Christliche Charakterkunde
Allerheiligen B: 1 Joh 3,1-3 + Mt 5,1-12a
I.
Ich weiß nicht, ob Sie schon einmal mit Graphologie zu tun hatten. Graphologie ist die Wissenschaft von der Handschrift eines Menschen. Wie einer schreibt – die Größe der Buchstaben, auf welche Seite sie sich neigen, die Unter- und Oberlängen, die Abstände zwischen den Wörtern –, das verrät Einiges über das Wesen, den Charakter des Schreibers. Vor Jahren gab es in Südtirol einen Kapuzinerpater, der ein überragender Fachmann in diesen Dingen war. Eines Tages brachte ihm ein Ordensbruder die Kopien zweier handschriftlicher Briefe mit und bat ihn, er solle doch etwas darüber sagen, was die beiden Schreiber für Menschen seien; nur dass der erste Brief von einem Mann, der zweite von einer Frau stammte, verriet er.
Nach einigen Tagen berichtete der Kapuziner seinem Mitbruder, was er herausgefunden hatte: der Verfasser des ersten Briefes sei ein ausgesprochen nervöser, wohl auch unsicherer Mensch, er habe die Neigung zum Jähzorn, sogar zur Ausfälligkeit, er könne verletzend sein, aber zugleich einfühlsam und gütig; Hintertriebenheit steckte auch in ihm. Und was den Brief der Frau betreffe, meinte er, die Schreiberin müsse äußerst selbstbewusst und auch erfinderisch sein, gewiss klug, aber mit einem Hang zur Herrschsucht, überdies auch eifersüchtig und hysterisch, wenn die Dinge nicht so liefen, wie sie wolle. Als der Pater seine Ergebnisse berichtet hatte, verriet ihm der andere von wem die Briefe waren: Den ersten hatte der Hl. Franz von Assisi geschrieben, der zweite stammte von der Hl. Teresa von Avila.
II.
Treffender als in diesem kleinen Experiment kann kaum zum Ausdruck kommen, was Heilige sind: nicht Wunderkinder, nicht Sakristeiwanzen mit angeborener Himmelsverzückung und auch nicht blutleere Lappen, die grundsätzlich einen halben Meter über dem Boden schweben, um sich nur ja nicht einmal den Gewandsaum schmutzig zu machen. Stattdessen gehört zu den Heiligen – wie dem Hl. Franz oder der Hl. Teresa oder wem sonst immer – ein unentwirrbares Durcheinander von Stärken und Schwächen, von hellen und dunklen Seiten – wie bei jedem anderen Menschen auch. Die Heiligen sind, was ihr Wesen betrifft nicht einen Deut anders wie Sie und ich. Was die Heiligen zu Heiligen macht, ist, dass sie ihre Stärken leben und ihre Schwächen ertragen. Das ist der Unterschied. Jeder und jede andere könnte das auch. Wenn ein Mensch nicht Heiliger oder Heilige wird, dann immer deswegen, weil er – statt die Stärken zu leben und die Schwächen zu ertragen – die Stärken brach liegenlässt und mit den Schwächen kokettiert, ja sie als seine Stärken ausgibt.
III.
Schauen wir nur noch einmal auf den Franziskus: Als er mit seinem Vater aneinander geriet, weil der sich mit dem Plan seines Sohnes, Bettelmönch zu werden, nicht einverstanden erklärte, da kam es auf dem Marktplatz von Assisi zu einer lautstarken Auseinandersetzung, in deren Verlauf Franz seinem Vater die eigenen Kleider vor die Füße warf und so auf nicht mehr zu übertreffend aggressive Weise – zur Schande der Familie splitternackt dastehend – seinen Willen durchsetzte. Und gleichzeitig ist es dieser selbe Franz, dem die unbeschreiblich behutsamen, zärtlichen Worte des Sonnengesangs über die Lippen kommen: Gelobt seist du, Herr, mit der edlen Schwester Sonne, mit dem Bruder Mond und Wind und der Schwester Quelle...; derselbe Franz, der sein langes schweres Hinsiechen zum Sterben mit Engelsgeduld trägt und auch noch den Tod als Bruder und Sinnbild der Gottesnähe begreifen kann.
Und die Hl. Teresa: Sie erklärt in einem ihrer Bücher – offenbar aus Eifersucht –, sie sei die einzige Frau, der Christus nach der Auferstehung erschienen sei – was aber schlicht und einfach gelogen ist, weil ja die Evangelien erzählen, dass Maria von Magdala, Maria, die Mutter des Jakobus und Salome den Auferstandenen gesehen haben. Und gleichzeitig ist dieselbe Teresa nicht zu stolz, ein ganzes Leben lang Gottsucherin zu bleiben, die sich auch von Jüngeren und Untergebenen belehren lässt.
IV.
Stundenlang könnte man erzählen von Heiligen, die heilig – also ganz und vollkommen – geworden sind als Menschen und darum auch vor Gott, weil sie es wagten, ihre wahre Begabung zu leben und ihre Fehler, ja einfach auch die Gemeinheit, die in ihnen steckte, demütig anzuerkennen und die unverschließbaren Wunden zu tragen, die sie ihrem eigenen Leben geschlagen hatten. Ganz viele Heilige haben ja eine Vergangenheit. Ich meine das genau in dem Sinn, in dem man bis heute von einem Menschen sagt, er habe eine Vergangenheit, wenn man zum Ausdruck bringen will, dass es im früheren Leben dieses Menschen Dinge gab, die – vorsichtig gesagt – nicht ganz koscher waren. Ein paar willkürliche Beispiele: Ignatius von Loyola, ein Spanier adeliger Herkunft: Als Junger war er von brennendem Ehrgeiz besessen, hatte nichts anderes als militärische Abenteuer im Kopf, um angeben zu können und mit seinen Husarenstücken irgendein gräfliches Fräulein aufs Kreuz zu legen. Bis ihm bei einem solchen Kommando ein Bein zerschossen wurde. Auf dem monatelangen Krankenlager entdeckte er, dass er zu etwas ganz anderem bestimmt war: Nämlich, die Geister zu unterscheiden, wie er das selbst nennt und damit meint: anderen zu helfen, sich vor Gott selber zu finden in erster Person. So wurde er zu einem der wichtigsten geistlichen Lehrer der Welt, einem Theologen der modernen Welt und zum Gründer des Jesuitenordens.
