Die Logik der offenen Frage

10. Sonntag: Hos 6,3-6; 11,1.3-4.8a.c-9 [erweitert] + Mt 9, 9-13

I.
Auch Grundworte des Glaubens sind nicht davor gefeit, verschlissen zu werden. Irgendwie ist das in den zurückliegenden drei, vier Jahrzehnten in auffälliger Weise mit der Rede von Gottes Barmherzigkeit passiert. Die Generation zwischen der vorletzten Jahrhundertwende und dem II. Vatikanischen Konzil, also bis Mitte der 60er Jahre, hat das Befreiende dieser erzevangelischen Botschaft kaum glauben können, so sehr war für sie Schuld, Gericht und Strafe in den Vordergrund getreten. Die Forderung, glaubhaft von Gottes Erbarmen, vom Glück des Erlöstwerdens  zu predigen, konnte dem Prediger Kopf und Kragen kosten – so wie es nicht nur dem schlesischen Theologen Joseph Wittig geschah. Der hat einmal von einem Erlebnis seiner Schulzeit erzählt: Wie der Pfarrer im Religionsunterricht die Schüler abfragte: Was Gott Wunderbares getan habe für die Welt.  – Er habe seinen Sohn gesandt. – Und was habe der getan? Die Menschen von der Sünde befreit. – Mensch, flüsterte Wittigs Banknachbar diesem ins Ohr, hätt’ er uns bloß vom Beichten erlöst! – Da war das Sakrament des Erbarmens zum Marterwerkzeug von Kinder- und nicht nur Kinderseelen geworden. Heute ist uns diese Zusage des Evangeliums vom barmherzigen Gott so selbstverständlich, dass Sorge nottut, sie nicht zur Bagatelle zu ent-stellen.

II.
Das wird nur dann nicht passieren, wenn im Blick bleibt, wo Barm-herzigkeit im tiefsten wurzelt. Der beste Lehrmeister dafür ist uns der Prophet Hosea. Nicht nur, dass dieser Hosea alles, was zwischen Gott und Volk geschieht, als ein Drama zwischen zwei Herzen begreift - so sehr, dass er das Verhältnis beider mit einer Ehe vergleicht, in der die Partner, das Volk, Ehebruch begeht mit anderen, mit den Baalen, den Fruchtbarkeitsgöttern der Nachbarvölker. Und nicht nur, dass Hosea sich genötigt fühlt, seine Predigt geradezu in Wirklichkeit umzusetzen, und deshalb eine Kultdirne heiratet, um dem Volk mit dieser aufsehenerregenden Geste drastisch vor Augen zu stellen, was es treibt mit seinem Götzendienst. Über all dies hinaus noch lässt uns Hosea in den Versen eines Liedes - im 11. Kapitel - gleichsam einen Blick tun ins Innerste Gottes, um dem Volk und uns endlich die Augen zu öffnen, dass es bei allem, was Gott unternimmt, um den Menschen die alte Geborgenheit wiederzugeben, - dass es dabei nicht um die Behebung eines bedauerlichen Defekts im Schöpfungswerk geht, sondern um die Geschichte einer Liebe, in die sich Gott mit allen Fasern seines Wesens verstrickt hat: So singt Hosea im Geiste Gottes:
Als Israel jung war, gewann ich ihn lieb,
ich rief meinen Sohn aus Ägypten.
Je mehr ich sie rief,
desto mehr liefen sie von mir weg ...
Ich war es, der Efraim gehen lehrte,
ich nahm ihn auf meine Arme.
sie aber haben nicht erkannt,
dass ich sie heilen wollte.
Mit menschlichen Fesseln zog ich sie an mich,
mit den Ketten der Liebe…
Ich neigte mich ihnen zu und gab ihnen zu essen
... doch sie haben sich geweigert umzukehren.
Das Schwert wird in seinen Städten wüten ...
und sie wegen ihrer Pläne vernichten.
Doch wie könnte ich die preisgeben, Efraim,
wie dich aufgeben, Israel?
Mein Herz wendet sich gegen mich,
mein Mitleid lodert auf.
Ich will meinen glühenden Zorn nicht vollstrecken
und Efraim nicht noch einmal vernichten.
Denn ich bin Gott, nicht ein Mensch,
der Heilige in deiner Mitte (Hos 11,1-9 pass.).

