Essen und Schauen

Fronleichnam A: systematisch

Christliche Glaubensgeschichten und die Formen, in denen sie sich Ausdruck verschaffen, sind heute vielen fremd geworden. Ein Bekannter erzählte mir, wie er neulich vorne am Domplatz im Marktcafe saß, am Nachbartisch zwei Touristen. Die beiden schauten sich rings um, entdeckten das Madonnenrelief am Firstgiebel des Collegium Borromaeum und rätselten laut vor sich hin, was denn da oben die Frau mit dem Kind bedeuten könnte. Manchmal kann es auch skurril werden - wie bei einer Passantenumfrage während der letzten Karwoche in Berlin. Ein junger Mann wurde gefragt, ob er denn wisse, was in wenigen Tagen an Ostern gefeiert würde. "Klar doch", antwortete er: "Als ihm alles zu dumm wurde, stand Pontius Pilatus nach drei Tagen auf und tackerte 20 Jünger an einen Holzbalken. Stimmt doch, oder?"

II.

Ich möchte die Antworten nicht hören, wenn nach dem heutigen Fest gefragt würde. Nicht wenige Christen selber tun sich schwer mit ihm oder haben es ohne viel Aufhebens aus ihrem eigenen Feierkalender gestrichen. Und ragt es nicht wirklich wie ein vergessenes Relikt einer längst vergangenen Epoche in unsere Zeit? Seine Herkunft scheint diesen Verdacht zur Gewissheit zu machen. Hat es seine Wurzeln doch in der geistlichen Welt frommer Frauen des 13. Jahrhunderts, für die sich in besonderer Weise mit dem Sakrament der Eucharistie mystische Erfahrungen verbanden. Im Mittelpunkt ihres Denkens und Fühlens stand das Wunder, dass der Christus, mit dem sie das Sakrament durch Brot und Wein vereinte, der Christus der Krippe und des Kalvarienberges ist.

Aber nicht nur fromme Frauen beschäftigte das Sakrament des Altars. Was da geschieht, wenn Brot und Wein gemäß Jesu Auftrag in der heiligen Feier zu Leib und Blut des Herrn werden, hat zahllose Theologen und Theologinnen vom Glauben zum Zweifel und nicht immer zurück geführt, hat epochale theologische Debatten ausgelöst, sich in eucharistischen Wundergeschichten niedergeschlagen, die von blutenden Hostien erzählen, um die Wirklichkeit des Herrenleibes drastisch ins Bild zu setzen - und im übrigen auch in der Philosophie, namentlich im Bereich der Logik, Entwicklungsschübe ausgelöst, zu denen es ohne diesen theologischen Anstoß im buchstäblichen Sinn nie gekommen wäre. Von Anfang an hatte die Eucharistie etwas in diesem Sinn Skandalöses, also Anstößiges an sich. Schon das Johannesevangelium gibt davon in seiner großen Brotrede Zeugnis, die Jesu Wort vom Essen seines Fleisches und Trinken seines Blutes absichtlich ein Mißverständnis erzeugen lässt, aus dem - gleichsam durch ein Aha-Erlebnis - um so tieferes Verstehen wachsen kann.

Mystik, Zweifel, Nachdenklichkeit, das waren die Fäden, die sich Mitte des 13. Jahrhunderts zu einem Bild verwebten, auf dessen Hintergrund Papst Urban IV. - damals in Orvieto residierend - ein neues "Fest des Heiligsten Leibes Christi" in den Kalender der Gesamtkirche schrieb. Vielleicht muss man sich das denken wie bei einem Paar, das sich nicht in einer Liebe auf den ersten Blick findet, sondern sich immer wieder, vielleicht jahrlang begegnet, dies und jenes Wort wechselt, den einen und den anderen liebenswürdigen Zug aneinander entdeckt und dem dann eines Tages - ohne das irgendwie gemacht zu haben - in unzweideutiger Klarheit vor Augen steht, dass es zusammengehört.

III.

