Lesen und Schreiben

Neujahr A: Lk 2,16-21

I.
Vor acht Tagen haben wir die Heilige Nacht begangen. Genau dann, wenn im Kreise des Jahres die Nacht am längsten ist, wenn alles in win-terlicher Todesstarre harrt, feiern Christen, was Gott für den Menschen übrig hat: Einen neuen Anfang. Und Gott selber markiert diesen Anfang gleichsam, indem er sich ohne Vorbehalt auf die Seite des Menschen, ja geradezu an die Stelle des Menschen stellt. Wenn die Botschaft von der Menschwerdung kein Unfug ist, dann bedeutet sie ja genau ebendies. Und sie will sagen: Wenn sich selbst Gott an deine Stelle traut, was ver-gibst dann du dir, wenn auch du zu sein wagtest, was du bist?

II.
Heute fangen wir ein neues Jahr an. Solche Tage lassen uns wie von selbst innehalten und Bilanz ziehen. Was war, wo stehe ich, was wird kommen? Wir dürfen dabei nicht zu oberflächlich fragen, nach Glück o-der Pech halt. Die Frage muss heißen: Was habe ich aus mir gemacht? Wozu bin ich bestimmt? Wer sich nichts vormacht, wird sich eingestehen müssen: Im Vergleich zu, was ich sein könnte, bin ich mir etwas - und vielleicht Manches - schuldiggeblieben. Aber zugleich darf ich mir sagen: Es ist doch Weihnachten gewesen! Weihnachten auch für mich! Und wo, wenn nicht jetzt, da ich nach mir frage, hat jener Neuanfang seinen Ort, den mir die Heilige Nacht verspricht.

III.
Aber wie anfangen mit diesem Anfang? Vielleicht steckt die Antwort in dem Namen, der über diesem ersten Tag des Neuen Jahres steht: Er gehört Maria. So ehren wir sie, die dem Geheimnis jenes neuen Anfangs näher steht als jede und jeder andere, ja, die selber in dieses Neuanfan-gen Gottes mit uns Menschen einbezogen war. Aber nicht einbezogen äußerlich wie ein Werkzeug, dessen sich Gott eben bedient, sondern hineingenommen durch das Einverständnis, das sie dazu gab. Dabei dürfen wir uns das alles nicht zu romantisch vorstellen. Maria musste selbst erst einmal die Spuren Gottes in ihrem Leben, sein Ruf, seine Herausforderung entziffern lernen, bevor sie werden konnte, was sie nach Gottes Absicht sein sollte.

Was es heißt, die eigenen Lebenslinien entziffern, das macht eine mit-telalterliche Legende deutlich, die später oft und oft in der Kunst bildlich dargestellt wurde. Nach dieser Legende hat Maria, als der Verkündi-gungsengel bei ihr eintrat, in der Bibel gelesen. Sie hat - will das heißen - ihr eigenes Leben, ihre Bestimmung und Zukunft von den alten Gottes-geschichten her verstehen gelernt. Sie hat gelesen, was Menschen mit Gott schon für Geschichten erlebt hatten, seit Abraham. Und dann hat sie sich gefragt, ob denn dieser Gott, der oft so Nahe, aber genauso oft Ferne und Rätselhafte, ob er denn vielleicht auch mit ihr so eine persön-liche Geschichte vorhabe. Maria wird gefragt, wird überlegt, auch gerät-selt haben. Aber sie hat sich von den Gottesgeschichten der Bibel Mut machen, hat sich von Gott in Anspruch nehmen lassen. Und so ist sie die geworden, die sie werden sollte.

Dieses Entziffern des eigenen Lebens ist dabei keineswegs ein einmali-ger Vorgang, sondern etwas, das immer wieder getan werden will, damit irgendwann so etwas wie die Grundrichtung erkennbar wird. Schon die Künstler, die die alte Legende von vorhin malten oder schnitzten, haben das so gesehen. Eines Tages begannen sie nämlich, Maria mit dem Je-sus-Kind auf dem Arm darzustellen - aber immer noch lesend, darum mit dem Buch der Gottesgeschichten in der anderen Hand. Auch Jesu Ge-schick und Geheimnis hat sie - wie wir alle bis heute - verstehen lernen müssen. Und genauso die Rolle, die ihr zugedacht war in all dem. Vom Wort Gottes hat sich Maria ihr Leben auslegen lassen. Und erst, weil sie so lernte, worauf es hinauswill mit ihr, konnte sie ihr Leben leben - und wurde nicht einfach vom Gang der Dinge fortgerissen.

IV.
Was hilft mir, mein Leben zu entdecken und zu verstehen? Was andere sagen, was in der Zeitung steht oder was irgendein Großmaul im Fern-sehen zum besten gibt? Vielleicht haben Sie damit schon Erfahrungen machen müssen. Warum also den Neuanfang, der mir offen steht, nicht wie die Maria unserer Legende mit den Gottesgeschichten der Bibel ma-chen? Sich zum Vertrauen ermutigen lassen wie Abraham oder Sara; den Mut zum Weg in die wirkliche Freiheit fassen wie Mose; der Wahr-heit die Ehre geben, wie die Propheten, auch wenn es manchen nicht passt; sich trösten lassen von den Psalmbetern oder dem leidenden Ijob, wenn ich dem Zusammenbruch nahe bin, weil sie alle bezeugen, dass gerade dort, wo ich einfach nicht mehr kann, dort, wo ich total down bin, Gott mir auf eine Weise nahe steht, die ich vorher gar nicht kannte!

Alle die Gottesgeschichten sind ja zu nichts anderem aufgeschrieben als dazu, dass sie meine eigenen Geschichten werden, buchstabiert mit dem Wortschatz meines Lebens - und das „-schatz“ in Wortschatz ist buchstäblich gemeint. Der ganze Reichtum meines Lebens - und jedes Leben ist reich, auch das einfache, das behinderte, das schuldiggewor-dene -, dieser ganze Schatz in mir wartet geradezu darauf, unter Gottes Händen zu einer einmaligen Geschichte, zu seiner Geschichte und zu meiner Geschichte zu werden. Freilich muss ich ihm zur Verfügung stel-len, was in mir liegt. Dann werde ich, was ich bin.

V.
Aus der alten Kirche wird überliefert, was ein Heide einmal einem Bi-schof gegenüber gespottet habe: Das Christentum müsse ja wohl eine Religion für einfache Geister sein, da es mit einem einzigen Buch aus-komme. Wenn Jesus so weise sei, wie die Christen behaupten, hätte er doch eine ganze Bibliothek hinterlassen müssen, in der alles geschrie-ben stehe, was irgendwie und irgendwann für das Leben von Belang sein könne. Der Bischof gab zur Antwort: Nein, uns reicht ein einziges Buch mit Gottes Wort. Denn du vergisst, dass jeder Gläubige dieses Buch neu schreibt.

VI.
Das neue Jahr liegt wie ein Buch mit lauter unbeschriebenen Seiten vor uns. Jeder Tag eine Seite, 365 insgesamt. Wir dürfen die Seiten be-schreiben, eine nach der anderen. Wenn man etwas schreiben muss, fällt einem oft schwer anzufangen. Dann ist oftmals hilfreich, zu schauen, was denn andere schon geschrieben haben. Wer dafür das Buch mit den Gottesgeschichten aufschlägt und sich von ihm helfen lässt, wird am nächsten Neujahrstag in seinem Lebensbuch mit dem Titel „2005“ eine Geschichte stehen haben, die stimmt - und die ihn dankbar macht.