Gedenkgottesdienst für Johannes Paul II. PP. Dominikanerkirche 14.04.2005 - Sermo incarnatorius
Apg 17,22a. 24-28a + 2 Kor 4,7-11 + Mt 11, 25-30
I.
Der
Bilder sind genug gesehen, der Nachrufe mehr als genug gehört. Was
bleiben wird von diesem drittlängsten Pontifikat der Kirchengeschichte,
mögen in Jahren die Historiker wägen. Normalität kehrt wieder. Doch
unberührt vom Sterben des Papstes und dem, was danach in Rom geschah,
blieben nur wenige – und da mögen die Gründe in persönlichen Wunden zu
suchen sein. Wenn man ein paar Momentaufnahmen noch einmal Revue
passieren lässt: der erste deutsche Nachruf 20 Minuten nach der
Todesbotschaft auf „Spiegel Online“, vielleicht der beste von allen. Am
Montag danach die Zeitung mit dem dicksten Papst-Sonderteil: die taz.
„Die Zeit“ erscheint einen Tag früher als sonst. Castro ordnet
Staatstrauer an, der britische Thronfolger, demnächst Oberhaupt der
Anglikaner, verschiebt die eigene Hochzeit. Und dann der Petersplatz.
10 000, 50 000 betend Tag und Nacht, Wache haltend unterm Sterbezimmer
des Papstes. 100 000 werden es, nachdem die Glocke zu läuten begann.
Und danach der von nichts und niemand mehr zu fassende Pilgerstrom, 24
Stunden Wartezeit für 30 Sekunden an der Totenbahre. Was war das?
II.
Kein Wunder, wenn eingefleischten Agnostikern bei all
dem unbehaglich geworden wäre: So übermächtig also die Una, sancta
catholica? Doch nein, kein Grund zur Sorge! Da hat keine heimliche
Weltmacht ihr Potential demonstriert. Niemand hat diesen Abschied vom
Papst organisiert, niemand hat die Leute zu etwas aufgefordert. Die
Menschen kamen von selbst. Ob es einem in den theologischen Kram passt
oder nicht: Da hat sich der sensus fidelium ausgesprochen, das
Glaubensbewusstsein des Volkes Gottes und offenkundig darüber hinaus
vieler, die das teilen wollten – jener Glaubenssinn, von dem die
Konservativen meist nichts wissen wollen, weil er anderes wollen könnte
als die Autorität, und den die Progressiven beschwören, dass er anderes
wollen solle als die Autorität. Aber der Glaubenssinn lässt sich nicht
gängeln. Nie. Auch im Alltag der Kirche nicht. Nur ist das jetzt beim
Tod des Papstes so sichtbar geworden wie nie zuvor – an dem Hauch von
Anarchie über der geordneten Dichte der Massen, die für sich schier ein
Wunder war.
III.
Weil dieser Glaubenssinn eine durchaus nüchterne
Angelegenheit ist und nichts mit Sentimentalität zu tun hat, kann man
auch fragen, was an der Gestalt des Papstes ihn dazu brachte, sich so
zu äußern. Ich glaube, es war sein persönliches Programm. Und dieses
Programm hieß schlicht: Inkarnation – ganz wörtlich übersetzt:
Einfleischung. Der Papst hat seiner Botschaft und seinem Amt auf
erstpersönliche Weise Gestalt und Gesicht, menschliche Gestalt und
menschliches Gesicht gegeben von Anfang seines Pontifikats bis zum
öffentlichen Verstummen am Ostermontag Mittag. Das hat Menschen
erreicht, das haben sie verstanden, das hat sie berührt. Das hat sie
das Krumme, das es da auch gab in Verlautbarungen manchmal, und das
Theologen und Theologinnen stöhnen ließen, - dieses Krumme haben viele
gerade sein lassen. Weil sie spürten, wie alles, auch das
Unverständliche noch, aus der Geradheit seiner eigenen, oft erlittenen,
Erfahrung und Überzeugung hervorwuchs.
