Creatura verbi

5. Fastensonntag: Ez 37,12b-14 + Joh 11,1-45


I.
Es ist erst wenige Jahrzehnte her, dass Philosophen eine verblüffende Entdeckung gemacht haben – an sich etwas, das schon lange bekannt, aber nie wirklich bedacht war: Unsere Sprache kennt Sätze, mit denen hat es Besonderes auf sich. Mit ihnen beschreiben wir nicht, sondern handeln wir. Die Sätze oder manchmal nur Wörter bewirken, was sie sagen, in dem Augenblick, da sie jemand ausspricht. - „Ich liebe dich“ macht den oder die glücklich, dem es gilt, weil es ihm als Wirklichkeit schenkt, was das Wort „Liebe meint“ - „Sei mir nicht bös, es tut mir leid!“ Damit entschuldigen wir uns, weil die gesprochenen Worte wahr machen, was sie bedeuten. – „Du Trottel“ beleidigt den Titulierten.“ – „Ich hasse dich“, erschreckt den, dem es gilt, weil es das Wort selber vergegenwärtigt, was es sagt.

II.
Solche mächtigen Wörter gibt es auch in der Sprache des Glaubens. Z.B. wird jemand dadurch getauft, dass ein anderer ihm den Kopf mit Wasser übergießt und dabei spricht: Ich taufe dich... - Im heutigen Evangelium kommen auch solche mächtigen Wörter vor. Wörter, die die Mitte unseres Glaubens ausmachen. An ihnen hängt darum, was wir bald an Ostern feiern werden. Was sind das für Wörter?

III.
Jesu Freund Lazarus, so hören wir, ist krank. Krankheit signalisiert in der Bibel immer Todesnähe. Umso seltsamer, wie Jesus auf die Nachricht der beiden Schwestern des Lazarus reagiert: dass er nicht sofort aufbricht, sondern noch zwei Tage dort bleibt, wo er gerade weilt. Was uns da menschlich gesehen irritiert, ist so etwas wie ein Stolperstein, den Johannes gelegt hat, um uns zu helfen, die Ge-schichte richtig zu verstehen.

Der Weg zu Lazarus führt Jesus durch Judäa, also jene Orte, wo man ihn nach der Erzählung des Evangelisten kurz vorher hatte steinigen wollen. Jesus betritt also Feindesland. Freilich - die, die Jesus wegen seiner Predigt von Gott und seinem Reich beseitigen wollten, sind seine Feinde in einem nur äußerlichen Sinn. Sie sind Handlanger eines anderen. Denn der wirkliche Feind sitzt anderswo. Er thront im Grab des Lazarus, der mittlerweile gestorben ist. Der verwesende Leichnam ist sein Bild. Er - der Tod, der uns bekümmert und ängstigt - ist der eigentliche Feind, auf den Jesus zugeht.

Die eine der Schwestern - Marta - eilt dem Herrn entgegen, als er sich nähert. Sie begegnet ihm voller Vertrauen, obwohl ihr Bruder gestorben ist. Und im Gespräch zwischen ihr und Jesus fallen die mächtigen Wörter, die selber sind, was sie sagen. Als Marta ihren Glauben bekundet, dass ihr Bruder einmal am letzten Tage auferstehen werde, da hält ihr Jesus entgegen: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Leben heißt: da sein dürfen und Bestand haben. Ich bin das Leben, sagt der Herr. Das meint: Er in Person verkörpert das. Und dieses Lebendigsein, das er verkörpert, ist unbegrenzt, nicht einmal das menschliche Sterben zerstört es - das meint Auferstehung. Und der Herr fügt hinzu: Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben.

Damit tut er etwas ganz Seltsames: Er gibt den Worten Tod und Leben einen neuen Sinn: Leben heißt da nicht mehr: auf Erden existieren und nicht begraben sein, sondern durch den Glauben mit Jesus in Gemeinschaft stehen - und das heißt: Gott so ganz zu trauen, wie er. Und Tod heißt nicht mehr: im Sarg liegen, sondern: außerhalb solchen Gottvertrauens seiner Existenz Boden unter die Füßen zu bringen suchen. Das ist die Grenze, die Jesus zwischen Tod und Leben zieht - eine Grenze vollständig quer zu der von uns gewöhnlich behaupteten. Denn wem wollte so einfach einleuchten, dass einer, der auf dem Friedhof liegt, lebendiger sein sollte als ein anderer, der uns auf der Straße begegnen mag?

Und doch ist es so. Weil genau hier, mitten in der Lazarusgeschichte Ostern beginnt. Beginnt mit einer Revolution der Sprache im Munde Jesu. Er stellt unsere Menschenwörter auf den Kopf. Und dann fragt er Marta und mit ihr zusammen auch uns: Glaubst du das? Traust du diesen neuen Worten? Doch: Dürfen wir einem trauen, der einfach Wörter ändert? Kann das nicht jeder?

