Anarchischer Subtext

24. Sonntag A: Mt 18,21-35

I.

Wer zu verkündigen hat und den Dienst halbwegs ernst nimmt, wird – je länger, je mehr – einen buchstäblich heiligen Respekt vor den Gleichnissen der Bibel entwickeln. Sie gehören zum Widerspenstigsten, worüber es zu predigen gilt. Denn die einen sind so einfach und klar, dass es darüber eigentlich gar nichts zu sagen gibt. Und die anderen sind so verrätselt oder gar skandalös, dass es einer mühseligen Wegbahnung für ihr Verstehen bedarf.

II.

Für unser Gleichnis von heute trifft beides zugleich zu. Seine Botschaft ist so unmissverständlich, dass man sie nur nacherzählen kann: Da hat sich einer gigantisch verschuldet: 10000 Talente – der höchste Zahlwert, den man damals überhaupt in Worte zu fassen vermochte. So gigantisch wie die Durchstechereien, von denen wir seit Monaten in den Wirtschaftsteilen der Zeitungen lesen: dass die Chefs globaler Firmenkonglomerate falsche Gewinne in Milliardenhöhe in die Bilanzen schreiben und dann, wenn die Sache auffliegt, schnell noch dreistellige Millionensummen auf das private Konto schieben und sich aus dem Staub machen. Der im Gleichnis muss so etwas wie ein Spitzenbeamter gewesen sein, der einen Teil des Staatsvermögens in die eigene Tasche wirtschaftete, denn Privatschulden in der Höhe konnte er gar nicht machen. Ein Kapitaldelikt also. Selbst die Verpfändung von Kind und Kegel einschließlich der eigenen Haut, die zunächst sein Herr verlangt, wäre nur eine symbolische Wiedergutmachung gewesen, jede reale Rückerstattung eine Illusion. Wäre! Denn der Treulose bittet um Geduld – und der König gewährt ihm, schlichtweg unglaublich, kompletten Schuldenerlass aus Mitleid.

Was könnte ein solcher Akt der Begnadigung anderes bewirken als dass der Begnadete seinerseits ein ganz anderer wird – einer, dem sich die Güte des Gebers so tief in die Seele schreibt, dass er selber niemals im Leben anderen gegenüber anders kann als gütig zu sein im unauslöschlichen Bewusstsein dessen, was geschehen ist? Aber eben genau das nicht – so das Gleichnis. Er, der unglaublich Bevorteilte, handelt – selbst in der Rolle des Kreditgebers, einer lächerlichen Summe einem Mitknecht gegenüber – genau gegenteilig. Er lässt diesen anderen abblitzen mit seiner Bitte um Geduld, verfügt – streng nach Recht und Gesetz – seinen Wegschluss, bis die Schuld abgetragen sei.

Weil selbst aufs Übermenschliche beschenkt, wäre er selbst in menschlichem Maß seinem Mitknecht gegenüber ein Beanspruchter, ein von der Güte und dem Erbarmen Beanspruchter gewesen. Dazu war er nicht bereit, und eben dadurch bringt er sich am Ende auch um das selbst Empfangene, wie das Gleichnis aus der kritischen Beobachterperspektive der übrigen Knechte erzählt. Hättest Du nicht mit Deinesgleichen Erbarmen haben müssen, so wie ich mit Dir Erbarmen hatte?, lautet die Frage des Herrn, die in Wirklichkeit nur das Urteil artikuliert, das der unbarmherzige Knecht sich selbst gesprochen hat: dass Barmherzigkeit sozusagen an Nichtverwendung eingeht. Empfangene bleibt sie in dem Maß, da die Empfangenden sie ihrerseits tun.

III.

Das alles gehört zum Selbstverständlichen an diesem Gleichnis, weil es sich aus dem Duktus seiner Erzählung ergibt. Da ist aber auch noch etwas anderes, eine Tiefenschicht, die sich im Wortlaut des Gleichnisses allenfalls andeutet in der Unwahrscheinlich-keit des königlichen Schuldenerlasses von 10000 Talenten und der Unverhältnismäßigkeit des Knechtes, mit der dieser dem anderen gegenüber auf seine lächerlichen 100 Denare besteht. Dieses andere an unserem Gleichnis heißt mit einem Satz gesagt: Barmherzigkeit im Umgang mit Schuld ist immer etwas hoch Prekäres, etwas, das zu den austarierten Gleichgewichten menschlichen Zusammenlebens und seiner Regeln in Spannung steht, darum beirrend sein kann – und trotzdem in die Mitte des christlichen Gottesverhältnisses gehört.

Es ist ja kein Zufall, dass unser Gleichnis Jesu Antwort auf eine Frage des Petrus ist, also dessen, der bei Mattäus mehr als bei den anderen Evangelisten als der autoritative und repräsentative Sprecher der Gemeinde auftritt. Will sagen: Wenn gerade Petrus nach der Vergebungsbereitschaft dem schuldig gewordenen Bruder gegenüber fragt, geht es um ein zentrales Thema der Gemeinde und des christlichen Lebens insgesamt. Und auch kein Zufall, dass das Gleichnis wie eine Rekapitulation und Vertiefung der fünften Vaterunser-Bitte klingt, also einer Sentenz aus jener Basisration christlichen Selbstverständnisses, die als Gebet die Mitte der Bergpredigt bildet. Vergebung zwischen Menschen ist elementar – und sie ist schwierig, so schwierig, dass sie sozusagen in unmittelbarer Tuchfühlung mit dem Gottesgedanken gehalten werden muss, damit sie überhaupt gelingt.

