Sakrament des Bleibens
Ostermontag: Lk 24,13-35
I.
Gestern
Nacht haben wir das Hochfest unseres Glaubens gefeiert. Heute und die
nächsten Wochen schwingt das Begangene nach, faltet sich aus in
heiliger Zeit. Wir brauchen das, um des Gefeierten inne zu werden. Das
ist nichts Neues. Ostern versteht sich nicht von selbst. Man braucht
Zeit dafür. Das war schon bei den Freundinnen und Freunden Jesu so. Das
heutige Evangelium erzählt genau davon.
II.
Da sind zwei der Seinen unterwegs nach Emmaus,
vermutlich ihr Zuhause. Sie lassen noch einmal in Worten revue
passieren, was die letzten Tage gewesen ist, vom Gründonnerstag abend
bis zum Karsamstag. Und auch das Zeugnis der Frauen vom Ostermorgen.
Anfangen können sie mit all dem nichts. Daran ändert zunächst auch der
seltsame Fremde nichts, der sich ihnen zugesellt und sie darüber
belehrt, dass sie all das, was ihnen jetzt wie ein Rätsel vorkommt, auf
Strich und Komma im Buch ihres Glaubens entschlüsselt finden können.
Sie haben nicht noch nicht den Blick dafür. Den Blick für das
Wesentliche und darum Wahre. Denn um genau das geht es ja.
III.
Diesen Blick zu gewinnen, ist manchmal gar nicht so
leicht. Auch schon im Menschlichen. Fjodor Dostojewskij war schon
längst einer der ganz Großen in der Welt der Dichter geworden. Aber
immer mehr übersah er dabei die alltäglichen Kümmernisse und Sorgen,
die seine Familie betrafen. Seine Frau suchte, die Bedürfnisse der
großen Familie zu meistern und zugleich die Genialität des Ehemannes zu
ertragen. Dostojewskij merkte davon schier nichts. Darum verfiel Anna
Grigorevna so hieß seine Frau auf eine List. Wie eine Bäuerin
schlug sie sich ein Tuch über Kopf und Schultern und kauerte sich,
gleich um die Ecke, wo Dostojewskij täglich vorbeikam, auf den Boden
und streckte gesenkten Gesichts die Hand aus, wie die Bettlerinnen es
zu tun pflegten. Prompt kam Dostojewskij. Und er tat, was er seinem
überzeugten Christenglauben nach einzig tun musste: Er legte ein paar
Kopeken in die Hand der Bettlerin und übersah, dass die, der er da
seine Barmherzigkeit erwies, seine eigene Frau war.
IV.
Ganz ähnlich verhält es sich bei den Emmaus Jüngern.
Sie haben zuerst ihre Gedanken bei dem, was eben geschehen war und
begreifen nichts. Dann lenkt sie der Fremde von unterwegs auf die Worte
der Heiligen Schrift. Und sie begreifen immer noch nicht. Doch hätte da
bei ihnen eigentlich schon der Groschen fallen müssen. Ausgehend von
Mose und den Propheten legt er ihnen den Sinn des Schicksals Jesu aus
will sagen: Er macht ihnen klar, dass, wer den Gottesgeschichten von
den ersten Seiten der Bibel an auch nur einen Funken Glaubwürdigkeit
zutraut, diesen Jesus nicht für tot halten kann.
Da ist doch schon im Buch Genesis von einem Gott die Rede, der selbst denen fürsorglich zugetan bleibt, die sich von ihm abgewandt haben: Denken Sie an die Szene, wie der Schöpfer Adam und Eva Röcke aus Fellen macht, nachdem sie den Schutz der Gottgeborgenheit durch ihr Misstrauen verloren hatten und sich darum aus dem Paradies vertrieben erfuhren. Oder wie Gott selbst den Mörder Kain durch das Mal, das er ihm auf die Stirn zeichnet, davor schützt, das gleiche Schicksal zu erleiden, das der seinem Bruder angetan hatte. Oder die Rettung der Noachsippe über die Flut hinweg. Und dann das durch nichts zu enttäuschende Ringen dieses Gottes um sein Volk angefangen von Abraham, und nicht zu beirren durch das Murren auf dem Weg ins gelobte Land heraus aus der ägyptischen Knechtschaft, nicht zu beirren durch das goldene Kalb, später durch die politischen Kungeleien, die ins babylonische Exil mündeten, nicht zu beirren durch das immer wieder von den Propheten angeklagte Schuldigbleiben der Barmherzigkeit gerade den Kleinen und Schwachen gegenüber, in der sich nichts anderes als Untreue gegenüber dem Gott kundtut, der das kleine Israel nie vergessen hat. Und immer und immer wieder dieses gerade Schreiben auf krummen Zeilen bis in den Stammbaum Jesu hinein.