Dieses Programm JP II, wie es die Insider nannten, war ein Drahtseilakt sondergleichen vom ersten Augenblick an. Und nur von ihm her wird aus den späteren Jahren und aus der Endphase manches verständlich, was erratisch querstand zum Lebensgefühl zumindest der nördlichen Spätmodernen. Denn das Programm Einfleischung wurzelte natürlich in einer Identifikation mit dem, wofür sein lateinischer Name zuerst steht: mit der Christusgestalt, dem Menschgewordenen. Und die wiederum hat ihre Mitte in etwas, was wir heute vielleicht besser und leichter verstehen als manche Generation davor: Diese Mitte der Inkarnation heißt in unserer modernen Sprache: The Medium is the message. Das Medium ist die Botschaft. Theologisch gewendet: Was Jesus sagte, was er tat, was er litt, wie er war – so ist Gott. Ein Mensch als Gleichnis Gottes aus Fleisch und Blut. So offenbart Gott sein Innerstes. Und Johannes Paul konnte sich seinen priesterlichen und apostolischen Dienst nie anders vorstellen als seinerseits Gleichnis, sozusagen Gleichnis zweiter Hand des Urgleichnisses Jesus Christus zu sein.
Diese vermittelte Unmittelbarkeit von Amt und Person mitten quer durch alles Zeremonielle hindurch, das hat Menschen so in Bann geschlagen. Das war der Charme, von dem auch Atheisten schwärmen konnten. Aber dieser Anspruch hatte auch etwas Überforderndes. Der Heilige Vater war immer eilig. Und das war nicht bloß eine Sottise der Journalisten, die auf Dutzenden der Reisen dem Papst erschöpft nachhechelten, der über nicht endende Kraftreserven zu verfügen schien. Die Botschaft – eins zu eins und erstpersönlich übersetzt – musste ausgerichtet werden. Überall und allen und wann, wenn nicht jetzt! Die gütige Landpfarrergeduld, gepaart mit Don Camilloeskem Hintersinn, eines Johannes XXIII., das bohrende Zögernd-Nachdenkliche eines Paul VI., der neben der Bibel und dem Brevier einzig die Werke Jean Paul Sartres auf dem Schreibtisch stehen hatte, - das alles war Johannes Paul II. fremd. Für so etwas war keine Zeit. Der letzte Papst war Apokalyptiker, je später je mehr.
In den letzten zehn Jahren wendete sich ihm das Bild der Welt ins Tragische: ein Schlachthaus die ganze Geschichte, namentlich im Jahrhundert der großen Ideologien, statt der Kultur des Lebens und der Zivilisation der Liebe, die doch Menschen eigentlich allein wollen können und die Gott ihnen zugedacht hat. Im letzten Buch des Papstes, konzipiert vor 10 Jahren in Gesprächen und danach ausgefaltet, erschienen vor wenigen Wochen, „Erinnerung und Identität“ betitelt, sein philosophisches Vermächtnis, wie es ausdrücklich im Vorwort heißt, - in dem Buch steht das das schwarz auf weiß, ein rabenschwarzes Bild von Geschichte und aufgeklärter Menschenvernunft, dem aber die Vorsehung nicht das letzte Wort lässt. Denn – aber auch nur – die mystische Einheit mit dem leidenden, sterbenden Herrn, der mit seinen Wunden der Auferstandene wird, kann dem noch wehren und das Böse besiegen. In diesem Sinn war Johannes Paul Romantiker, nicht nur in seinen Gedichten, sondern theologisch: Er hat der sich verschwendenden, sich hingebenden Liebe zugetraut, in übernatürlicher Kraft den Abgrund des Bösen zu verschließen. Darum auch hat er vor nichts und niemand Angst gehabt.
IV.
Aus der Dringlichkeit seiner persönlich genommenen
Mission erklärt sich auch, was selbst wohlwollende Kommentatoren schon
zu Lebzeiten immer wieder als den Widerspruch zwischen Außenwirkung und
Innenpolitik an diesem Pontifikat monierten. Das war nicht gewollt und
da war nichts aus Gedankenlosigkeit versäumt: Aber der Papst hatte
wegen der Dringlichkeit seiner Mission einfach keine Zeit für die
Kirche. Da war er wie die meisten, die in denen das Feuer eines
Charismas brennt: Strukturen haben ihn nicht interessiert. Und wenn sie
ihr Recht einforderten oder sich gar störend bemerkbar machten, hat er
sie weg geschoben oder mit einem Machtwort stillzustellen gesucht.