Das also ist es: obwohl Gottes Reaktion auf seines Volkes Aktionen nur noch Gericht heißen müsste, bleibt seine Barmherzigkeit noch größer als sein Zorn. Weil es in Gott eine Revolution gibt - mein Herz wendet sich gegen mich -, weil es in ihm eine permanente Revolution des Herzens gibt, deshalb allein noch gibt es uns. Lässt sich noch bewegender zur Sprache bringen, dass der Mensch - so, wie er ist - einzig und allein von der Gnade Gottes lebt? Dass sich in Gott um unsretwillen das Oberste zuunterst kehrt, was könnte dem im Menschen anderes entsprechen als die Bewegung der Umkehr hin zu diesem unbegreiflichen Gott?


III.
Und es ist genau diese Logik samt der offenen Frage am Ende, die sich durch die ganze Predigt Jesu und sein Handeln zieht. Es ist die Logik des Gottesreiches. Und weil Jesus wusste, dass in der Anerkennung oder Nichtanerkennung Gottes als dessen, dem es so voraussetzungslos um den Menschen geht, die Entscheidung über Heil oder Unheil eines Menschen fällt, deshalb hat er diesen zuvorkommenden Gott bis zum Letzten verteidigt und beglaubigt. Vielleicht können wir das erst dann begreifen, wenn wir einmal einen Augenblick lang ein paar von den Sätzen aus der Bergpredigt buchstäblich nehmen, die wir gern als paradox abtun und so entschärfen. Im Zusammenhang mit dem Liebesgebot riskiert Jesus da bekanntlich den Satz:
Ihr habt gehört, daß gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet; -
und jetzt kommt's:
denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten; und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte (Mt 5,43-45).
Und jetzt nehmen Sie jedes Wort so wörtlich, wie es da steht:
er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten; und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte:
Nicht nur, wenn du gut bist, ist Gott da bei dir und über dir und trägt. Nein: auch wenn du böse bist, ist es immer noch da, bleibt er immer noch treu und verlässlich wie die Sonne, die jeden Morgen aufgeht, ob du böse oder gut warst tags zuvor. So ist Gott - der Gott für die Menschen. Und wenig später, da wird der, der so von Gott zu sprechen wagt, selbst zum lebendigen Gleichnis dieses Gottes aus Fleisch und Blut, wenn er ausruft:
Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werden euch Ruhe verschaffen ... denn ich bin gütig und von Herzen demütig, so werden ihr Ruhe finden für eure Seelen (Mt 11,28-29).
Nicht: Kommt zu mir! Sondern: Kommt alle zu mir! Kommt nicht nur, ihr Frommen und ihr Zufriedenen; kommt auch ihr, die es zu nichts gebracht haben; kommt, ihr Bettler und Penner; kommt ihr Arbeitslosen und ihr Ausbeuter; kommt, ihr Säufer und ihr Süchtigen; kommt, ihr Huren und Ehebrecher; kommt ihr, die ihr Gott verloren habt und nicht mehr glauben könnt! Kommt zu mir, traut euch mir an - werdet meine Jünger, heißt es wörtlich bei Matthäus, - geht mit mir, dann findet ihr den Herzensfrieden, die Geborgenheit, die ihr verloren habt, weil ihr auf falschen Wegen suchtet. Und wieder dieses Offene am Ende - dieses Entsicherte, das darauf setzt, die Gottesrevolution werde von selbst die Sündern zu Bekehrten wandeln.

