 1 natürlich für die Rezitation des Psalmenbuches. Der Sache nach bezeichnet es den jüdischen Umgang mit dem biblischen Wort im ganzen. Verblüffender Weise begegnet gerade in diesem Punkt eine der so schmerzlich seltenen jüdisch-christlichen Kontinuitäten: Nach dem Besuch der Hirten an der Krippe heißt es Lk 2,19 von Maria, dass sie alle diese Worte bewahrte und in ihrem Herzen darüber nachdachte. Und die Episode mit dem zwölfjährigen Jesus im Jerusalemer Tempel endet damit, dass Maria alles Geschehene in ihrem Herzen bewahrte. An all diesen Stellen tauchen die Ausdrücke "symballein" und "synterein" auf – und die meinen, ähnlich wie die Übersetzung "Maria bewegte in ihrem Herzen", eine Art unaufgeregtes Hin- und Her-Erwägen. Schon in der frühen Kirche und dann eben besonders in der benediktinischen Überlieferung bürgerte sich dafür der Name "ruminatio" ein – das entsprechende Verb heißt "ruminare", zu deutsch "wiederkäuen". Um sich spontan diese Form der Betrachtung zu vergegenwärtigen, muss man also vielleicht einfach an Kühe denken, die im Schatten eines Baumes ruhig vor sich hinmahlen.

Mache es dem Tiere gleich, das seine Nahrung noch einmal in den Mund zieht und das Angenehme des Wiederkäuens verkostet, bis es die Nahrung wieder zurückgehen lässt in den Magen und dadurch Wohlbefinden auf sein ganzes Inneres ausströmt,

schrieb schon Makarios der Große. Und Martin Luther gibt den weisen Rat, abends ein Schriftwort mit ins Bett zu nehmen und es wie ein Tier wiederzukäuen. Die "ruminatio" ist eine Frömmigkeit des Gelassenseins, die dem Wort Gottes etwas zutraut – nicht zuletzt auch zutraut, dass es – das Wort – sich seine Hörer selber schafft, wie Karl Barth einmal formulierte. Und zudem handelt es sich um eine Frömmigkeit, deren sich auch sehr – oder scheinbar sehr – Unfromme schon befleißigten. Das Vorwort von Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" endet mit dem Satz:

Freilich tut, um... das Lesen als Kunst zu üben, eins vor allem not, was heutzutage gerade am besten verlernt worden ist..., zu dem man beinahe Kuh und jedenfalls nicht "moderner Mensch" sein muß: das Wiederkäuen...

IV.

Entscheidend dabei ist ein absichtloses Umgehen mit dem und Umspielen des biblischen Wortes. Durch das Wiederkäuen im Mund des Herzens wird aus der lectio ein ständiges Hinhören, ein liebendes Hinhören auf Gottes Selbstmitteilung. Jedes beliebige – exegetisch gesehen vielleicht nebensächliche – Wort der Schrift kann so Anlass werden, das eigene Dasein mit diesem Wort ins Verhältnis zu setzen. Ein Schriftwort kann mein Dasein bestärken, kann es schmerzlich durchkreuzen, hineinverstricken in die Geschichte, der es zugehört. Oder ich träume eine biblische Episode einfach nur nach und weiter. Oder eine Sentenz wird mir zum Gedicht, zum Lied, das ich vor mich hinsumme. Oder ein einziger biblischer Satz begleitet mich wochenlang, weil mir in ihm – getragen von meiner Imagination – das Größere Ganze des Glaubens aufgeht.

Auf solche durch und durch subjektive Weisen geschieht so etwas wie ein "Inwendiglernen" des Wortes Gottes. Eine Lebensgeschichte zwischen Lesenden und Schrift kommt in Gang. Ihre treibende Kraft hat diese Geschichte in der Freude am und in der Liebe zu Wort. Sie sucht – so wie das biblische "jdh" – mit Hirn und Herz den buchstäblichen Kontakt und will nichts anderes, als dass wir ins Wort kommen und drinbleiben und das Wort in uns kommt und drinbleibt. Und sie ist glücklich darüber, dass dem nie ein Ende sein wird, wie Ps 119, 6 weiß:

Ich weiß, dass alles Vollkommene Grenzen hat;
Doch dein Gebot kennt keine Schranken.

V.

Und noch eines gehört zur "ruminatio": Ihr Beruhigendes hat sie nicht nur aus ihrer Gelassenheit, sondern zuvor noch daraus, dass sie dem Schweigen den rechten Raum gibt. Pastoral Tätige sind ja "pausenlos in Betrieb, um andere zur Besinnung zu bringen", schrieb Franz Kamphaus einmal. Und ein Meister der Exegese des 20. Jahrhunderts, Heinrich Schlier, meinte, die Stille vor dem Wort sei der "Mutterschoß des Wortes, der es lange trägt, um es zu gebären... Und wer weiß, vielleicht sollte man in der Kirche doch mehr schweigen als reden, jedenfalls auch schweigen. Und gewiß findet das Wort die gegenwärtige Sprache dort am ehesten, wo es sich aus einer schweigsamen Existenz aufmacht."

Den Geist dieser so einfachen und doch so tiefen Frömmigkeit des Werktags, die nicht mehr braucht als ein wenig Zeit und Innehalten, - den verdanken wir nicht nur, aber in großem Maß dem Heiligen Benedikt und seinen Ordenssöhnen. Wir müssen gar nicht Benediktiner werden, um selber von ihm Beschenkte zu sein.