Oder nehmen wir Charles de Foucauld; er lebte im neunzehnten Jahrhundert: Nicht ganz unähnlich dem Ignatius von Loyola ein Haudegen, Säufer, Spieler und Schürzenjäger sondergleichen. Bis er eines Tages – obwohl Ungläubiger – einfach so eine Kirche betritt, dort, weil gerade der Pfarrer da war, zur Beichte geht, sein ganzes Leben ausbreitet, und kurz darauf zum Beter und Einsiedler wird, um Gott allein zu suchen, weil er ihn als den wirklichen Schatz des Lebens erkannt hat.
Man kann die Sache auch von Extrem her angehen und fragen: Wenn denn Heilige nicht sozusagen von Geburt an heilig sein müssen, sondern geradewegs durch das Gegenteil hindurch erst zu Heiligen werden können – gibt’s dann auch heilige Mörder? Ja, die gibt es. Einen kennen Sie sehr gut beim Namen: Davor hieß er Saulus, danach Paulus. Saulus stand dabei, als ein paar Fanatiker den Stephanus mit Steinen totwarfen. Er passte dabei nicht nur auf die Kleider der Gewalttäter auf. Er war der Hauptverantwortliche für den Mord, weil ihn damals nur noch das eine Ziel umtrieb, diese Christen, diese von alten Glauben der Juden Abgefallenen aus der Welt zu schaffen. Aber nicht viel später, als er Richtung Damaskus unterwegs war, da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, dass er das bekämpft und zu vernichten gesucht hatte, was er selbst am allermeisten suchte: Einen Gott, vor dem man als Mensch mit seinen Fehlern und Grenzen bestehen kann, weil dieser Gott nicht zuerst fordert, sondern vor allem anderen barmherzig ist.
Vielleicht sagen Sie jetzt: Gut, das war halt ein Sonderfall, dass der Mörder Saulus zum Heiligen Paulus wird. Es war kein Sonderfall. Gut vierzig Jahre ist es her, dass in Paris ein Mann bei einem Raubüberfall einen Polizisten erschoss. Das Urteil lautet auf lebenslänglich. Während der Haft fand dieser Mann zum Glauben. Bis zu seinem Tod stand er Mitgefangenen bei, tröstete sie, half ihnen verstehen und bereuen, was sie getan hatten. In seinen Tagebüchern entdeckte man später, dass er eine Bekehrung erlebt hatte, wie sie tiefer nicht hätte sein können. Vor ein paar Jahren hat der Bischof von Paris, Kardinal Lustiger, den Seligsprechungsprozess für diesen Mann eingeleitet.
V.
Als das bekannt wurde, gab es Protest. Man kann doch einen Mörder nicht als Vorbild hinstellen!, entrüsteten sich manche. Damit haben sie natürlich völlig recht. Aber in einem irrten sie: Heilige sind keine Vorbilder – auch wenn das noch immer behauptet wird. Sie sind keine Vorbilder, weder mit ihrer dunklen Vorgeschichte noch mit ihrer Heiligkeit. Denn heilig werden kann eine oder einer ausschließlich und nur auf ihre oder seine urpersönliche, einmalige Weise. Dass einer, der das Leben eines anderen auf dem Gewissen hat, trotzdem durch das Feuer einer durch und durch gehenden Bekehrung hindurch ein Heiliger werden kann, sagt trotzdem etwas, was uns zutiefst angeht. Es sagt etwas über Gott. Gott ist so, dass er selbst den nicht abschreibt, der in den Augen der Menschen nach Recht und Gesetz Strafe auf sich zieht. Selbst der schlimmste Übeltäter wird vor Gott nicht in sein Verbrechen eingesperrt. Es gibt bei Gott ein Darüber hinaus, wann immer der Betroffene es wahrhaftig sucht. Darum kann auch im Leben dessen etwas von Gott sichtbar werden, der etwas getan hat, was sich nicht mehr gutmachen lässt. Auch das gehört zu Allerheiligen.
VI.
Die Stärke zu leben und die Schwäche zu tragen, setzt freilich eines voraus: das Vertrauen, dass Gott von Anfang an zu mir Ja gesagt hat. Dieses große, unbedingte Ja Gottes, das ist das Fundament dafür, dass ich meine Stärken überhaupt an mir entdecke und auch dafür, dass ich meine dunklen Seiten erkenne und aushalte. Das Gottvertrauen ist das ganze Geheimnis der Heiligkeit. Heute denken wir an alle, die dieses Gottvertrauen gewagt haben – die großen Bekannten, aber genauso die vielen, die kaum einer mit Namen kennt und die dennoch jenes Geheimnis ihrem Leben eingeschrieben hatten. Ich bin mir sicher, darunter werden auch Menschen sein, denen Sie und ich schon persönlich begegnet sind. Sie alle zusammen ermutigen uns, es ihnen gleich zu tun. Denn an ihnen wird sichtbar: Jeder Heilige hat eine Geschichte. Aber zugleich ahnen wir an den Heiligen auch: Jeder Sünder hat eine Zukunft. Darum feiern wir heute.