Durch Hören eingewurzelt
Predigt zur Diplom-Feier im WS 2005/06: Weish 6,22; 7,22-8,1 - 1 Kor 12,4-11 - Joh 15,1-8
I.
Sie feiern heute den Abschluss Ihres Studiums. Zusammen mit Ihren Familien, Freunden, Partnerinnen und Partnern und den Lehrenden unserer Fakultät freuen Sie sich, einen Abschnitt Ihres Lebens zum Abschluss gebracht zu haben. Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Diplom.
II.
Aber machen Sie sich keine Illusionen. In Wahrheit ist das kein Abschluss für Sie. Heute geht’s erst los. Das kann bisweilen humoreske Züge haben, bisweilen dramatische. Manchmal werden Sie einfach hilflos sein. Ich denke an meine eigenen Anfänge als Kaplan zurück: Da hat man ein Diplom gemacht und ein Lizentiat und eine Promotion – und erlebt dann, dass die Wirklichkeit tatsächlich anders ist als die Realität, wie ein verflossener Bundeskanzler zu sagen pflegte. Meine erste Taufe: Alles läuft wie am Schnürchen. Bis zur Predigt. Da mischt sich der Täufling ein. Ich wurde lauter. Er auch. Am Ende 1:0 für ihn. – Die erste Trauung: Der Bräutigam groß und hager, die Braut gut zweieinhalb Köpfe kleiner, sehr kernig. Pisa war noch ein Fremdwort, aber die Wirklichkeit gab’s schon. Jedenfalls sagte er zuerst auf meine Frage nach der Treue usw. nicht "ja", sondern "mhm", und dann fiel ihm bei der Überreichung der Ringe der Name seiner Liebsten nicht mehr ein. Und mein erstes Begräbnis: Der Sarg stand auf einmal fast senkrecht in der Grube, weil einer der Bestatter aufgrund von Vollrausch seiner Dienstpflicht nur bedingt nachzukommen wußte. Lieber Gott! Und dann die wirklich schlimmen Sachen: Der 16jährige, der ertrinkt, und seine Großmutter stürzt sich beim Begräbnis auf den Sarg, kann den Enkel einfach nicht loslassen. Was habe ich in den Monaten danach Zeit für die Frau gebraucht! Oder jemand anderes, 32 Jahre alt, zwei kleine Kinder, findet eines morgens den geliebten Mann tot neben sich im Bett. Und dann all die Tragödien von Liebe und Leben, die mir in meinen sechs Jahren als Gefängnispfarrer begegnet sind. Sie haben mein theologisches Denken buchstäblich auf den Kopf gestellt und manchmal zu Sachen genötigt, für die mich ein engherziger Bischof wohl abgestraft hätte. Wer von Ihnen das Theologin- oder Theologesein, das Sie gelernt haben und heute auch amtlich bestätigt bekommen, ernstnimmt, wird sich sehr wundern. Die Leute, für die Sie da sein werden, wollen immer sofort alles. Sie gelten ab der ersten Stunde Ihres Dienstes, egal wo, als Fachfrauen und Fachmänner in Gottes Sache und manchmal für noch mehr. Und die Leute haben im Grunde völlig Recht. Oder hätten Sie Verständnis, wenn Ihr Zahnarzt Ihnen beim ersten Besuch sagte: Schön dass Sie zu mir kommen, aber ich muss bei der jetzt anstehenden Wurzelbehandlung noch ein bißchen üben an Ihnen? Sie bringen dorthin, wo Sie jetzt arbeiten werden, von der ersten Stunde an Kompetenzerwartung mit.
III.
