Christliche Bilanz
Christkönig: Mt 25,31-46
I.
Ein Reisender aus Europa war in den Anden unterwegs. Auf einem steilen Bergpfad begegnete ihm ein etwa zehnjähriges Mädchen, das schwer beladen bergauf stieg. Meine Güte, was schleppst du denn da für einen Packen Last, ruft der Fremde. Das Mädchen hält fragend inne, schlägt die Decke über dem Bündel auf seinen Schultern zurück und sagt: Ich trage doch keine Last, ich trage meinen Bruder!
II.
Natürlich war das jüngere für das ältere dieser beiden Geschwister schwer. Die Ältere musste sich plagen mit dem Jüngeren, musste ihre Kräfte anspannen, um hinauf zu kommen auf dem Bergpfad, der Kleine schlief derweil auf ihrem Rücken. Und trotzdem korrigiert das Mädchen den mitfühlenden Fremden: Das Schwere auf ihrem Rücken ist ihr Bruder, keine Last.
III.
Nur wer so unverbildet ist, dass er diesen Unterschied nachvollziehen kann, wird auch mit dem heutigen Evangelium etwas anzufangen wissen. Da wird nicht weniger als viermal das mehr oder weniger Gleiche gesagt. In dieser sprachlichen Zumutung schlägt sich treffend nieder, dass das Gesagte selber eine Zumutung ist: Wenn einer hungert, und wir geben ihm zu essen, dann haben wir Ihm, Jesus, einen guten Dienst erwiesen; wenn einer fremd und obdachlos ist, und wir geben Ihm ein Dach über dem Kopf, dann haben wir Ihm einen Dienst erwiesen; wenn einer nichts anzuziehen hat, und wir geben ihm etwas, dann haben wir Ihm einen Dienst erwiesen; wenn einer krank ist, und wir kommen und nehmen Anteil an seinem Schicksal, dann haben wir Ihm einen Dienst erwiesen. Wenn jemand im Gefängnis ist, und einer geht und lässt seine Freundschaft, seine Solidarität spüren, dann erweist er Christus, dem Herrn, einen Dienst. Wer einen solchen oder einen ähnlichen Dienst einem anderen verweigert, verweigert ihn Jesus. Und wie wir zum Menschen Jesus stehen, daran wird sichtbar, wie wir zu Gott stehen.
IV.
Das Aufregende an diesem Evangelium heißt also: Alles, was wir füreinander tun oder gegeneinander unterlassen, berührt Gott selbst. So ganz steht er auf unserer Seite. Auf der Seite eines jeden von uns. Was aber von solchem Gewicht ist, dass es Gott selbst berührt, muss zugleich das sein, was letztendlich über unser Leben im Ganzen entscheidet. Auch das sagt Jesus. Darum ist am Anfang die Rede vom Menschensohn der kommen wird, um wie ein Hirt die Schafe von den Böcken zu scheiden, d. h. um in der Welt zu ordnen und offenbar zu machen, was gültig und was wertlos ist. Und wodurch wird eines Menschen Leben so gültig, dass es vor Gott bestand hat? Die Antwort ist einfach. Sie steht in unserem Evangelium. Und sie heißt: Barmherzigkeit, Barmherzigkeit, Barmherzigkeit, Barmherzigkeit. Vierfach die einfache Antwort, damit sich uns gleichsam in die Seele grabe, worauf allein es vor ihm ankommt für uns: Barmherzigkeit.
V.
Was es bedeutet, Barmherzigkeit geschenkt oder verweigert zu bekommen und sie auch selber zu schenken oder zu verweigern, das wissen die meisten von uns aus Erfahrung. Kaum eine oder einer unter uns wohl, der nicht schon einmal Bittender, ein andermal Gebender gewesen wäre, durchaus auch dort vielleicht, wo es sehr schlicht um Essen, Trinken und Anzuziehen ging. Ganz anders freilich treffen uns die anderen Werke der Barmherzigkeit von denen das Evangelium redet. Etwa die Aufnahme von Fremden, die gerade beginnt – zu spät beginnt – ein drängendes Thema der Öffentlichkeit zu werden. Und ich denke dabei keineswegs an die Ost- und Süderweiterung der Europäischen Union, bei der es an allen Ecken und Enden knirscht. Ich denke viel mehr an das, was sich da vom tiefen Süden, von Afrika her anbahnt. Gut 18 Millionen meist junger Leute sind in Richtung Norden, Richtung Europa mehr oder weniger unterwegs, weil im Vergleich zu den Lebensumständen ihrer Heimatländer selbst die tristen Industrievorstädte europäischer Metropolen ein Paradies sind. Was werden die reichen Länder, was werden wir, werden die Kirchen tun? Natürlich kann man nicht blauäugig sagen: Kommt nur, alles wird gut. Aber was stattdessen? Vor 15 Jahren bei einem Friedensgottesdienst habe ich in der Predigt gefragt, wer denn zuerst auf die Immigranten schießen werde, wenn sie anfangen, bei gutem Wind mit dem Surfbrett die Enge von Gibraltar zu überqueren. Darauf