Was uns zugetraut ist

18. Sonntag A: Mt 14, 13-21


I
Eines Abends hielt der Dichter Antoine de Saint-Exupery folgende Begebenheit in seinem Tagebuch fest: Als ich heute in der Einöde dahinging, begegnete ich einem kleinen Mädchen in Tränen. Ich bog seinen Kopf zurück, um in seinen Augen zu lesen. Und sein Kummer hat mich geblendet. – Wenn ich es ablehne, Herr, den Kummer kennen zu lernen, lehne ich einen Teil der Welt ab und habe mein Werk nicht vollendet. Es geht nicht darum, dass ich mich von den großen Zielen abwende, aber es gilt, dieses kleine Mädchen zu trösten. Denn nur dann geht es gut in der Welt, Auch das kleine Mädchen ist Sinnbild der Welt.

II
Wen die Tränen eines kleinen Kindes solche Worte finden lassen, der muss sich ein unbeschädigtes Gespür bewahrt haben für das, was wesentlich ist im Leben. Würde er es ablehnen, den Kummer des kleinen Menschenkindes kennen zu lernen, hätte er sich einem Teil der Welt verweigert und darum nicht das Seine getan, sagt der Dichter. Eine Sorge, eine Bedürftigkeit, die unwichtig wären und übergangen werden dürften, gibt es nicht, bedeutet das. Und sie gibt es deshalb nicht, weil die Welt sonst nicht mehr so aussieht, wie sie gemeint ist.

III
Was dem Dichter so unvermittelt in der Begegnung mit dem Kind aufging, davon redet das Evangelium an vielen Stellen. Als Jesus die vielen Menschen sah, hatte er Mitleid mit ihnen und heilte die Kranken, schreibt Matthäus. Die Formulierung kehrt in den Evangelien mehrfach wieder, beinahe wie ein Stereotyp – und das verrät, wie charakteristisch für Jesus das war, was da erzählt wird.

Wir müssen wohl davon ausgehen, dass die längste Zeit seines öffentlichen Auftretens nur die Wenigsten verstanden haben, was Jesus vom Reich Gottes predigte – bis in den engsten Jüngerkreis hinein. Aber viele spürten, dass dieser Jesus, mit dem, was er sagte, was er tat und wie er war, etwas zu tun hatte mit ihrem Leben. Dass es an ihre Sorgen, ihre Nöte und Ausweglosigkeiten rührte. Und Jesus geht ein auf dieses Bedürfen der Menschen. Er muss das aus der inneren Logik seiner Predigt. Denn "Reich Gottes" heißt für ihn: Die Welt wird wieder so, wie Gott sie gedacht hat. Und das vermag sie dort, wo Menschen sich auftun für Gott. Wo sie ihr Woher und Wohin von Gott her verstehen und auf ihn hin leben. Mit einem Wort: Wo Menschen das Wagnis des Glaubens, der vertrauensvollen Übereignung an Gott eingehen. Dort, wo das geschieht, werden Vorzeichen, Spuren des Gottesreiches, dieses versöhnten Daseins, zu greifbarer Erfahrung. Und zugleich stärken sie die Hoffnung, dass einmal alles Not und Elend geheilt und den Opfern der Geschichte Gerechtigkeit widerfahren wird.

IV
In diese Übersetzung der Reich-Gottes-Predigt in menschliche Erfahrung gehört auch die Geschichte vom Winder der Brotvermehrung hinein. Nicht um ein Schaustück, ein Spektakel zur Verblüffung der Zuschauer geht es dabei, sondern um Bewahrheitung dessen, was Jesus von Gott zu sagen weiß. Ein Gott, zu dessen Urnamen auch "Erbarmen" gehört. Wie die Heilige Schrift oft und oft bezeugt, der ist auch nicht gleichgültig gegen den Hunger der Menschen nach Brot, gegen dieses Elementare unseres leiblich-irdischen Daseins. Und wer diese Fürsorglichkeit Gottes um sein schieres Dasein erfährt, lernt auch zu hoffen und zu glauben, dass dieser Gott nicht nur den Hunger stillen wird, der geht und kommt, sondern auch jenen anderen großen Hunger nach Leben und Friede und Angenommen sein, der die Urregung unserer Seele ausmacht.