Woher kommt dieses Schwierige? Es rührt daher, dass Vergebung von Wesen dort fällig ist, wo das Dunkle, ja einfach auch das Schäbige und Widerliche an einem Menschen hervortritt. Gewiß hat jede menschliche Gemeinschaft dafür ihre Rechte und Regeln. Aber genauso ist das Gespür lebendig, dass dies nicht reicht, um mit dem zurecht zu kommen, was aus dem Abgrund einer Seele aufsteigen kann. So gut wie in allen wichtigen Belangen sind menschliche Gesetze – die politischen nicht anders als die religiösen – Notverordnungen zur Beruhigung der Nervosität vor dem Vielfall des Lebens, aber sie lösen in aller Regel nichts, vor allem nicht das menschlich Irreversible. Vergebung ruft demgegenüber den Ausnahmezustand aus, um aus den Sackgassen herauszufinden, in die die menschlichen Antworten auf Schuld führen. Riskieren freilich wird und kann das nur, wer von einem anderen auch dort noch, wo ihn dessen Handeln abstößt, in der Perspektive Gottes denkt, ihn als Kind Gottes, des einen und gemeinsamen Vaters gelten lässt.

Franz Werfel hat das gewusst, als er schrieb:

Niemals wieder will ich
Eines Menschen Antlitz verlachen.
Niemals wieder will ich
Eines Menschen Wesen richten.
Wohl gibt es Kannibalen-Stirnen.
Wohl gibt es Kuppler-Augen.
Wohl gibt es Vielfraß-Lippen.
Aber plötzlich
Aus der dumpfen Rede
Des leichthin Gerichteten
Aus einem hilflosen Schulterzucken
Wehte mir zarter Lindenduft
Unserer fernen seligen Heimat
Und ich bereute gerissenes Urteil.
Noch im schlammigsten Antlitz
Harret das Gott-Licht seiner Entfaltung.
Die gierigen Herzen greifen nach Kot –
Aber in jedem
Geborenen Menschen
Ist mir die Heimkunft des Heilands verheißen.

IV.

Niemals wieder... – ob der Vorsatz des Dichters zu halten ist? Petrus im Evangelium war da realistischer. Herr, wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er sich gegen mich versündigt? Siebenmal? Wir vergessen leicht, wie weitherzig der Apostel da ist – und ob wir's zusammenbrächten? Dem heranwachsenden Kind, das zum dritten Mal die Unterschrift fälscht auf der Empfangsbestätigung der Mitteilung aus der Schule – wieder vergeben? Der Kollegin, die zum vierten Mal eine Information nicht weitergibt und mich in der Besprechung auflaufen lässt und dafür selbst besser dasteht – wieder vergeben? Dem Partner, der seinen Charme so gelungen versprüht, dass sich ihm eine sogenannte gute Bekannte erneut nicht entziehen kann und sich beide auch gar nicht sonderlich mühen darum – wieder vergeben? Und – ja, auch Solches -, der pädophile Kaplan, der eigener Einsicht unfähig durch unfähige Vorgesetzte von hier nach dort verschoben erneut sein entsetzliches Unheil anrichtet – ihm und den Verantwortlichen unbeschadet der rechtlichen und moralischen Folgen wieder vergeben?

Ihnen und den anderen und allen vergeben? Wieder vergeben? Siebenmal vergeben? Ou lego soi heos heptakis alla heos hebdomekontakis hepta, antwortet Jesus, nicht bis zu siebenmal, sage ich dir, sondern bis zu siebzigmal sieben. Natürlich nicht um die Zahl geht es dieser Antwort, sondern darum, dass Vergebung nicht quantifizierbar ist. Was natürlich auch bedeutet: Sie ist nicht berechenbar, niemals Element eines Kalküls. Aber sie ist inneres Moment christlicher Wirklichkeit.

V.

Ich denke, die Beispiele, die ich eben aufrief, verlegen jeder Tendenz, Vergebung irgendwie mit Verharmlosung zu verwechseln, ohnehin den Weg. Zugleich ringen sie uns das Eingeständnis ab, dass Moral nicht ausreicht, um mit den Dramen, geschweige denn Tragödien gelebten Lebens zu Rande zu kommen. Der russische Philosoph Vladimir Sergeevic Solov'ev sprach mit Blick auf unser Evangelium von heute von der kühnen Anarchie des religiösen Gefühls. Das war seine Formel für die Einsicht, dass in christlicher Perspektive der Umgang mit Schuld erst dann menschlich geschieht, wenn der Moral, die nottut, ein geistliches Gegenzeichen eingeschrieben wird, dessen Geltungsanspruch sozusagen ganz von jenseits menschlicher Verfügung kommt. In unserem Evangelium klingt darum vom größeren Zusammenhang der Stelle her ein christologischer Unterton mit, d.h. eine Erinnerung an das Kreuz als das, was Gott für sein Geschöpf aushält: Wenn jede und jeder so viel wert ist, dass Gott selbst das für ihn oder sie auf sich nimmt, dann kann es nichts in der Welt geben, das ihn oder sie um diese Würde brächte. Und daran findet jedes menschliche Urteil, so berechtigt und nötig es sein mag, seine Grenze. Als Solov'ev sich aus dieser Überzeugung 1881 für die Begnadigung der Mörder des Zaren Alexander II. einsetzte, verlor er seine Hochschuldozentur, um sich bis ans Lebensende – 19 Jahre lang – als Gelegenheitsarbeiter durchzufristen. So erlebte er in erster Person, wie am Fall der Vergebung konkret wird, dass Christsein in der Welt, aber nicht von der Welt zu sein bedeutet. Seelsorger im Strafvollzug können davon auch heute Bände erzählen. Aber die schweren Fälle, um die es da meist geht, sind gar nicht das Wichtige. Entscheidend wäre die Einsicht, dass wir schon im durchschnittlichen Werktag mit seinen 100-Denar-Bagatellen von mehr leben, als wir selbst in Händen halten.