IV.
Ein Ereignis im Leben gibt es, das darüber Klarheit schafft: das Kreuz. Denn Jesus selber erlebte - wie er wirklich Mensch war - keine größere Anfechtung für seine Revolution als das eigene Sterben müssen. Aber selbst beim Sturz in diesen Abgrund des Todes verzweifelte er nicht an Gott. Sondern er schrie zu Gott, weil er vertraute, dass dieser Gott, dem er sich verdankte, auch in diesem irdischen Ende ihm noch einmal und erst Bestand, also Leben geben wird.

Dieser Glaube Jesu ist so etwas wie der Stoff, aus dem die Oster-botschaft gewebt ist. Die Fasern dieses Stoffes – um im Bild zu blei-ben – reichen weit zurück: Bis in die Zeit, aus der unsere erste Lesung stammt, die Zeit also des babylonischen Exils. Da war Israel so gut wie tot gewesen, hatte Hoffnung und Zukunft verloren, fühlte sich in auswegloser Bedrängnis und Beklemmung, lebendig begraben, wie man so sagt. Und genau in dieser niederschmetternde Situation spricht der Prophet Ezechiel seine Vision vom gräberöffnenden Gott, der den bleichen Gebeinen seinen Geist einhaucht, also die entscheidende Geste aus der Schöpfungsgeschichte wiederholt, damit seine Geschöpfe leben. Die Vision, von vielen Künstlern aufs Dramatischste in Szene gesetzt, versinnbildet, was biblisch Glaube heißt: dass, wenn denn etwas daran ist an diesem Gott und dass er sich seine Geschöpfe aufs Herz geschrieben hat, nicht und niemand sie ihm entreißen wird, nicht einmal das schiere Nichts, weil, wenn Gott Gott ist, er alles vom kleinsten Sandkorn bis zum Gestirn hinauf in seinen Händen hält – und dass niemals mehr nicht sein kann, was er - dieser Treue, der zu seinem Worte steht – je ins Dasein rief. Denn selbst von dem, was einmal vergeht, weil es endlich ist, gilt unwiderruflich und für immer, dass es einmal gewesen sein wird und darum, weil es aus der Hand des unvergänglichen Gottes her-vorging, unauslöschlich in diese Hand geschrieben bleibt.

Solches Gottvertrauen erlöst von der Angst vor der Vergänglichkeit unseres Daseins. Es eröffnet ein Einverständnis mit dem eigenen Ende, das stark genug ist, jenem Sog zum Egoismus, zum Bösen zu widerstehen, der unentrinnbar in Kraft treten muss, wo immer einer sich diesseits des Gottvertrauens sich seines Daseins zu vergewissern sucht. Jesus hat mit seinem am Kreuz durchgehaltenen Vertrauen wieder die Brücke der Versöhnung zu Gott geschlagen, damit wir sie im Blick auf ihn beschreiten. Darum kann er sagen: Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt... Er deckt die neuen Wörter, die mächtigen, die er da spricht, mit dem ganzen Gewicht seines eigenen Geschicks. Darum kann nach diesen Worten des Herrn von seinem Freund Lazarus, also einem, der mit ihm in Gemeinschaft steht, nur noch als von einem Lebenden die Rede sein, obwohl er schon vier Tage im Grab liegt. Jesus selbst hat sich und die frühen Gemeinden haben ihn von Anfang an als eine menschengestaltige Auslegung der Prophetenbücher verstanden: Was sie von Gott verhießen, bekommt in ihm buchstäblich Hand und Fuß. Die scheinbar so rätselhafte Lazarusgeschichte ist darum nichts anderes als die existentielle Übersetzung, man könnte auch sagen: welthaft gewordene Metapher des gräberöffenden Schöpfer-gottes, den Ezechiel ahnen durfte.

Löst ihm die Binden und lasst ihn weggehen, sagt Jesus darum am Ende der Lazarusgeschichte - will heißen an die Adresse der noch Lebenden: Fesselt ihn nicht mehr mit euren selbstgemachten Begriffen von Tod und Leben, glaubt ihn als Lebenden dort, wo er für im-mer aufgehoben ist, in Gottes Hand. Ich stehe dafür ein. Glaubst du das?

V.
Daran, dass wir ihm glauben, hängen Tod oder Leben im Sinn des Evangeliums. Mit der Frage: Glaubst du das? legt der Herr uns allen den Schlüssel in die Hände zu der Tür, die aus den Gräbern führt, die wir uns zumeist selber graben dadurch, dass wir die Wörter Tod und Leben falsch verstehen. Wenn wir das Ja des Glaubens sprechen, öffnen wir diese Tür mit der Kraft, die uns aus dem Gottver-trauen kommt. Wir sind von Wesen creatura verbi, Geschöpf von Gottes lebensgesättigtem Wort, das zu uns sagt: Ich will, dass Du bist. Und unser Ja zu diesem unseren Wesen ist das  mächtige Wort in unserem Mund, das Jesu neue Wörter über uns mächtig werden lässt. Wenn wir jetzt das Glaubensbekenntnis beten, sprechen wir es miteinander.