Und der Gott, der so ist, wird den hängen lassen, der sich ihm mit Leib und Leben so verschrieben hat, wie dieser Jesus das tat? Das ist das Zeugnis der Schrift. Und dass, der an diesen Gott unbeirrt erinnert, als Störenfried empfunden und entsprechend behandelt werden wird bis zu seiner schieren Vernichtung das ist auch schon Zeugnis der Schrift an den Stellen, an denen der Prophet Jesaja vom leidenden Gottesknecht redet. Das aber ist ein Zeugnis, dass das erste Zeugnis nicht widerlegt, sondern bestätigt: Am Gerechten, der für seine Botschaft von diesem Gott sein Leben lässt, wird offenbar werden, dass Gott wirklich so ist, wie die ganze Schrift sagt: Eben der Treue, dem nicht einmal der Tod Paroli bieten kann. Darum musste der, der wie kein anderer zuvor unter Menschen für diesen Gott stand und sein Gleichnis war, erleiden, was er erlitt, um in seine Herrlichkeit zu gelangen, wie das Evangelium sagt die Herrlichkeit, die darin besteht, dass an ihm, an seinem Schicksal, eben diese Unbedingtheit der Treue Gottes offenbar wird, die genau darin besteht, dass sie sich als mächtiger erweist als das Unbedingteste in der Welt, also der Tod.
V.
Aber die Emmaus Jünger: nichts begriffen. Wie blind
sind sie für die Logik dieser Geschichte Gottes mit den Menschen, die
doch so punktgenau darauf hinausläuft, dass wenn es den Gott, von dem
da die Rede ist, wirklich gibt , dass dann alles, nicht nur das Leben,
sondern auch das Sterben ein Vorletztes ist, und ihm, diesem Gott das
letzte Wort bleibt und darum der, der so untrennbar zu ihm gehört wie
dieser Jesus gar nicht tot sein kann. Dennoch: Mit allem vertraut.
Buchstäblich Auge in Auge mit der Wahrheit. Und doch nichts begriffen.
Wie Dostojewskij.
VI.
Und dann die Szene in der Bleibe unterwegs. Er bricht
das Brot. Da gehen ihnen die Augen auf und im gleichen Augenblick
sahen sie ihn nicht mehr. Die Szene ist so dicht, dass man sie Zug um
Zug entfalten muss. Klar natürlich, dass das Erkennungszeichen, das
Brotbrechen auf das Abendmahl anspielt. Und Abendmahl ist nichts
anderes als das Inbild dessen, was Liebe meint – so sehr, dass
ausgerechnet Johannes, der sozusagen theologischste der vier
Evangelisten, auf die Einsetzungsszene mit dem Brot und dem Kelchwort
verzichtet und stattdessen nur die Fußwaschung erzählt, wie wir am
Gründonnerstag Abend gehört haben. Was heißt „nur"! Die Fußwaschung,
das Füreinander Dienst tun ist ja die Mitte, die Substanz der
Eucharistie, ihr Wesentliches Liebe eben. Und jedes Feiern dieser
Eucharistie, der Messe, ist Erinnerung, Verlebendigung,
Vergegenwärtigung dessen, auf dass die Liebe wirklich werde und stark.
Eucharistie ist eine Monstranz der Liebe, ihr Sichtbarmachen und
Bezeugen.
Unser Emmausevangelium bindet darum die Erfahrung der selbst den Tod besiegenden Treue Gottes also Ostern an das Tun der Liebe und sagt damit: Wo Menschen füreinander da sind bis zum niedersten Dienst, werden sie einander zum Gleichnis der Unvergänglichkeit, die aus Gottes Treue kommt. Darum ist die Eucharistie als Inbild der Liebe ein Sakrament des Bleibens. Des Bleibens Gottes bei uns, auch im buchstäblich letzten Ende. Wo geliebt wird, geschieht Österliches. Dass die Emmausjünger in dem Augenblick, da sie in dem Unbekannten den Auferstandenen erkannten, ihn nicht mehr sahen, bringt genau dieses Gleichnishafte zum Ausdruck. Man kann Ostern so wenig festhalten wie Liebe. Und doch ist es so wirklich, wie diese die Liebe wirklich ist. Getane Liebe weiß darum, dass Ostern wahr ist. Gerade so, wie es der französische Philosophie Gabriel Marcel nach dem Tod seiner Frau ins Tagebuch schrieb: Jemanden lieben heißt ihm sagen: Du wirst nicht sterben. Jedes Mal, wenn wir Messe feiern, vergewissern wir uns dieser Wahrheit. Wie jetzt.