Pensiero debole
Predigt zur Diplom-Feier im WS 2002/03: Koh 2,12a.13-17 + Mt 11,25-27
I.
Sie haben Ihr Theologiestudium erfolgreich abgeschlossen. Zwölf oder mehr Semester haben Sie Sprachen gelernt, Vorlesungen gehört, Seminare besucht, Arbeiten geschrieben, Referate gehalten. Dem einen oder der anderen wurde das eine oder das andere Fach zum Fegefeuer, dafür das andere andere oder eine zum Ort intellektueller Leidenschaft, für das sie oder er ungleich mehr als nur das Nötige investiert hat und das einen auch jetzt, da die Zeit an der Universität endet, nicht loslässt. Aber jetzt ist es geschafft, Sie freuen sich, und wir, Ihre Familien, die Freunde, Partnerinnen und Partner und gewiss auch Ihre Lehrerinnen und Lehrer gratulieren Ihnen.
II.
Ach übrigens: Ich will Ihnen die Freude des heutigen Tages nicht madig machen, aber – das Diplom, das Sie hernach auf edlem Papier gedruckt überreicht bekommen, ist so furchtbar schwergewichtig nicht. Ein Diplom haben heißt nur, in Ihrem Fach kompetent und fähig geworden zu sein, nicht auf der Stufe der Schlussprüfung stehenzubleiben. Das bedeutet: Das eigentliche Theologin- und Theologewerden steht Ihnen erst bevor.
Insofern haben Sie sehr gut daran getan, sich für den heutigen Tag zwei Schriftstellen auszusuchen, die vom Problem des rechten Weges zu theologischem Wissen handeln. Da ist zum einen Kohelet, der eigenartige Skeptizist und Ironiker, eine literarisch-fiktive Figur, die um den Wert des Wissens genauso weiß wie um seine Vergänglichkeit, auch und gerade in Sachen Theologie – denn von der ist in unseren Versen die Rede, wie das das Auftreten des Toren belegt, denn das ist der biblische Name für den, der von Gott nichts weiß oder wissen will.
Kohelet repräsentiert ein Phänomen, das es außerhalb der Bibel in keiner religiösen Tradition gibt, allenfalls ganz am Rande in der ägyptischen Theologie: Er steht zusammen mit Passagen aus einigen Propheten- und anderen Weisheitsbüchern für eine Erkenntnis- und Religionskritik, die in die heiligen Überlieferungen selbst eingebaut ist. Zum rechten Gotteswissen gehört für ihn, bei aller Verständigungskraft um dessen Grenze und Fragilität zu wissen. Hinter Kohelets so spitz ironisch-rhetorischer Frage vorhin, warum er denn so übermäßig weise geworden sei, wenn er doch unterm Strich das gleiche Schicksal erleide wie der Tor, steht – modern gesprochen – ein Konflikt um Wissenskulturen. Es geht um die Frage: Wer ist die oder der wirklich Weise? Antwort: Wer um die Grenze allen Wissens, namentlich des Gottwissens weiß, aber diese Grenze und das, was innerhalb ihrer liegt, wirklich auch weiß und nicht bloß behauptet oder pi mal Daumen schätzt und dann losschwallt. Wir haben guten Grund anzunehmen, dass Überlieferungen wie das Buch Kohelet nicht zufällig in die Bibel geraten sind, sondern mit Bedacht in sie aufgenommen wurden als prophetisch-kritischer Filter gegen eine schulmäßige Weisheitslehre, die unausweichlich den Hang hat, zum Bescheidwissen zu werden, das man schließlich abfragen, kontrollieren und – gar strafbewehrt – verwalten kann.
III.
Genau dieser weisheitlich-kritischen Perspektive ist auch jene Passage aus dem Mattäus-Evangelium eingeschrieben, die wir vorhin gehört haben. Jesus preist den, den er Vater nennt, dafür, dass er "all das" – gemeint ist das, was es mit ihm auf sich hat – den Weisen und Klugen verborgen, den Unmündigen aber offenbart habe. Es geht dabei nicht einfach darum, dass die Unmündigen, die Kleinen, die eigentlich Weisen seien, weil sie sich nichts einbilden, sondern etwas gesagt sein lassen, was sie sich nicht selbst ausgedacht und zurecht gelegt haben. Das schwingt gewiss auch mit, aber seine Sinnspitze hat der Vers darin, dass die Gepriesenen die sind, die sich darauf einlassen, dass der Sprecher Jesus in einer singulären Beziehung zu seinem "Vater" steht: dass ihm alles vom Vater übergeben ist und dass niemand diesen Vater kennt, nur der Sohn, und der, dem es der Sohn offenbaren will.
Gotteswissen und wahre Weisheit, so sieht es der Evangelist, besteht darin, den Menschen Jesus von Nazaret als menschengestaltiges Gleichnis Gottes zu begreifen, dessen, den keines Menschen Auge zu sehen vermag. Wie Jesus war, was er sagte – in der Bergpredigt etwa –, was er tat – in den Heilungen, Speisungen, Segnungen - , was er auf sich nahm - in der Passion -, so ist Gott. Wie die Selbsterschließung Gottes durch einen konkreten Menschen gedacht werden kann, ist im übrigen Thema des gesamten Mattäus-Evangeliums vom ersten Vers an. Und unsere Stelle verdichtet das in nicht mehr zu überbietender Kürze in dem Gedanken, dass dieser Jesus Gottes Weisheit und damit Weisheit überhaupt in Person ist, einer in dem bis zum Grunde – also ganz – zugänglich und offenkundig wird, was Menschen über Gott und damit über die Wirklichkeit als ganze wissen können.