Zu diesem Vergleich passt, dass in den Anfang des Fronleichnamsfestes auch einer hineingehört, den man dort, wo es um fromme Frauen und Geschichten von Zweiflern und wunderbaren Hostien geht, eigentlich gar nicht erwarten würde: Thomas von Aquin, der größte Theologe des Mittelalters. Thomas war gerade zu der Zeit, da das Fest offiziell eingesetzt wurde, Lehrer am päpstlichen Hof, und er schrieb die Gebete und Hymnen für das Fest, Lieder, die wir heute noch singen: das "Pange lingua", "Verbum supernum", "Lauda Sion" und auch das "Adoro te devote" - Gottheit tief verborgen. Wer Thomas und sein Werk kennt, weiß, dass er das nicht einfach so tat, er, der nüchterne und scharf denkende Theologe und Kritiker allen Schwärmertums, der zu just eben jener Zeit zugleich sein spekulativstes Werk, die "Summe gegen die Heiden", niederschrieb und von dem sonst keinerlei Dichtung, nur ein paar Gebete überliefert sind. Wenn er sich dieser Aufgabe stellte, die poetische Partitur für das Fronleichnamsfest zu schreiben, dann deshalb, weil ihm da etwas begegnete, das ihn theologisch in Bann schlug.

Genau dem entspricht auch die Weise, wie er da schreibt: Thomas spricht in diesen Hymnen - nein, nicht mit Bildern, wie Dichter das sonst zu tun pflegen - sondern er spielt sozusagen mit Begriffen. Seine Lieder sind so etwas wie gesungene Dogmatik. Hören Sie nur einmal die vierte Strophe des "Pange lingua":

Verbum caro panem verum
verbo carnem efficit...
Das Wort, das Fleisch geworden,
macht wahres Brot durch Wort zu Fleisch...
... et, si sensus deficit,
ad firmandum cor sincerum,
sola fides sufficit.
... und wenn der Augenschein fehlgeht,
reicht der Glaube allein,
um das reine Herz zu stärken.

Schon in diesen wenigen Worten hat Thomas das ganze Instrumentar untergebracht, das ihm reicht, um das Geheimnis der Eucharistie zu erfassen: "Verbum caro" - der Gedanke der Menschwerdung, "verbum efficiens", wirksames Wort, das nicht nur etwas sagt, sondern schafft, was es benennt, und "sola fides", ganz lutherisch klingend und auch so gemeint - der Glaube allein ist es, der da Zugang findet.

Auf nochmals andere Weise und vielleicht noch dichter spricht Thomas in der zweiten und dritten Strophe des "Adoro te devote":

Augen, Mund und Hände täuschen sich in dir,
doch des Wortes Botschaft offenbart dich mir.
Was Gott Sohn gesprochen,
nehm ich glaubend an;
er ist selbst die Wahrheit, die nicht trügen kann.
Einst am Kreuz verhüllte sich der Gottheit Glanz,
hier ist auch verborgen deine Menschheit ganz.
Beide sieht mein Glaube in dem Brote hier,
wie der Schächer ruf ich, Herr, um Gnad zu Dir.

Mögen die Sinne mich auch trügen und Brot auf dem Altar Brot bleiben und Wein Wein, so darf der Glaubende doch glauben, dass das Wort, das die Wahrheit ist, wahr redet, wenn es sagt: "Nehmet und esset, das ist mein Leib, das ist mein Blut... tut dies zu meinem Gedächtnis." Ihm traut der Glaube. Ihm bleibt das letzte Wort:

Credo, quidquid dixit Dei Filius,
nil hoc verbo veritatis verius.

Diesem Glauben ist dabei auch nichts abverlangt, das über das hinausginge, was er ohnehin schon wagt, wenn er denn das Christusbekenntnis spricht: Wie sich Gott enthüllt, indem er sich klein macht und sich ins Menschsein einhüllt und dabei seine Herrlichkeit verbirgt, so macht sich der menschgewordene Gott nochmals kleiner, verhüllt sich nochmals tiefer, um - nicht etwas, sondern sich selbst mitzuteilen in einem Sinn, wie er buchstäblicher nicht mehr gedacht werden kann: dass er mit eigenem Fleisch und Blut Teil seiner geliebten Geschöpfe aus Fleisch und Blut werde: er in ihnen und sie in ihm und er alles in allem.

