Im Entzug erscheinen

Ostermontag B: Lk 24,13-35

I.

Wer Theologie studiert, dem begegnet irgendwann auch Rudolph Otto. Er war Ende des 19. und bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts einer der ganz Großen seines Faches, der Religionswissenschaft. Das hatte nicht zuletzt damit zu tun, dass er das, was sich in religiösem Tun der Menschen ausdrückt, nicht einfach verallgemeinernd verglich, sondern mit tiefem Ernst sich hinter dem Sichtbaren religiöser Praktiken eines Unsichtbaren gewiss war.

Otto machte auch kein Hehl daraus, dass er für seine Arbeit nicht nur von stupender Quellenkenntnis zehrte, sondern genauso aus eigenen Erfahrungen mystischen Erlebens. Beim Besuch einer unscheinbaren Synagoge in Marokko ist ihm so einmal das Geheimnis des Heiligen widerfahren. Er selbst hielt das Geschehen in folgenden Worten fest:

"Plötzlich löste sich die Stimmenverwirrung und – ein feierlicher Schreck fährt durch die Glieder – einheitlich, klar und unmissverständlich hebt es an: Qadosch Qadosch Qadosch Elohim Adonai Zebatoth Male'u haschamajim wa-ha'arez kebodo (Heilig Heilig Heilig ist Gott, der Herr der Heerscharen! Himmel und Erde sind seiner Herrlichkeit voll). Ich habe das Sanctus Sanctus Sanctus von den Kardinälen in St. Peter und das Swiat Swiat Swiat in der Kathedrale des Kreml und das Hagios Hagios Hagios vom Patriarchen in Jerusalem gehört. In welcher Sprache immer sie erklingen, diese erhabendsten Worte, die je von Menschenlippen gekommen sind, immer greifen sie in die tiefsten Gründe der Seele, aufregend und rührend mit mächtigem Schauer das Geheimnis des Unendlichen, das dort unten schläft."

II.

Das Heilige überkommt den Menschen als Fascinosum und Tremendum, war Otto überzeugt, voll bezwingender Evidenz – und doch zugleich nur andeutbar, im menschlichen Reden benennbar – und doch bleibend in Schweigen gehüllt. Da wird die eine Kennzeichnung sozusagen durch die andere gleich wieder durchgestrichen. Der Mensch ist dem Heiligen nicht gewachsen, darum muss er ihm so doppelspurig begegnen. In der Weise des Sich-Entziehens ist es gegenwärtig; in der Weise der Namenlosigkeit ist es das Angerufene, in der Weise der Unerfüllbarkeit das Fordernde.

III.

Mich wundert schon lange, wie selten christliche Theologen und Predigende darauf hinweisen, dass sich die besten Beispiele für Ottos Gedanken vom Heiligen nirgend anders als in Ostergeschichten finden – und umgekehrt wie diese manchmal so sperrigen Geschichten von Ottos Einsicht her geradezu so etwas wie eine natürlich-poetische Strahlkraft entfalten

Nehmen wir etwa die Geschichte von Jesus und Maria aus Magdala mit der später von Bernini so berühmt ins Bild gebrachten Szene des "Noli me tangere", des "Halt mich nicht fest", weil sich eben für uns Menschenkinder der Heilige nur im Sich Entziehen zeigen, uns nur seine Fußspuren gleichsam sehen lassen kann, weil unsere Augen seines reines Feuer nicht übertrügen.

Oder – anderes Beispiel – die erste Begegnung des Auferstandenen mit den verängstigten Jüngern einschließlich der Thomas-Episode, dann später die Erscheinung am See (Joh 21,1-14) und eng verbunden mit den Ostergeschichten die Szene auf dem Berg der Verklärung (Mk 9,2-10 parr.), bei der es sich ja um eine vorweggenommene Ostergeschichte handelt, sowie die dreifache Erzählung von der Bekehrung des Saul in der Apostelgeschichte 9,1-22; 22,5-16 und 26,12-18.

Und natürlich nicht zuletzt, sondern zuerst das heutige Emmausevangelium. Die beiden Jünger, die sich voll Trauer und Enttäuschung auf den Heimweg machen, weg von Jerusalem. Und dann der Fremde, der sie in die Schrift, also in Gottes Geschichte mit seinem Volk hineinverstrickt – und dann im Augenblick, da er das unverwechselbarste Kennzeichen seines gelebten Lebens vollzieht, für die Augen ihres Leibes nicht mehr zu sehen ist, dafür aber mit unumstößlicher Eindrücklichkeit den Augen ihres Herzens sich zu erkennen gibt.

