Der Christus und die Schlange
4. Fastensonntag B: Joh 3,14-21
I.
Die Sonntage der Tage der Fastenzeit durchzieht wie der Cantus firmus einer Komposition ein einziges Thema: Jesu Kampf gegen die Sünde und sein Sieg über sie: Den Auftakt bildete die Versuchungsgeschichte am ersten Fastensonntag, dann der vorwegnehmende Blick auf den guten Ausgang der Sache auf dem Berg der Verklärung – wie zur Ermutigung der Jünger für das, was noch kommen wird. Schließlich vor acht Tagen die Episode der Tempelreinigung, die sichtbar macht, dass das von Gott Trennende bis in die Mitte des Religiösen dringt. Und heute so etwas wie ein kleiner meditativer Zwischenhalt, bei dem uns der Evangelist Johannes einen Blick ins Innere dieses ganzen Geschehens werfen lässt.
II.
Das tut er dadurch, dass er Jesus im Gespräch mit dem Pharisäer Nikodemus einen Satz sagen lässt, der das Christus-Geschehen suggestiv auf eine Stelle im alttestamentlichen Buch Numeri bezieht, wo erzählt wird, dass Gott ins Lager der gegen ihn murrenden Israeliten Giftschlangen schickte, wie Mose aber auf Gottes Geheiß ein erzernes Bild dieser Schlangen an einer Signalstange anbrachte und jeder, der gebissen wurde und zu ihr aufschaute, vor der tödlichen Folge bewahrt blieb.
Was hinter dieser Szene steckt und was sie mit dem Christus-Ereignis zu tun hat, wie Johannes ja insinuiert, versteht man nur, wenn man dem an beiden Stellen beschworenen Motiv der Schlange im Ganzen der Heiligen Schrift und sogar ein wenig über sie hinaus nachspürt, um der Eigenbedeutung dieses Sinnbilds ansichtig zu werden. Gewiss wähle ich damit eine heute eher ungewöhnliche Weise der Schriftauslegung, aber sehen wir einfach zu, was sie zu geben hat.
III.
Die biblische Schlange also: Sie taucht in Gen 3,1 auf wie aus dem Nichts auf. Und sie ist schlauer als alle anderen Tiere des Feldes, heißt es von ihr. Damit gibt uns die Bibel einen Wink, dass wir die Schlange als Sinnbild für eine besonders tiefe, freilich - dem natürlichen Wesen der Schlangen ähnlich - auch unheimlichen Einsicht zu verstehen haben. Worum es in dieser Einsicht geht, lassen viele außerbiblische Mythen von der Schlange spontan erkennen: Die mittelamerikanischen Indios etwa erzählen sich, dass die Welt über dem Cipactli-Ungeheuer gelagert ist, das jederzeit seinen Rachen aufreißen und die Welt zerdrücken könnte. Unsere fernen Vorfahren, die Germanen, wussten von der Mitgard-Schlange, die die Erde mit ihrem riesigen Leib umringelt und, wenn sie ihn zusammenzieht, es dem Menschen eng, d.h. ihm Angst macht. D.h.: Die Schlange symbolisiert die erschreckende Einsicht in die Endlichkeit und Vergänglichkeit dieser Welt und unser selbst. Sie ist eine Ikone der Kontingenz. Jeden Menschen überfällt diese Erkenntnis einmal auf dem Weg seiner Reifung: Er selber und alle und alles, was ihm lieb und kostbar ist, wird einmal nicht mehr sein. Irgendwann tritt ihm diese beklemmende Wahrheit wie aus dem Nichts entgegen - genauso wie die Schlange in Gen 3,1.
Und wie verhält sich diese Wahrheit zu Gott und zum Vertrauen in ihn, also zum Glauben? Das ist das Thema des nachfolgenden Gesprächs zwischen der Schlange und Eva. In dessen Verlauf gelingt es der Schlange, ihrem Gegenüber den Bazillus der Angst zu injizieren, dass Gott nur scheinbar ein gütig Gönnender, in Wirklichkeit aber ein missgünstiger Despot sei, der einen köstlichen Garten anlegt, den Menschen hineinsetzt und ihm dann - die ganze Wonne des Lebens vor Augen - verbietet, sich daran zu freuen (übrigens das typische Gottesbild ekklesiogener Neurotiker katholischer und calvinistischer Provenienz, also von Menschen, die durch die Begegnung mit Formen einer angstmachenden Verkündigung das Gefühl bekommen habe, eigentlich gar nicht dasein zu dürfen).
