Eros und der liebe Gott.
Hinweise für theologisches Jungvolk
Predigt anlässlich der Diplom-Feier im Sommersemester 2003 (Weish 6,12-19)
I.
Heute ist es so weit. Sie, die Diplomandinnen und Diplomanden begehen eine Passage, wie die Kulturwissenschaften sagen: ein wichtiger Lebensabschnitt endet offiziell, ein neuer beginnt. Das geschieht nicht so oft in einem Leben: Geburt und Taufe, der Eintritt ins Erwachsenenleben gehören dazu, das Heiraten und Elternwerden, auch die Priester - oder – wer weiß – die Bischofsweihe, und dann der Gang aufs Altenteil und natürlich das Sterben. Passagen sind immer aufregend und ein wenig kritisch. Darum geben wir ihnen eine feste Form. Genau das tun wir gerade: Wir feiern den Abschluss Ihres Studiums und den Eintritt in ihr berufliches Leben und stellen beides in den Raum der Eucharistie, der Danksagung, und unter das biblische Wort Gottes, dass es uns deute und aufschließe, worum es bei all dem geht.
II.
Sie, die gleich hernach zu Diplomierenden, haben ja schon einiges hinter sich: 10, 12 oder mehr Semester an Vorlesungen, Seminaren, Referaten, Prüfungen und was da sonst zum Studierendenleben gehört inklusive Party, Schwarm und Theofete. Und eigentlich kann Ihnen dabei nicht entgangen sein, dass sich durch alles, was Sie studiert, geleistet und wahrscheinlich manchmal auch erlitten haben, ein seltsamer roter Faden zieht. Um es symbolisch an zwei Fächern festzumachen: Der Faden zieht sich von Müllers Philo-Sophie am Anfang bis zu Thomas Pröppers unbedingt für den Menschen entschiedenen Liebe Gottes am Ende: Philo-Sophie: Liebende Suche der Weisheit und Gottes Liebe zu seinen Geschöpfen: die Liebe mithin als das das A und O ihres Theologiestudiums.
III.
Nicht schlecht, sich gerade ein solches Thema für die besten Jahre des Lebens zur Mitte des Denkens und Arbeitens zu wählen – wenn man nicht zu blutleer von der Liebe denkt. Christkatholische Seelen denken ja bei diesem Wort sehr schnell an caritas und Agape, an Hingabe und Opfer, und einfach falsch ist das ja auch nicht. Aber es ist nicht das Ganze: Auch der Eros gehört zur christlichen Liebe. Das spürt man besonders auf den Seiten der Bibel, auf denen von der Weisheit die Rede ist, jener eigenartig präexistenten, also schon vor dem Schöpfungswerk existierenden, Gestalt, die von sich selbst im Buch der Sprüche sagt:
... als er die Fundamente der Erde abmaß, da war ich als geliebtes Kind bei ihm. Ich war seine Freude Tag für Tag und spielte vor ihm allezeit. Ich spielte auf dem Erdenrund, und meine Freude war es, bei den Menschen zu sein. (Spr 8,30-31).
Michelangelo hat das im Deckengemälde der Sixtinischen Kapelle köstlich ins Bild gesetzt: Er lässt den majestätischen Schöpfergott, der gerade durch einen Fingerzeig den Adam schafft, den anderen Arm um eine bezaubernde junge Dame legen, die aus ihren großen blauen, staunenden Augen mit unverhohlenem Interesse und ersichtlicher Sympathie auf das soeben entstandene Mannsbild schaut: Frau Weisheit, die sich darauf freut, dass dieses Geschöpf, der homo sapiens, sich auf die Suche nach ihr machen, ihr nachspüren, nachsteigen wird, und die nichts lieber tut, als sich von ihm finden zu lassen – so sieht das jedenfalls die erste Lesung, die wir vorhin gehört haben. Und wenn das nichts Erotisches ist im buchstäblichen Sinn des Wortes, nichts Anziehendes, Begeisterndes, Fesselndes ist, dann weiß ich nicht, was Eros eigentlich bedeuten soll.
IV.
Und eigentlich müssten Sie das während Ihres Studiums zu immer wieder einmal – natürlich nicht jeden Tag und in jeder Lehrveranstaltung, nein – aber doch zumindest manchmal erlebt haben: Dass Ihnen ein Gedanke, eine Idee begegnete, die Sie faszinierte, die sie einfach schön fanden, etwas, das Sie begeisterte so ähnlich wie die erste Flamme nicht mehr los ließ. Wo Sie selber weiter suchten, lasen, forschten, fragten und worüber Sie dann im Idealfall vielleicht Ihre Diplomarbeit schrieben. Und welches Thema könnte für ein solches Suchen und Forschen aufregender sein als die Fragen nach Grund, Gang und Ziel unseres Lebens! Nicht einmal die lärmende Spaß- und Konsumgesellschaft, in der wir heute stecken, kann das verdecken – im Gegenteil prägt sie selbst eine Überfülle von quasireligiösen Gesten und Symbolen, die nichts anderes versuchen, als eben jene Grundfragen des Lebens mit dem Vokabular von Haben, Herrschen und Gelten zu beantworten. Aber die Art, wie das geschieht, in einer Zwangslogik des immer Mehr und immer Schriller und immer Greller, verrät, dass es nicht funkioniert.