IV.

Damit ist zugleich das Ziel dieser inkarnatorischen Radikalisierung ausgesprochen, die in der Eucharistie geschieht: das Eschaton, die ewige Herrlichkeit. Thomas' Gedichte bestimmt dieses Motiv von allem Anfang an. Schon im "Pange lingua" geht es um das "gloriosi corporis mysterium" - das Geheimnis des herrlichen Leibes. Und der Schächer, mit dem Thomas und wir im "Adoro te devote" um Gnad' rufen, hat nach dem Lukasevangelium um Aufnahme ins Paradies gebeten. Darum kann der Aquinate an anderer Stelle sagen, das eucharistische Mahl sei gewiss geistliche Nahrung, aber auch Unterpfand und Ankündigungszeichen der künftigen Herrlichkeit. Die auf rechte Weise das eine Brot brechen und aus dem einen Kelch trinken, werden dabei Vorausbild dessen, in dessen Namen sie das tun - aber Bild, das für sich gar nichts mehr sein will, sondern nur noch reines Aufscheinen dessen, den es versinnbildet. Das Mahl mit seinen Zeichen ist ein Durchgangsstadium, ist wie ein Vorhang gewoben aus Licht, der sich heben wird zur visio beatifica, zu beseligenden Schau der wahren Gestalt Christi:

Jesu, quem velatum nunc aspicio, oro fiat illud, quod tam sitio: Ut te revelata cernens facie, Visu sim beatus tuae gloriae -
schließt das "Adoro te devote": Jesus, den verborgen jetzt mein Auge sieht, ich bitte, dass geschehe, wonach ich so dürste: dass ich dein enthülltes Angesicht schaue und selig bin im Anblick deiner Herrlichkeit.

Das eucharistische Mahlhalten bereitet für das Schauen in der Ewigkeit und zieht in es hinein. Eucharistie ist deshalb viaticum, Wegzehrung, Wegzehrung nicht nur für die letzten Schritte, sondern Proviant - zu deutsch: etwas für unterwegs - überhaupt hin zu unserer Bestimmung und unserem Ziel. Dieser Zusammenhang zwischen Mahlhalten und Gottesschau mag im ersten Moment fremd anmuten und bewahrt doch etwas, das der Menschenseele zutiefst eingeschrieben ist. Die aller frömmelnden Umtriebe nun wirklich unverdächtige Jüdin Simone Weil schrieb in ihrer Sentenzensammlung "Schwerkraft und Gnade": "Es ist der große Schmerz des Menschen, der mit der Kindheit beginnt und bis zum Tode währt, daß Schauen und Essen zwei verschiedene Tätigkeiten sind. Die ewige Seligkeit ist ein Zustand, in dem Schauen Essen ist." Mittelalterliche Theologen wie der Aquinate wussten das auch. Und sie wussten, warum es so ist: Die visio, das Schauen - sagen sie - vollendet das Essen, weil sich der Mensch hier an etwas sättigt, das im Genießen nicht vergeht und nicht zerstört, sondern bejaht wird. Da erst sind alle Opfer wirklich zu Ende. Und darum liegt über jeder Feier der Eucharistie der Hauch einer Versöhntheit, die über alles Versöhntsein von Menschen, das natürlich auch darunter fällt, weit hinausreicht.

V.

Wenn Christinnen und Christen ein Fest wie das heutige feiern oder andere Formen tiefer eucharistischer Frömmigkeit pflegen, halten sie die Ahnung von jenem Größeren wach, das uns und unserer Welt zutiefst eingeschrieben ist. Würden wir es vergessen, wir dächten zu klein von uns und zu klein von Gott. Historischer Purismus, der in der Eucharistie nur das Mahl entdeckt und schnell zu theologischer Sozialromantik verflacht, steht in dieser Gefahr. Wenn wir wenigstens manchmal - so wie heute - über das Essen der heiligen Gabe hinausblicken in einem Moment innehaltenden Schauens und Verehrens, geben wir Zeugnis, dass es uns ernst ist mit der Hoffnung, einmal in unvergänglichem Licht zu leben.