Karfreitagsleere

B: Hebr 4,14-16; 5,7-9 + Joh 18,1–19,42 pass

I.

Kein anderes Zeichen hat die religiöse Bilderwelt und das geistliche Fühlen von Menschen seit je tiefer geprägt als das Kreuz. Angefangen von der Spottkarikatur mit einem gekreuzigten Esel auf dem Forum Romanum über die Mosaik-Kreuze in den frühchristlichen Basiliken, die Gemmen-Kreuze der Romanik, die Schmerzensmänner der Gotik – und es reißt nicht ab. Heute malt Herbert Falken, inspiriert von mittelalterlichen Vorbildern, den Gekreuzigten mit dem gewölbten Bauch einer Schwangeren – Inbild neuen Lebens, das aus dem Sterben hervorgeht. Und Oliviero Toscani, der legendäre Ex-Photograph von United Colors of Bennetton, der jahrlang die Werbetafeln jenes Konzerns zu hauswandgroßen Ikonen des Christlichen verwandelte, ist überzeugt, dass die christlichen Kirchen mit dem Kreuz über das genialste Logo verfügen, das je gegeben hat. Nur wüssten sie selber damit nichts mehr Rechtes anzufangen. Da mag was daran sein.

II.

Denn wir Theologen reden in den Predigten und sonstwo immer so schnell von der Liebe, vom Versöhntsein und so. Vielleicht geht es darum aber gar nicht zuerst. Toscani, schnörkellos und schnoddrig, wie er eben ist, sagt es so: [A]ls Jesus und seine Agentur 'Die Apostel' die größte Kommunikationskampagne aller Zeiten entwickelten, geschah das eben nicht mit einer respektvollen und glücksverheißenden Bilderwelt. Ganz im Gegenteil! In diesem Clip findet sich einfach alles wieder, was die Werbung verachtet: Ein nackter Mann, der an ein Kreuz genagelt ist [...], Umarmung von Aussätzigen, überall Menschen im Elend, abstoßende Kranke, eine Geburt in einem Viehstall inmitten von Tierscheiße, Stunden beispielloser Qualen, Blut, das unter Hammerschlägen hervorspritzt, der Schmerz einer Mutter an der Seite ihres sterbenden Sohnes. [...]

Die Jesus-Geschichte beschönigte weder die Leiden noch die Gewalt in der Welt. Sie machte keine Konzessionen an das Sicherheitsbedürfnis ihres Publikums. Sie lancierte die erste große organisierte Kampagne der Geschichte, und dabei wurde eben nicht auf sofortigen Gewinn abgezielt, und es wurden auch nicht die Qualitäten des Produktes direkt angepriesen: das Reich Gottes [...]. Sie erzählt uns von der Erlösung und der ewigen Glückseligkeit und verheißt uns dies durch einen gekreuzigten Mann im blutigen Lendentuch, nicht durch Claudia Schiffer im Chanel-Höschen. Und diese Kampagne ist seit zwei Jahrtausenden Teil der kollektiven Vorstellungswelt."

III.

Schon oft hat man sich in der Theologie und unter Historikern gefragt, warum sich denn damals der christliche Glaube, dieses Phänomen aus einer randständigen Provinz des Römischen Reiches, so atemberaubend schnell verbreitet und durchgesetzt habe – wo es doch als Religion mit der geheimnisvoll-attraktiven Gnosis und mit dem intellektuell ungleich anspruchsvolleren Neuplatonismus konkurrieren musste. Vielleicht lässt sich eine Antwort auf diese Frage ganz einfach auf zwei Grundworte zurückführen: das Fleisch und die Absichtslosigkeit. Für das Christentum ist buchstäblich in der Mitte des Gottesverhältnisses Platz für das, was jedem Menschen am nächsten ist – die eigene Haut – auch dann noch, wenn sie kein Hit mehr ist: Da darf das Angeschlagene, das Gefährdete, das Verfallende vorkommen, das, was man nicht mehr anschauen mag, weil es nicht schön ist. Der christliche Gott ist nicht nur herrlich – das auch, gewiss. Aber er ist mehr: Vor ihm, besser in ihm hat auch das Ungestalte Platz, nicht bloß, weil es auch zum Leben gehört, sondern weil er es ins Medium seiner Selbstmitteilung hinein nimmt: Darin, dass er der geschlagene Gottesknecht ist, vollendet sich Jesu Gleichnishaftigkeit für Gott. Christentum war von Anfang an ein ästhetischer Verstoß. Das Evangelium hat sich immer kraft der "deformitas Christi" als "Sermo humilis" verstanden, als demütige Rede vom Kleinen, weil Gott sich selbst klein gemacht hat in seinem Jesus. Nur so konnte es fähig werden, einer Wahrnehmung des einzelnen, unableitbaren, faktischen Zerstörens und Leidens Ausdruck zu geben. Schon länger grassiert, nicht zuletzt getragen von den technischen Möglichkeiten der Neuen Medien, eine alle Bereiche übergreifende Ästhetisierung der Lebenswelt, ein Verhübschungstrieb, dem daran gelegen ist, die Widersprüche, die nicht aufgehenden Gleichungen des Lebens, das Älterwerden und Verfallen durch Blendwerk zu kaschieren. Dieser Drang zum schönen Schein, selbst um den Preis der Verlogenheit, macht den antiästhetischen Impuls der christlichen Gottrede zum Kronzeugen auch des Dunklen, des Uneingelösten, des noch Ausständigen und damit des Ganzen der Wirklichkeit. In der christlichen Predigt gehören das Aufstrahlen des Schönen und das Ungestalte, Schockierende untrennbar zusammen.