IV.
Und sie sind gekommen: zuallererst die, die von sich nichts mehr zu erwarten hatten, die gefesselt waren an ihre Süchte und dazu noch eingesperrt in ihren schlechten Ruf. Die Verfahrenheit ihrer Existenz - einen Mann nach dem anderen brauchen und doch nie die ersehnte Lieben finden wie die Samariterin am Brunnen; den Leuten das Geld abpressen und doch nie genug haben wie Zachäus -, die Verfahrenheit ihres ganzen Daseins hat diese Menschen feinfühlig gemacht für das, was einzig die Macht hätte, sie zu erlösen aus diesem quälenden Teufelskreis der Entfremdung: Wenn einer ihnen einen neuen Anfang schenkte ohne Vorleistung, ohne Vorbedingung, einfach so - gratis, aus Gnade. Was mögen die alle gespürt haben, als sie aus Jesu Mund - und beglaubigt durch seinen eigenen Umgang mit ihnen - hören konnten, dass Gott genau das tut? Und es waren viele, sagt unser Evangelium, die da kamen.

Jedoch: nicht alle sind gekommen. Denn seltsam: diejenigen, die von Amts wegen mit Gottes Dingen befasst waren, und die, die so halbwegs zufrieden waren mit sich, denen ist dieser Gott Jesu verdächtigt vorgekommen. Wenn Gott wirklich so wäre, wie der da behauptet, störte er da nicht ganz empfindlich ihre Lebensphilosophie von Leistung und Verdienst? Wo käme man da hin, wenn vor Gott der Tagedieb und Zuhälter zuerst einmal genauso gälte wie einer, der seine Pflicht tut und in ungefähr die Gebote hält? Genau hier beginnt die Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Pharisäern. Und sie geht überhaupt nicht um das Einhalten oder Übertreten bestimmter Gesetze und Gebräuche. Die Auseinandersetzung geht stattdessen in all dem einzig um die Frage, wer Gott ist: der, dem es so unbedingt um den Menschen geht, dass ich ihm ganz vertrauen kann. Oder der, dem gegenüber ich vorsichtshalber Ansprüche erwerbe durch Gebotsbeachtung, mich in Position bringe, zu etwas machen muss, am besten ihm gleich, damit er mir nicht vielleicht doch Etliches vorenthält an Leben.

Und wenn Sie jetzt von dieser Warte aus das Evangelium zu lesen beginnen, dann entdecken Sie wie von selbst, dass die Reaktion der Menschen auf Jesu Botschaft von Gott bis zum Ende alles andere als ein Zufall oder ein vermeidbarer Unfall der Geschichte gewesen ist. Die Einladung Jesu annehmen heißt: anerkennen, dass Gott, der kompromisslos für den Menschen daseiende Gott ist, dem ich mich mitsamt den Verwerfungen meines Daseins anvertrauen kann, - und heißt: anerkennen, dass ich dieses Gottes bedarf, um nicht am Misstrauen, an der Angst und ihren Folgen zu ersticken. Jesu Einladung zurückweisen dagegen heißt folglich nichts anderes als: behaupten, ich werde allein fertig mit mir; ich brauche Gott nicht, bin ihm nichts schuldig, muss ihm nichts verdanken, will nichts wissen von einem Gott, der mir so nah wäre.

V.
Dass ausgerechnet die offiziellen Vertreter der Religion den Widerstand gegen Jesus anführen, das rührt daher, dass der Mensch sogar noch die sichtbaren Gesten seines Glaubens in den Dienst seines zuinnerst nistenden Misstrauens zu stellen, sich über das Heilige herzumachen vermag. Keiner ist dieser Versuchung im vorhinein entnommen, nicht nur die Pharisäer nicht, auch kein Christ, kein Laie und kein Priester und kein Papst. Die jesuanische Einladung zum Gottesabenteuer weitersagen und die zu ihr gehörende offene Frage aushalten, die jedes Aufrechnen unterbindet, macht die Kunst christlicher Seelenführung aus. Lernen wird sie nur, wer der Zärtlichkeit und Ohnmacht der Poesie eines Hosea traut und beides im Antlitz Jesu wieder findet.