Abgeholt werden
Heilige Familie A: Mt 2,13-15.19-23
I.
In Ghana erzählt man sich folgende Geschichte: Ein
Mann namens Kofi Antoboro hatte sich angewöhnt, jeden Morgen in die
Kneipe zu gehen, um Palmwein zu trinken. Er kaufte sich aber nie den
Wein selber, son-dern wartete immer, bis ihm jemand ein Glas
spendierte. Ähnlich be-nahm er sich zu Hause. Fast nie half er mit,
ließ sich aber dafür von sei-ner Frau aushalten. Eines Tages ging der
Mann auf dem Heimweg den Fluss entlang, rutschte aus und fiel ins
Wasser. Mit Müh und Not konnte er sich über Wasser halten. Gellend
schrie er um Hilfe. Sofort kamen ei-nige Männer gerannt, reichten
einander die Hände, bildeten eine Kette, um Kofi zu retten. Und der,
der ihm am nächsten war, rief: Kofi, gib mir deine Hand! Aber der tat
es nicht. Statt dessen schrie er noch lauter. Da kam Kofis Frau hinzu.
Kennt ihr meinen Mann immer noch nicht, fragte sie? Seine Hand geben
wird er euch nie! Lasst mich nach vorne. Sie stelle sich an den Anfang
der Menschenkette und rief nicht „Kofi, gib mit deine Hand“, sondern:
„Kofi, nimm meine Hand!“ Und sofort griff der Mann zu.
II.
Hintergründig, aber wahr, die Geschichte. Manchmal
muss man Men-schen dort abholen, wo sie stehen, und bei dem, was sie
verstehen. Sonst würde man sie nie erreichen. Auch die Evangelisten
haben das oft und oft gemacht. Haben es machen müssen, um überhaupt zum
Aus-druck bringen zu können, was sie eigentlich mit dem meinen, was sie
über Jesus sagen. Besonders intensiv hat Matthäus von diesem Abholen
Gebrauch gemacht. Er tat das dadurch, dass er die Jesus-Geschichte, die
er erzählen wollte, auf vielfältige Weise ins Licht der Bibel seiner
Zeit stellte, also dessen, was wir heute „Altes Testament“ nennen.
Dieses Buch des Glaubens was damals denen, die Gläubige waren, durch
und durch vertraut. Darum reichte es, wenn Matthäus auch nur einen
einzi-gen Satz aus der Bibel in Verbindung mit einem Ereignis aus Jesu
Leben zitierte, und die Leute wussten, wie sie zu verstehen hatten, was
ihnen an diesem Haus im ersten Moment vielleicht fremd und seltsam
vorkam.
III.
Besonders auffällig geschieht dieses Abholen gleich
in den ersten Kapi-teln des Matthäusevangeliums, also dort, wo vom
Anfang des Lebens Jesu erzählt wird. Auch für das, was wir heute gehört
haben, gilt das. Den meisten von uns ist die Geschichte vertraut unter
dem Titel “Flucht nach Ägypten“. Sieht man aber etwas genauer zu, dann
merkt man: Mat-thäus geht es eigentlich gar nicht darum, dass Jesu
Eltern mit dem Kind aus ihrer Heimat fliehen mussten. Ihm ist statt
dessen wichtig, dass Jesu aus Ägypten nach Israel heimkehrt. Nachdem er
mit ein paar Sätzen nur von der Flucht und dem Aufenthalt der Heiligen
Familie im Ausland er-zählt hat, schreibt Matthäus einen solchen Satz
aus der alten Bibel, ge-radezu ein Wink mit dem sprichwörtlichen
Zaunpfahl, was es denn mit diesem Jesus auf sich hat: Denn es sollte
sich erfüllen, was der Herr durch den Propheten gesagt hat: Aus Ägypten
habe ich meinen Sohn gerufen. „Aus Ägypten“ und „gerufen werden“ - das
waren Stichworte, die die jüdischen Gläubigen zu allen Zeiten
regelrecht elektrisierten. Denn diese Worte erinnerten sie an jene
Ereignisse, durch die sie über-haupt erst wirklich zu erahnen begannen,
wer Gott ist und dass dieser Gott mit ihnen etwas Einmaliges vorhat:
Ich rede natürlich vom Auszug Israels aus Ägypten ins gelobte Land, in
die Freiheit hinüber. Wenn Mat-thäus die Erinnerung daran hier mitten
in der Geschichte vom Anfang des Lebens Jesu wachruft, will er damit
zum Ausdruck bringen: Von die-sem Jesus, seiner Geschichte und seinem
Geschick erzähle ich euch, weil Menschen erfahren haben, dass Gott
durch ihn, diesen Jesus, jenen alten Plan bekräftig und weiterführt -
weiterführt auf Weisen, an die Israel damals, als es aus dem Land
Ägypten auszog, noch gar nicht denken konnte.