Sie haben Theologie studiert, um eine andere, eine Gegenbotschaft auszurichten und glaubhaft zu machen. Ihre Berufung besteht im Kern darin, Menschen bei ihrer abenteuerlichen Entdeckung zu begleiten, dass sie endliche, zerbrechliche Wesen sind, deren Seele zugleich ans Unendliche rührt – was sich menschlich und emotional in Gestalt der berühmten Schmetterlinge im Bauch meldet. Wo immer Menschen sich nicht zu findigen Tieren zurückzukreuzen suchen oder als chemische Säuresysteme verstehen, mit den man machen darf, was gerade nützt, brechen all die Fragen nach Hoffnung und Trauer, Angst und Freude, Glück und Not auf, die ein bewusstes Leben ausmachen. Und sie haben gelernt, Menschen anzuleiten, mit diesen Fragen im Licht einer Botschaft umzugehen, die von einem Gott erzählt, dem seine Geschöpfe am Herzen liegen, der für sie da ist – gewiss unverfüglich, aber da und nah! – und der ihnen voll Liebe zugetan ist und ihnen darum auch den Eros in Leib und Seele schenkt.
Glaubhaft ausrichten freilich kann man eine solche Botschaft nur, wenn sie nicht moralistisch, als ein Kodex von Ge- und Verboten begegnet, sondern etwas Sapientiales, also Weisheitliches an sich hat. Und dazu gehört eben auch das Anrührende, Bezaubernde, Spielerische – einfach Schöne. Ich bin überzeugt, es ist kein Zufall, dass der wohl älteste Titel für Jesus in der Urgemeinde ausweislich des Lukas-Evangeliums nicht Herr oder Meister oder Richter heißt, sondern "sophia" – also Weisheit. Das Gottbegegnen hat unbeschadet aller Mühe und Last immer auch etwas Zartes und – ja eben auch – Zärtliches und damit Erotisches an sich. Friedrich Nietzsche hatte schlichtweg ein Zerrbild des Christlichen im Blick, als er schrieb, das Christentum habe dem Eros Gift zu trinken gegeben und sich dadurch an der ganzen Menschheit versündigt.
V.
Gleichwohl tun Theologinnen und Theologen gut daran, immer wieder auch ihre weisheitliche und in diesem Sinn erotische Kompetenz zu stärken. Dabei könnte ein Blick in Platons schönsten Dialog, ins "Symposion" ein wenig helfen. Dort heisst es: Die Götter hätten die Geburt der Aphrodite (der Göttin der Liebe) gefeiert und dabei kräftig gezecht, unter ihnen auch Poros - wörtlich übersetzt: der "Weg", der "Ausweg". Weil er dem Nektar ziemlich kräftig zugesprochen hatte, legte er sich im Garten des Zeus schlafen. Aber auch die Penuria - wörtlich "Armut" - hatte von dem Fest erfahren, kam darum, um auch für sich etwas zu erbetteln. Als sie den im Nektarrausch schlummernden Poros entdeckt, faßt sie einen kühnen Plan. Um ihrer Not gründlich Abhilfe zu schaffen, legt sie sich zu Poros und empfängt von ihm einen Sohn: den Eros. Wegen dieser seiner Entstehung am Geburtstag der Aphrodite gilt Eros als deren Begleiter und als Liebhaber des Schönen, weil doch Aphrodite, die aus dem Meerschaum Geborene, so schön ist. Sie brauchen bloß an Aphrodite in der Muschelschale von Botticelli zu denken. Oder nein - viel besser: An die "Aphrodite Kallipygos" im National-Museum von Napoli: eine Skulptur, die - für die Aufstellung mitten in einem flachen Teich geschaffen - in anmutiger Drehung um die eigene Achse ihr Faltengewand lupft und im Wasserspiegel ihr wohlgeformtes Hinterteil betrachtet. Der Beiname "Kallipygos" heißt übrigens übersetzt – und ich übersetze wortgetreu – "schönärschig"; die Griechen empfanden das in keiner Weise unanständig, weil schön nur sein kann, was auch gut ist, egal, ob es um einen Gedanken, eine Tugend oder einen Leib geht. Das feine Fibrieren, das man beim Anblick eines solchen Bildnisses spüren kann, wenn man sensibel ist, das stellt sich auch dann ein, wenn einem gelingt, über das Größte und das Kleinste im Leben zugleich so zu denken, dass man im Fühlen gewiss sein kann: So stimmt's!
VI.
Ohne dieses Gespür für das Bezaubernde in der Welt, ohne Ahnung davon, dass manchmal auch Gedanken schön sind, kann man nicht Theologin und Theologe sein. Das ist meine feste Überzeugung. Wie auch anders sollten Sie den Vielen, die Ihnen mit ihren gebrochenen und zerbrochenen Lebensgeschichten begegnen werden, glaubhaft etwas von jenem Hauch der Versöhnung erzählen können, der über allem – selbst dem Unglück noch – liegt, seit Ostern ist?!
Ich wünsche mir sehr, dass wir – Ihre Lehrerinnen und Lehrer – Ihnen zu diesem Geheimnis wahren Gotteswissens Wege gebahnt, Türen geöffnet, wenigstens von ihm eine leise Ahnung vermittelt haben, manchmal eine Stunde geschenkt, da sie fasziniert waren von der Theologie und begeistert. Sonst wären wir unser Wichtigstes schuldig geblieben. Jetzt freilich sind Sie am Zug. Und wichtiger als Ihre didaktischen, rhetorischen und medialen Kompetenzen wird Ihr persönlicher theologischer Eros sein: dass in den Menschen, für die Sie arbeiten, durch ihre persönliche Ausstrahlung das Gefühl erwacht: Eigentlich ist es gut mit der Welt und damit, dass es mich gibt.