Statt dessen immer auf Du und Du mit allem und allen, im Grunde mit der
ganzen Welt. Dass interessierte Berater oder scheinbare
Geistesgeschwister, denen es in Wahrheit um ganz anderes – nämlich sie
selbst - ging, dann leichtes Spiel hatten, wird niemanden wundern. Das
war das Betriebsgeheimnis der Bischöfe, die durch das Frühstückszimmer
kamen – und jedes Mal gings schief. Aber ein Charismatiker wird nie auf
die Idee kommen, die Leidenschaft, die er bei einem andern spürt,
könnte nicht so lauter sein wie die, die ihn selbst beseelt.
Man muss Johannes Paul II. wegen dieser Kluft zwischen der Wirkung nach außen und den bitteren Einbrüchen im Innern nicht gleich zur tragischen Gestalt erklären. Aber dass da eine Hinterlassenschaft wartet, für die eine Schulter zu klein ist, werden wenige bestreiten. Manchmal habe ich mir gedacht, in all dem komme etwas von dem zum Ausdruck, was der amtstheologisch nun gewiss unverdächtige Hans Urs von Balthasar gesehen hat, als er einmal meinte, nur im beständigen Gedemütigt werden des Amtes durch sein Haupt Christus und im Bewusstsein einer immer neu vollzogenen Absolution sei das Hierarchische christlich überhaupt zu ertragen.
V.
Aber all das – die ganze Last des Amtes und das
Scheiternde – war und blieb für Johannes Paul zweitrangig vor dem, was
ihn zuinnerst trieb. Schon in seiner Antrittspredigt am 22. 10. 1978
hatte er sein Programm auf den Nenner gebracht. Der letzte Satz hieß
damals: „[E] con quale venerazione l’ apostolo de Cristo deve
pronunciare questa parola: uomo!“ [Und mit welcher Ehrfurcht muss der
Apostel Christi dieses Wort aussprechen: Mensch!]. Das war eine
anthropologische Wende der Theologie in petrinischem Vollzug. In den
Dienst dieser Maxime hat Johannes Paul nicht nur sein Lehren und
Predigen gestellt über das Leben von seinem Beginn bis zum irdischen
Ende gestellt. Er hat sein eigenes Leben, gerade in den späten Jahren
seiner Gebrechen und der letzten Phase seines Verlöschens selbst zur
Predigt vom Leben gemacht. Unbeirrt von der Verhübschungswut der
Popkulturen mit ihrer Anbetung des schönen Scheins hat er darauf
gesetzt, dass zur Wahrheit des Menschen auch der sermo humilis gehört,
wie die mittelalterlichen Prediger sagten, die Rede vom Kleinen,
Zerbrochenem und Erlittenem, die dem Menschen nichts von seiner Würde
nimmt, weil die deformitas Christi, die Gestalt des Ecce Homo, in die
Mitte der Gleichnishaftigkeit Christi für Gott selber gehört.
Dieser inkarnatorischen Predigt hatte sich Johannes Paul durch und durch verschrieben. Es war eine Predigt der Kenosis, der Entleerung von allem, was wie Macht und Pracht aussieht. Und sie traf ihre Adressaten umso mehr, als sie vor dem Goldgrund des Petrusamtes geschah. Vollendet hat sie sich letzten Freitag Mittag im Bild einer schmucklosen Holzkiste mit dem Halleluia darüber, das das Wehen des Windes forttrug. Diese Predigt war wichtiger als die 14 Enzykliken, wichtiger als die Katechesen und Ansprachen, die sich im Regal bei ihm nach Metern bemessen. Menschen weit über die Grenzen der Kirche hinaus haben ihm diese Predigt abgenommen, viele, die noch jung sind, ganz besonders. Sie haben verstanden, wie der verstummende Papst auf jenen Raum deutete, aus dem das Wort kommt so, dass es uns angeht und das uns gleichwohl nicht gehört, weil es Gottes Wort ist, das Wort lautlos in des Menschen Herz gesprochen seit Anbeginn.
Aus dem Gedenken an diesen demütigen Prediger und aus seiner Bitte um unser Gebet aus seinem Testament, dass die Barmherzigkeit Gottes sich größer erweisen möge als seine Schwächen und Unwürdigkeiten, wächst dieser Tage der Dank der Kirche, dass sie Johannes Paul gehabt hat. Die Mitte seiner Predigt hat er selbst in dem Psalmvers ausgedrückt gefunden, der auch im Testament steht: Apud Dominum misericordia et copiosa apud Eum redemptio, beim Herrn ist Barmherzigkeit und reiche Erlösung. Diese Zusage vor Augen, kann die Kirche dem entgegen gehen, was die Zukunft bringen wird.