Und dann das Zweite, die Absichtslosigkeit, der Verzicht auf ein Anpreisen der Botschaft, wie Toscani es nennt: Was das wirklich heißt – Absichtslosigkeit -, wurde mir erst vor einiger Zeit klar, als ich auf das irritierendste Osterbild stieß, das mir bislang untergekommen ist. Jean-Louis Gerome hat es geschaffen. 1868 wurde es fertig. "Consummatum est. Jerusalem" heißt es. Es ist ein Golgotha-Bild. Aber was für eines! Der Betrachter des Bildes schaut vom Kreuzigungsort auf ein gewitterüberwölktes Jerusalem. Und er steht mit dem Rücken zum Gekreuzigten. Der muss sich ungefähr rechts hinter ihm befinden. Der Golgotha-Felsen zu seinen Füßen ist in grelles Licht getaucht, das typische Gelb der Sonne unmittelbar vor einem Gewitter. Und in dieses Gelb fallen nur noch die Schatten des Gekreuzigten und der zwei Schächer. Sie alle selber sieht man nicht. Und der Betrachter steht gewissermaßen daneben im buchstäblichen Sinn.

IV.

Die Szene ist leer. Da wird nichts gezeigt, geschweige denn demonstriert. Das ist die christliche Situation in Reinkultur. Wir haben nichts zum Festhalten. Unser Gott hat sich selber durchgestrichen, sozusagen. Um unseretwillen, dass wir merken, wie nah er uns kommt, buchstäblich auf den Leib rückt, hat er nicht mehr Gott sein, sondern als Mensch sterben, in letzte Verlassenheit gehen wollen. Bis zur puren Schattenexistenz. "Spekulativer Karfreitag" sagt Hegel dafür. Darum ist das echteste Osterbild eben eines, das nicht einmal mehr den Gekreuzigten live, sondern nur noch einen Schattenwurf zeigt. Leere pur. Menschenleere. Gottesleere. Das ist die Wahrheit. Und doch liegt über der Szene eine Hauch von Versöhnung, der sich nicht nochmals für sich auf den Begriff bringen lässt, den man im verweilenden Schauen gewahrt: dieses Licht von anderswoher, ohne das es die Schatten nicht gäbe. Wenige Jahrzehnte nach Gerome hat van Gogh diese Wahrheit erneut gemalt, indem er ein GetsemaniBild schuf ohne jede menschliche Figur, auf dem sich einzig Olivenbäume gegen blutrote Erdschollen stemmen, und über den Baumkronen ein Himmel wie eine Frühlingswiese. Als ob auch tiefste Einsamkeit doch noch einen leisen Vorschein von Geborgenheit in sich trüge.

V.

Für unsere Zeit hat diese Erfahrung die zeitlebens von Schmerzen und Seelennot gequälte Kärtner Bauersmagd Christine Lavant ins Wort gebracht, als sie schrieb:

Die Angst ist in mir aufgestanden.
Wie eine Frau, der etwas Furchtbares einfiel
Und die dann – wenn sie zwei Stuben hat –
Von deren einen in die andere geht,
so geht die Angst jetzt in mir hin und her.
Oft rede ich sie an,
singe und bete für sie,
oder lese ihr stundenlang vor
aus sehr klugen, sehr heiligen Büchern.
Aber sie macht sich aus allem nichts.
Nur noch schwerer wird sie davon,
bis jede Stelle, darauf zu tritt,
anfängt zu zittern
Und so zittert schon alles in mir,
Knie, Hände und Lippen,
und am meisten wohl die Lider meiner Augen.
Doch sie findet nicht Ruhe dabei
Und durch die Tür meines Verstandes
Bricht sie ein in die arme Seele.
Auch dort ist alles schon schwankend.
Bilder des Himmels und der Hölle
Fallen übereinander her und über die Ängstin.
O diese Arme!
Niemehr wird sie zum Schlafen kommen,
niemehr wird sie mich schlafen lassen,
denn jemand hat ihr ein Wort gesagt,
das wie ein Schwert
am Faden einer einzigen Hoffnung
über uns hängt.

Da ist der Dichterin die eigene Angst zur Vertrauten, zur Freundin geworden - zu einer, die sie nicht nur aushält, sondern mit der sie mitfühlt und mitgeht. Hauch der Versöhnung. Und das Wort, das über beiden hängt wie ein Schwert am Faden einer einzigen Hoffnung – unser Glaube kennt es. Meist schweigen wir es nur. Heute im Angesicht des Gekreuzigten sagen und singen wir es: Hagios Theos, hagios ischyros, hagios athanatos, eleeison hymas Heiliger Gott, heiliger starker Gott, heiliger unsterblicher Gott, erbarme dich unser.