Kein Wunder, dass dieser Gedanke von Anfang all die elektrisieren musste, die die christliche Botschaft nicht nur weitersagen, sondern über sie auch nachdenken, über sie sogar auf dem Forum der Vernunft Rechenschaft geben wollten in der Begegnung mit konkurrenten Denkangeboten. Ein Justin der Märyter, ein Origenes, eine Augustinus, ein Thomas von Aquin, weiß Gott. Aber längst nicht nur die, die man gemeinhin als christliche Denker klassifiziert, spürten das. Nicht weniger trieb dieser Gedanke die neuzeitlichen und modernen Denker von Cusanus über Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Hölderlin um, ganz zu schweigen, dass man manche – einen Spinoza, Feuerbach, Nietzsche, Emile Cioran – mehr oder weniger direkt als christologische Fremdpropheten lesen muss, als Denker zumindest, deren radikale Standortbestimmungen ohne ein Sichabarbeiten an der Christusgestalt nicht ausgebildet worden wären.
Einen möchte ich noch eigens erwähnen, weil von ihm her – obwohl das kaum seine Absicht ist – die Rede des Evangeliums von den Unmündigen, den Kleinen, eine ganz eigene Tiefenschärfe gewinnt. Seit Jahren arbeitet der italienische Philosoph Gianni Vattimo sein Konzept eines "Pensiero debole", eines "schwachen Denkens" aus. Vattimo ist überzeugt: Seit – wie im Christentum – von Gott gesagt werden muss, dass er selbst sich klein macht für das andere seiner selbst, also für uns Menschen und die Schöpfung, - seitdem ist jeder Gedanke, der mit Macht, Herrschaft, Gewalt zu tun hat, von seiner Wurzel her in Frage gestellt. Wenn sogar das Mächtigste, das gedacht werden kann, von Wesen so ist, dass es seinem Mächtigsein um des anderen willen entsagt, gibt es nichts Mächtiges mehr in der Welt – keine Moral, kein Dogma, keine Herrschaft, keine Autorität - , nichts Mächtiges, das nicht auch an diesem Maßstab des Um-des-anderen-willen gemessen würde. Das Machtvolle an Gottes Gottsein offenbart sich durch Christus als ein buchstäbliches Sein-Lassen von Anderem, als Anerkennung von solchem, das nicht Gott ist – mit einem Wort: als "caritas", so Vattimo wörtlich, als "Liebe", um so in Augustinus' Nähe zu treten, dem gemäß jemanden "Ich liebe dich" sagen ihm oder ihr zusichern heißt: "Ich will, dass Du bist!" Bis in die Wurzeln eines radikalen Denkens der Pluralität – der uneinholbaren Andersheit von anderem -, wie sie heutiges Philosophieren bestimmt, ist da ein christologischer Treibsatz am Werk.
IV.
Aus dieser Perspektive wird auch von selbst klar, dass in der Preisung der Unmündigen, Kleinen kein Lob der Dummheit steckt und schon gar nicht eine Variante jenes antiintellektuellen Ressentiments, das gewisse hochrangige Hierarchen hätscheln, wenn sie das Bischofsamt zum demokratischen Instrument der Kirche deklarieren, das die einfachen Gläubigen vor der Arroganz der Theologen schütze. Die Haltung der evangelischen Unmündigkeit steht vielmehr für jenes Unvoreingenommensein, jene geistige Offenständigkeit, die auch dem noch nicht Gedachten, dem nicht Ausdenkbaren in seiner radikalen Andersheit Raum zu geben vermag. Anders gewendet: Lässt sich Vernunft vom Christusgeheimnis formen, verschließt sie sich gerade nicht in sich, sondern wird sie im Gegenteil bereit für das je Größere Gottes, das selbstverständlich auch die christlichen Kategorien überschreitet und auf die Weisheitspotentiale der anderen Religionen hin durchlässig ist. Aber das vermag eben nur, wer für sich Maß nimmt an der Weisheit, die sich in der Christusgestalt kundtut und gerade in dem für sie charakteristischen Verzicht auf Macht und Durchsetzung eine Dimension letzter Gültigkeit einschließt: die Letztgültigkeit der Liebe. Sie ist das Geheimnis der christlichen Weisheit und aller Theologie, die in ihr wurzelt.
V.
In diese Weisheit hineinzufinden und aus ihr leben zu lernen, das war das Ziel ihrer Zeit an unserer Fakultät. Jetzt ist es an der Zeit, dass Sie diesen Schatz in erster Person ergreifen, dass sie ihn bezeugen, lehren und aus ihm handeln. Dass man sie dabei manchmal in der Instanz anderen Welt- und Lebenswissens für das Gegenteil von klug und weise halten wird, wäre nichts Neues und sollte Sie nach all dem eben Gesagten auch nicht mehr überraschen. Aber auch nicht beunruhigen. Denn Sie wissen, was es darauf zu antworten gilt. Sonst wären Sie jetzt nicht hier. Alles Gute!