Die Schlange hat nicht behauptet, dass Gott so sei. Sie hat nur gefragt. Aber das hat gereicht, um der Eva dieses Zerrbild von Gott ins Herz fahren zu lassen. Der Fall des Menschen, seine Sünde besteht darin, aus der Entdeckung seiner Kontingenz heraus, der ihm an sich gleichermaßen offenständigen Lebenserfahrung zu misstrauen, dass Gott ihm Leben gönnt, soviel er braucht, und dass der Mensch anfängt, mit der Möglichkeit zu spielen, es gäbe vielleicht doch noch etwas mehr, das ihm der nur scheinbar gütige Schöpfer vorenthält.
Das Symbol der Schlange fungiert als Schlüssel zum Austrag dieses Existenzdramas zwischen Gottesvertrauen und Misstrauen, zwischen Glaube und Sünde. Dass den meisten Schlangenmythen - und übrigens spürbar ja auch der biblischen Szene - eine sexuelle Dimension zugehört, die Schlange dabei oft phallische Bedeutung bekommt, erklärt sich aus ihrer Grundfunktion als Kontingenz-Ikone her von selbst: Das Erlebnis von Zeugung und Geburt zieht notwendig auch die Erfahrung des Todes, des Endens von Leben nach sich. Vergänglichkeit und Neubeginn müssen in engstem Zusammenhang stehen (und tun es ja auch); Giovanni Boccaccio hat das in seinem Decamerone – einer erotischen Poesie im Angesicht tödlicher Pestbedrohung – unübertrefflich ins Wort gebracht. Aber wohlgemerkt: Der Zusammenhang zwischen Gottesthematik und Sexualität ist kein moralischer, wie in der verhängnisvollen Tradition von Augustinus bis zu Teilen des heutigen Katholizismus insinuiert, sondern ein religiöser: Wer das Vertrauen in Gott verloren hat, kann gar nicht anderes, als in der Aufbietung seiner eigenen lebensschaffenden Kräfte sich dem Sog des Nichts entgegenzustemmen.
Das Thema bleibt von der Genesis an die ganze Bibel hindurch bis ins Neue Testament hinein präsent. Nur dass sich die Schlange in weniger archaischen Figuren, in Abstrakta sogar verkleidet - was mit entmythisierenden Tendenz bestimmter biblischer Schichten zu tun hat. So begegnet uns dieses Kontingenz-Symbol wieder im Untier Behemot, von dem das Buch Ijob 40, 15-24 erzählt, und gegen das der Mensch machtlos ist. Gar nicht so weit entfernt von unserer Deutung der Schlange verstehen Kirchenväter wie Hieronymus, Theodoret, Augustinus oder Gregor d. Gr. Behemot als Symbol Satans, dessen also, der versucht, den Menschen mit allen Mitteln von Gott abzubringen. Auch beim Leviatan, in der Regel als Seeungeheuer wiedergegeben, handelt es sich um eine Manifestation der alten Schlange, wie Jes 27,1 den kanaanäisch-phönizischen Namen korrekt übersetzt: "die schnelle, gewundene Schlange". Als Ungeheuer in der Tiefe des Meeres verkörpert er die Tiefe, den Abgrund, also das Chaos selbst. Er ist das Nichts, das allein schon durch seine Präsenz den Menschen Entsetzen einflößt oder - in der Situation unerträglichen Leids herbeigewünscht wird: Ijob 3,8 schreit, dass jene die Nacht seiner Geburt verfluchen sollen, "die es verstehen, den Leviatan zu wecken"; er will, dass alles aus ist. Auch Ps 74,14 erwähnt den Leviatan, ebenso Ps 104,26. Dort wird das Meer als Werk Gottes besungen, das Meer, "so groß und weit", auf dem "die Schiffe dahinziehen" und "auch der Leviatan, den du geformt hast, um mit ihm zu spielen." Letzteres eine Proklamation der absoluten Souveränität Gottes - sogar noch über das Nichts -, wie sie Israel erst nach dem babylonischen Exil gewagt hat und eigentlich wagen musste: Nach dem Totalverlust von Land und Zukunft konnte der Glaube nur bewahrt werden, wenn Gott nicht nur der Gott Israels, sondern der aller Völker, der ganzen Schöpfung und eben auch noch Herr des Nichts war. Sehr nahe, nur ins Persönliche gewendet, steht dem der Auftritt der Schlange als großer Fisch, der den Propheten Jona verschluckt. Der personifizierte Chaosrachen, der den Propheten auf den Abgrund des Meeres zieht, dient Gott und muss den Jona auf Gottes Geheiß wieder freigeben. Darum liegt in dem in Jona 2 festgehaltenen Gebet eine vorjesuanische Ostergeschichte vor: "Du holtest mich lebendig aus dem Grab herauf, Herr mein Gott" (Jona 2,7b). Schon dies lässt erkennen, dass frühchristlich das Jona-Symbol nicht zufällig oder aufgrund einer äußeren Stichwortverbindung zum verbreitetsten Osterbild geworden ist, wie die Ikonographie der Katakomben belegt. Im Gegenteil drückten die frühen Christen damit aus, dass sie Ostern und die Auferweckung nicht wie manche Theologen und viele Christen bis heute als spektakulären Eingriff Gottes und Wunder aller Wunder begriffen, sondern als definitiven Austrag des Dramas zwischen Vertrauen und Angst: Wer selbst im unmittelbaren Angesicht des Todesabgrunds so unbeirrbar an Gott festhält wie Jesus, der hat Gott so unbedingt für sich, dass er niemals verlorengehen kann.