Natürlich haben Sie diese Kompetenz in den zurückliegenden Semestern in Lehrveranstaltungen, durch Lektüre und schließlich mit Ihrer Diplomarbeit erworben. Genauso werden Sie diese Kompetenz künftighin – solange Sie ihrer bedürfen – auf mehrfältige Weise lebendig halten müssen: durch sensibles Beobachten dessen, was um sie herum geschieht, durch Austausch, Fortbildung und viel Lesen. Aber es kommt noch etwas hinzu, gleichsam die Basispflege für das Ganze. Genau davon ist im Evangelium die Rede, das Sie sich für heute ausgewählt haben: Es ist das Gleichnis vom Weinstock und den Reben, ein Hörbild, bei dem wir manchmal vielleicht aus vermeintlicher Vertrautheit übersehen, dass es eigentlich von etwas geradezu Intimen spricht, diesem Zusammengewachsensein mit Jesus, ohne dass jemand keine Frucht tragen kann. „Spiritualität“ heißt das nüchterne Sachwort dafür. Das Bleiben in Jesus, für das das Sinnbild von Weinstock und Rebzweig steht, verwirklicht sich darin, dass sein Wort in uns bleibt, sagt der johanneische Christus. Worte kommen in uns und bleiben in uns, indem wir auf sie hören. Der Grundakt des Christseins ist das Hören auf das Wort, in dem Gott sich ausspricht. Nur wenn Sie das nie vergessen, können Sie dem treu bleiben, was sich unter dem Namen Theo-Logie verbirgt. Sie wissen ja: Theo-Logie ist primär ein transitives Wort und heißt darum zu allererst: Gott redet. Dann heißt es: Mit Gott reden, also beten. Und dann: Sprechen über Gott und seine Sache. Wenn Gott redet, kann er nur zu Herzen reden. Ein Herz hat keine Ohren. Trotzdem ist es das Herz – gemeint ist: die Existenzmitte eines Menschen – das Organ, mit dem er allein den Zuspruch und Anspruch dessen, den wir Gott nennen, zu vernehmen vermag. Den Zuspruch, in dem dieser Gott sich selbst mitteilt. Und den Anspruch, der mit diesem Zuspruch gewiss einhergeht. Gottes lautlos in unser Herz gesprochenes Wort ist sozusagen der Gründungsakt aller Theologie. Aber Gott doziert uns nicht von außen an, sondern er schenkt das Hören selber dazu. Potentia oboedientialis sagten die Theologen vom Barockscholastiker Franzesco Suarez bis zu Karl Rahner im 20. Jahrhundert dafür. Und sie meinten damit: Der Mensch hat von seinem Innersten her die Fähigkeit zum Hinhören, wenn ihm Gott etwas zu sagen hat. Sein eigenes Dasein mit seiner Endlichkeit, mit Haut und Haar, Leib und Leben wird ihm zur Grammatik für ein vorsichtiges, so unbeholfenes wie poetisches Reden über das unbegreifliche Geheimnis des eigenen Lebens, ohne dass man von diesem Leben überhaupt nichts mehr verstünde. Et hoc omnes dicunt Deum, sagte mein Hausheiliger, Thomas von Aquin jedesmal am Ende der Argumentationsgänge, die man sehr missverständlich Gottesbeweise nennt: Und das, dieses Geheimnis hinter allem, das doch so ungeheuer nahe ist, dass es an der Wiege eines neugeborenen Menschenjungen, an Tisch und Bett von Liebenden, an Krankenlagern und dann einmal an der Bahre wie von selber im Raum steht, das nennen wir Gott.
IV.
Von diesem Geheimnis so Zeugnis zu geben, dass Sie die Menschen, die Frommen und religiös Unmusikalischen verstehen, das wird Ihre künftige Aufgabe sein. Schön. Freuen Sie sich darauf, auch wenn es anstrengend werden kann. Das Tröstliche dabei: Sie müssen nirgends beim Nullpunkt anfangen, denn so, wie Gott schon immer sein Wort Ihnen ins Herz gesprochen hat, genauso waltet er mit seiner verborgenen Gegenwart schon seit je in allem, was ist. Seine Weisheit nennt das unsere alttestamentliche Lesung, dieses Einwohnen des Unbegreiflichen in der Welt, das nur darauf wartet, sein Echo in Ihren Gnadengaben zu finden, damit dadurch Menschen Sinn und Herz für das aufgeht, was Gott für sie übrig hat. In der Vielgestalt dieser ihrer Charismen, wie Paulus das in seinen Briefen nennt, haben Sie als Theologinnen und Theologen dieser manchmal verrückten Welt, die über weite Strecken nur noch in den Kategorien von beauty und shareholder-value denkt und dabei auch noch gut mehr als ein Drittel der Erdenbewohner von allem, was passiert, ausschließt, das Wichtigste zu sagen, das es zu sagen gibt: dass ein Mensch jenseits von allem, was er kann und hat und leistet, etwas Einmaliges ist. Weil Gott ihn lieb hat. Das ist ja jener Kern der christlichen Botschaft, den wir unter dem Sinnbild der Menschwerdung Gottes feiern und der alles Religiöse, was es sonst noch gibt, unbeschadet all seiner kostbaren Perlen durch seine Kühnheit und Radikalität in den Schatten stellt – ein Kelsos in der Spätantike, ein Nietzsche im vorletzten Jahrhundert, ein Emile Cioran in unseren Tagen haben das genau gespürt. Dass die und der Einzelne, diese überflüssigen Würmer, etwas Einmaliges sind und dass sich in eben diesem Medium Mensch Gottes Geheimnis spiegelt – dieses Ineinander von Himmel und Erde zu begreifen und dann für andere zu vergegenwärtigen und glaubhaft zu machen, dazu haben wir Lehrende der Fakultät Sie anzuleiten gesucht. Jetzt sind Sie selber an der Reihe. Alles Gute dabei!