Jesu Auftreten - das will Matthäus ausdrücken - hat von Anfang an, also von Wesen, mit Freiwerden und Heimkommen zu tun. Und zwar nicht versteckt und irgendwie nur schwer zu entdecken, sondern ganz einfach und so, dass es auf der Hand liegt. Und wie also? Wenn Jesus der Mensch ist, wie Gott ihn gemeint hat, der Freie, niemandem und nichts unterworfen, der, der daheim ist dort, wohin er gehört - dann beginnt die-ses Frei- und Daheim- und wirklich Menschsein eben nicht anders als dadurch, dass einer wie ein Kind wird. Wie ein Kind so vertrauensvoll, dass alles gut ist und gut werden wird, selbst dann und dort, wo alles dagegen spricht. Weil es doch Gott ist, der sein Kind beschützt und be-wahrt und ans Ziel bringt, auch dort noch, wo alles dagegen verschwo-ren scheint: Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen! So fängt alles an. Und dazu holt Matthäus seine Leser damals ab. Zum Abenteuer der gottgewollten Freiheit.
IV.
Das war freilich damals. Aber wir? Verblüffenderweise
holt Matthäus nicht nur seine Zeitgenossen damals ab, sondern genau
besehen alle, die sein Evangelium lesen oder hören, bis heute. Denn er
stellt Jesus nicht nur ins Licht des Auszugs aus Ägypten. Sondern er
lässt zugleich anklingen, wie jenes Kindwerden geht, von dem her einer
überhaupt erst anfängt, Schritte in die Freiheit zu wagen, also den
Spuren zu folgen, die mit dem Exodus unauslöschlich gezogen sind.
Das macht Matthäus an niemand anderem als an Josef deutlich. Von ihm wissen wir so gut wie nichts. Aber in unserem Evangelium von heute ist er dreimal die Hauptfigur. Dreimal ergreift er die Initiative: zur Flucht, zur Rückkehr und zur Wahl der Heimat. Aber alle drei Male handelt er aufgrund eines Befehls, der im Traum ergeht. Also aufgrund von etwas, das er aus seinem Innern kommend erfährt. Würde Matthäus heute le-ben, hätte er wahrscheinlich geschrieben: Josef folgte seinem Gewissen.
V.
Genauso kann man übersetzen, was Josefs Tun für Folgen hatte. Mit seinem Gehör für die Engelsstimme im Traum bewahrte und hütete er das Leben des Kindes. Genau das tut, wer seinem Gewissen folgt. Sie oder er gibt dem gottgeschenkten Anfang des Daseins - endlich - Raum, trägt Sorge, dass dieser Anfang wachse und behütet sei. Dem Ruf des Gewissens gehorchend werden wir die, die wir sein können und gelan-gen wir dorthin, wohin wir gehören. Das geschieht ohne viel Aufhebens - gerade so wie Josef nur ganz am Rande des Evangeliums auftaucht, und doch für Jesus, für den Neuanfang Gottes mit uns ungeheuer wich-tig ist. Vielleicht sollten wir Josef als den Patron des wachen Gewissens ehren.