haben mir einige in der Presse Alarmismus vorgeworfen. Vor wenigen Wochen fielen die ersten Todesschüsse in Ceuta und Melilla, den spanischen Vorposten an der nordafrikanischen Küste. Das bodycounting, das Zählen der Todesopfer, hat damit begonnen. Ich sage das nicht, um Recht gehabt zu haben, sondern weil uns die Zeit zum Antworten eben eingeholt hat. Welche Antwort werden wir, die Angehörigen einer geradezu unverschämt privilegierten Minderheit, finden? Und wird dieser Antwort wenigstens eine Spur der christlichen Prägung Europas, eine Spur unseres Evangeliums eingeschrieben sein? Machen wir einen Sprung vom Großen ins Kleine, in das, was uns vorderhand vielleicht viel näher auf den Leib rückt: Ich war krank, und ihr habt mich besucht. In der Pfarrei, in der ich als Kaplan tätig war, habe ich eine alte Frau kennen gelernt; sie konnte – wie das oft so ist – ihre Wohnung nicht mehr verlassen, hatte bald kein Augenlicht mehr und klagte, wie einsam sie sei. Ob sie denn keinen Verwandten mehr habe, fragte ich sie. Ja gewiss: einen Sohn und eine Tochter und die Enkelkinder. – Kommen die denn nicht zu Besuch, frag ich weiter. – Doch. Einmal im Jahr. An Heiligabend. Um die Kuverts zu holen, sagte sie und hatte Tränen in den Augen. Dahinter muss nicht einmal Bosheit stehen bei den Jungen. Schon Gedankenlosigkeit reicht aus, und es tut dem/ der Einsamen trotzdem weh. Es ging mir nahe, was die mittlerweile selbst 81jährige Friedrike Mayröcker jüngst in ihrem Abschiedsbuch über ihren verstorbenen Lebensgefährten Ernst Jandl geschrieben hat: Immer wieder kommt sie in ihren Erinnerungen schmerzlich berührt auch auf ihre hochbetagte Mutter zu sprechen, wie sie sie immer wieder vertröstetet habe, dass sie nicht zu Besuch kommen könne, weil das sei und dies und sie grade wieder an einem fast fertigen Buch sitze und so fort. Und jetzt – nach dem Tod des geliebten Partners – lernt sie selber, was einsam sein heißt und tut der Mutter mit Wehmut Abbitte. Einen Alten, eine Kranke, deren Lebensumkreis ein paar Schritte klein geworden ist, nicht vergessen, ein wenig Zeit haben für sie, ist soviel wie Gott besuchen. Man muss es nicht notwenig zu spät verstehen. „Eilen wir uns, die Menschen zu lieben, sie gehen so schnell“, schrieb der polnische Dichterpriester Jan Twardowski einmal. Ja, und dann das Werk der Barmherzigkeit, das Sie persönlich gar nicht oder kaum kennen: Ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen. – Ich habe in meiner Zeit als Seelsorger in einer Justizvollzugsanstalt reichlich damit zu tun gehabt und möchte Ihnen davon erzählen, weil vielleicht erst und gerade in dieser skurrilen Extremsituation des Strafvollzugs überhaupt Kontur bekommt, wieso das Gefangenenbesuchen in diesen jesuanischen Rang kommen kann, den ihm unser Evangelium gibt. Wie unendlich wichtig war den Insassen, wenn Angehörige, wenn Freunde auch jetzt, da sie weggesperrt waren, – wenn die auch und gerade jetzt zu Besuch kamen und zu Ihnen hielten. Der letzte Anker manchmal. Da waren auch die harten Kaliber keine Ausnahme. Es war nicht selten, dass mich einer bat, ob ich denn Kontakt aufnehmen könne zu Frau oder Freundin, wann sie denn wieder kämen oder wenigstens schrieben. Wann immer es ging, habe ich das getan. Und wenn ich anrief bei der Frau oder Freundin, da war auch keine Seltenheit, dass sich eine Männerstimme meldete. Dann musste ich nicht mehr viel fragen. Und ich wusste, was mir jetzt für ein Gang bevorstand zu dem, der um den Anruf gebeten hatte. Da habe ich Hünen zusammenbrechen sehen und Großsprecher heulen wie Kinder. Und manchmal habe ich nach einer Weile einen trösten können mit unserem Evangelium: Deine Trauer, wenn sie dich übersehen und fallenlassen, ist Gottes Trauer. So steht er auf Deiner Seite.
VI.
Durch Jesus Christus macht Gott selbst sich zum Anwalt für die Barmherzigkeit der Menschen. Für die Barmherzigkeit, die einer braucht. Und für die, die einer schuldet, immer schuldet. Und keiner außer Gott könnte auch Anwalt dafür sein. Denn er ist der Barmherzige. Christus steht dafür ein. Seien wir also barmherzig miteinander. Dadurch fängt eine Welt an, in der Christus, der Barmherzige, der Maßgebende – symbolisch gesprochen: der König ist. Ich glaube, diese Welt suchen wir.