Das ist aber nur die eine Hälfte dessen, was uns das Evangelium heute sagt. Ein zweites, genauso Wichtiges kommt hinzu: Denn Matthäus erzählt auch, wie und wo jene Übersetzung der Reich-Gottes-Predigt geschieht: Jesus legt sie buchstäblich in die Hände der Jünger – und die stehen bei Matthäus immer exemplarisch für die Gemeinde, die Kirche. Denn er sagt: Gibt ihr ihnen zu Essen! Und das ist ernst gemeint. Sie, die Jünger, die Gemeinde, die Kirche sollen anfangen, das Wunder des Gottesreiches zu wirken, das Wunder eines Stück versöhnter, verwandelter Welt. Doch die Jünger sind begriffsstutzig. Sie hätten die Leute lieber weggeschickt. Sie fühlen sich ohnmächtig und überfordert mit ihren fünf Broten und zwei Fischen vor so vielen Hungrigen. Deswegen übernimmt Jesus selbst die Initiative, fast wie in der Emmausgeschichte, wo die Jünger auch nichts verstehen und ihnen die Augen aufgehen in dem Moment, da er das tut, was sich ihnen vor dem Karfreitag am tiefsten von ihm eingeprägt hat: das Brotbrechen. Und genauso hier in unserem Evangelium, das ja nach Ostern niedergeschrieben ist: Auch hier beginnt das Wunder mit dem Anklang an die Abendmahlszene:

Er nahm die fünf Brote und die zwei Fische,
blickte zum Himmel auf,
sprach den Lobpreis,
brach die Brote und gab sie den Jüngern.


Das ist gesagt, dass uns die Augen aufgehen: Das Wunder der Brotvermehrung – dass das scheinbar Wenige für viele reicht, ja selbst zum Überfluss wird –, das fängt dort an, wo Menschen Eucharistie, Liebesmahl halten und damit bekennen: Wir sind für einander da, wie lassen keinen fallen, wir stehen füreinander ein. Wo Menschen sich – getragen vom Zeichen des Brotbrechens – mit Gottes Sorge um den Menschen identifizieren, da wächst ihnen von innen, aus der Mitte ihrer Seele die Kraft zu Wunderbares zu tun. Und das Wunderbarste ist immer, wenn eine oder einer die Angst und Sorge um sich selbst und das Eigene überwindet und aus dem Vertrauen, von Gott getragen zu sein, selber zu Trägerin, zum Träger der Not und Last der anderen zu werden. Das Wunder der Brotvermehrung beginnt mit der Verwandlung der Seele. Und diese formt sich aus in eine Geschwisterlichkeit, die sich nicht mehr mit Almosen begnügt, sondern wahrhaft teilt mit denen, die dessen bedürfen, dass sie ein des Menschen würdiges Leben zu führen vermögen. Und manchmal ist es mehr als nur ein Teilen. Manchmal wird es ein Überschwang des Gebens, in dem sich gleichsam das Ende unsere Evangeliums widerspiegelt, das davon erzählt, dass nach der Sättigung der Vielen die Jünger die übrig gebliebenen Brotstücke einsammelten, zwölf Körbe voll. Solch großherziges Teilen ist übrigens gar nicht so selten. Denn zu ihm gehört meist auch, dass es im Verborgenen geschieht.

V
Vielleicht gibt es aber auch eine Weise dieses Wunders, die noch tiefer reicht: Wenn jemand, der selber nichts oder fast nichts hat, mit einer winzigen Gabe oder Geste, die soviel wie nichts ist, die einer oder einem andern etwas schenken kann, was mit nichts in der Welt aufzuwiegen ist. Von so etwas erzählt der Liedermacher Wolf Biermann. Sein Vater war überzeugter Kommunist gewesen. Deswegen saß er sechs Jahre im Zuchthaus ein, wie das damals hieß. Dann wurde er in Auschwitz umgebracht. Biermann kannte den Vater kaum. Aber die Mutter machte ihn für das Kind gleichsam zu lebendiger Wirklichkeit: Jeden Morgen, erzählt Biermann, wachte ich mit meinem Vater auf eine Weise, die sich kein Schriftsteller ausdenken kann. Meine Mutter, Emma Biermann, konnte das. Wenn ich morgens um sechs aufstand, meine Mutter musste um sieben in der Arbeit sein, lief ich aus meinem Zimmerchen ins Treppenhaus. Dort stand mein Leiterwägelchen und da lag jeden Morgen von meinem Vater ein Bonbon, ein Keks, ein Stück Zucker. Dann zog ich den Wagen mit dem Geschenk meines Vaters rein, und meine Mutter erzählte mir beim Frühstück, auf welch abenteuerliche Weise dieser Keks aus dem Gefängnis zu mir gekommen war. Dann hab ich den Keks meines Vaters gegessen, im Grunde genauso wie Katholiken den Leib Jesu mit der Hostie. So war mir mein Vater inniger vertraut als anderen Kindern ihre Väter, die bald da waren, bald nicht.

Aus dem Kleinen das Wunderbare wirken, das vermag die Liebe. Sie ist das eigentliche Wunder. Jesus hat sie gepredigt und gelebt mit allem, was er hatte und war. Denn er wusste: Nur so wird etwas ahnbar von dem Gott, der selbst die Liebe ist. Sie ist das Geheimnis hinter allem, was Menschen füreinander vermögen. Ohne sie bliebe selbst das Größte ein Nichts. Mit ihr wird auch noch das Armselige groß. So reicht das Geheimnis des Glaubens bis in den Hunger der Menschen und den Kummer eines Kindes. Auch dort noch begegnet uns der Gott, dem wir nahe sind.