Nimmt man das alles zusammen, dann wird einem klar: Das Verschwinden im Erkanntwerden, das Sich Entziehen im Augenblick, da eine oder einer nach dem Auferstandenen zu greifen sucht, begegnet gar nicht als Rätsel und Problem, sondern als notwendig und normal: Weil das Heilige gar nicht anders erscheinen kann als im Entzug. Was oberflächlich als Widerspruch zwischen den verschiedenen Ostergeschichten erscheint, kommt aus der Logik der Vorläufigkeit, der jede Erscheinung des Heiligen untersteht. Denn jede muss sich für sozusagen selber überholen, weil das Erscheinende unendlich weit über das hinausgeht, was wir in einem solchen menschlichen Augenblick geistlichen Schauens zu fassen vermögen. Darum kann der Auferstandene in Joh 20 trotz verschlossener Tür zu den Jüngern kommen, in Lk 24 dafür ganz anders sich als mit Fleisch und Knochen ausgestattet bezeichnen und die Jünger zur Demonstration seiner Realität um etwas zu essen bitten. Es geht also beim Erschließen der Ostergeschichten gar nicht darum, die Differenzen, Spannungen und Brüche dieser Erzählungen zu glätten oder zu eliminieren. Stattdessen gehören gerade sie – diese Spannungen und Brüche – zur Botschaft selbst.

IV.

Diese innere Dynamik der Ostergeschichten, dieses ihnen so tief eingeschriebene Über-sich-hinaus-Drängen, weil jede Weise der Mitteilung, die uns erreicht, viel zu klein ist für das – nein: für den, der sich da mitteilt -, diese Dynamik, die ist ja darauf angelegt, uns zu treffen und verwandeln. Sie will nichts Geringeres, als unser Denken, unser Fühlen und Sprechen aufzusprengen auf das je Größere hin, von dem erzählt wird. Hans Blumenberg, einst viele Jahre hier in Münster Philosoph, hat das einmal so treffend auf den Punkt gebracht, als er sinngemäß schrieb: Diese Dynamik der Sprache, in unserem Fall also der Ostergeschichten, zieht die Anschauung in einen Prozess hinein, in dem sie zunächst zu folgen vermag, um aber an einem bestimmten Punkt aufgeben – und das wird verstanden als 'sich aufgeben' zu müssen...

Wer sich auf die Sprengbilder der Ostergeschichten und ihres drängendes "Mehr" des "Deus semper maior" einlässt, sich mitnehmen lässt, dem wird sozusagen am eigenen Leib und an der eigenen Seele das Übersteigen des Irdischen erlebbar. Im Hinhören auf die Geschichten und im Wahrnehmen des ihnen eigenen Bannes vergegenwärtigt sich für uns als Wirklichkeit jene heimliche Mitte, um die sie alle kreisen.

Wenn so Wort zu Wirklichkeit wird – wie es übrigens auch in jeder Liebeserklärung geschieht –, dann haben gerade die Ostergeschichten von Wesen etwas Sakramentales an sich, ein Wirklichwerden dessen, wovon sie erzählen. Kein Wunder, dass die meisten Geschichten von der Begegnung mit dem Auferstandenen immer mit einem Mahlhalten, mit Brotbrechen zu tun haben: Es ist das Ostermahl der neuen Schöpfung, die schon angefangen hat, aber eben, weil sie wirklich Gottes Werk, das Werk des dreimal Heiligen ist, sich nur im Entzug ahnbar macht.

V.

Ein wunderbares Zeugnis solcher österlicher Eucharistieerfahrung stand vor einiger Zeit in dem Wochenblatt "Christ in der Gegenwart" zu lesen. Die Redaktion hatte mit Blick auf den ökumenischen Kirchentag im Juni die Leserschaft eingeladen, in ein paar Zeilen niederzuschreiben, was ihnen denn die Eucharistie bedeute. Nicht nur, dass dieser Aufruf überwältigende Resonanz fand mit Briefen von Neun- bis Neunzigjährigen. Zu den ersten Einsendungen gehörte auch ein Brief eines der großen Schriftsteller unserer Tage: Peter Handke. Unerachtet harscher Kirchenkritik am Ende beschreibt er das Österlich-Epiphanische der Eucharistie so poetisch treffend, wie es wohl nur seinesgleichen gegeben ist:

Als ich, lange nach meiner 1. Kommunion, endlich von mir selber geschubst (oder von etwas, das mehr war als ich selber), kommunizieren ging, nach einer etwa dreißigjährigen Epoche ohne Hostie, war das eher eine Art Morgenmahl für mich – etwas wie ein Gewecktwerden, für einen anderen Tag, für eine andere Zeit. Zugleich gab es dabei die alte Scheu vor der Eucharistie – als ob ich diese nicht verdiente – ... es war eine Art erhabener [...] oder erheiterter, spielerischer Scheu. Und zu dem erhabenheiteren Spiel gehörte eben auch, dass ich mit anderen zu jenem "Mahl der anderen Zeit" ging, dass ich in Gemeinschaft war; dass so Gemeinschaft erst, wie flüchtig auch immer, geschaffen wurde, so flüchtig wie beständig; eine der wenigen Gemeinschaften, die mir möglich wurden. Aber immerhin. Meine Dankbarkeit bleibt, und täglich vermisse ich das "mich zu DIR hinmahlzeiten [...]

Das ist der Punkt: Jede unserer Eucharistieen ist ein Hinmahlzeiten zum lebendigen Gott und darin ein kleines, aber wirkliches Ostern. Das sagt uns Lukas mit der Emmausgeschichte. Und was damals die beiden Jünger erstmals erlebten, steht uns Sonntag für Sonntag offen.