Und dann unsere Johannesstelle von heute aus Num 21,1-9: Israel hatte auf dem Exodus wieder einmal den Mut verloren und lehnte sich gegen Gott und Mose auf: Warum habt ihr uns aus Ägypten herausgeführt? Anders gesagt: Wozu die ganze Plage mit der verfluchten Freiheit? Sterben hätten wir in Ägypten genausogut können! - Da schickte, heißt es, Gott Giftschlangen unters Volk. Klar: Die Angst, das Misstrauen gegen Gott, vergiftete ihnen das Leben. Zur Rettung derer, die bereuen, fertigt Mose auf Gottes Befehl eine kupferne Schlange und hängt sie an einer Signalstange auf. Jeder, der gebissen wurde und zu dieser Schlange aufschaut, also der Angst buchstäblich ins Gesicht schaut, wird gerettet, also dem lähmenden Sog der Angst entrissen, und kann den Exodus ins gelobte Land der Freiheit fortsetzen. Für Johannes ist das ein Vorausbild der Erlösung durch das Kommen Jesu: Jeder, der zum Gekreuzigten aufschaut und an seiner Treue zu Gott sozusagen Maß nimmt, gewinnt eine Freiheit zum Leben, die an diesem Leben nichts ängstigt, nicht einmal das Ende.
IV.
Die Karriere der Schlange samt Anhang ist mit ihren biblischen Auftritten längst nicht abgeschlossen. Im Gegenteil. Der Märchen und Legenden, in denen Schlangen vorkommen, ist bis in die Gegenwart Legion. Ein Beispiel ganz anderer Herkunft möchte ich noch aufrufen, weil es zeigt, dass sich der Grundsinn des Symbols bis in die Gegenwart durchgehalten hat. Das Beispiel stammt aus den Überlieferungen des Talmud einschließlich seiner jiddischen Fortschreibungen. Es gibt ein Lied der Hoffnung auf das Kommen des Messias, das der Rabbi im Frage-Antwort-Spiel mit den Kindern inmitten der bittersten Not im Stetl sang und das bis heute erhalten blieb: "Sug schoin Rebbenju":
- "Sag, lieber Rebbe, was wird sein, wenn der Messias kommt?
- Wenn der Messias kommt, werden wir ein großes Fest feiern. -
Sag, Rebbe, wer wird für uns Musik machen bei dem Fest?
- Mose wird für uns singen und spielen! -
Sag, Rebbe, wer wird für uns tanzen bei dem Fest?
- Mirjam wird für uns tanzen! -
Sag, Rebbe, was werden wir trinken bei dem Fest?
- Wein werden wir trinken! -
Sag, Rebbe, was werden wir essen bei dem Fest?
- Den Schurrabah - Kindername für: Behemot - werden wir essen. -
Wenn der Messias kommt, wird das Untier der Angst verspeist. In Anspielung auf den Titel eines berühmten Films von Rainer Werner Faßbinder gesagt: Die Gegenbewegung zum "Angst essen Seele auf" setzt ein. Es versteht sich von selbst, dass wir mit diesem Gedanken auch am Eingangstor zum Geheimnis des christlichen Symbols der Eucharistie stehen, wie schon zahlreiche Kirchenväter überzeugt waren: die Eucharistie, das Essen von der Frucht des Kreuzbaumes, ist der Antitypos, das Gegenbild zum Essen vom Paradiesbaum, das die Lösung des dort aufgebrochenen Konflikts zu schenken vermag. Wer Brot und Wein vom Altar empfängt, hält Versöhnungsmahl am Ende der Angst. Und welch anderer Name dafür könnte treffender sein als der, den wir haben: Eucharistie – Dankesagen.